Texte zur Oktoberrevolution

Über die Natur der sowjetischen Gesellschaft

von Charles Bettelheim

Die Beiträge, die wir gestern gehört haben, haben ein helles Licht auf die gesellschaftlichen und politischen Widersprüche geworfen, die in den sozialistischen oder sogenannten »sozialistischen« Ländern bestehen. Sie haben auch konkret gezeigt, wie die Verschärfung dieser Widersprüche zu verschiedenen Formen der Repression durch den Staatsapparat führt. Diese repressiven Akte sind keine »Zufälle« oder »Fehler« der Herrschaftsausübung, sie sind vielmehr an objektive Antagonismen und an die objektive Stellung der Staatsmacht im Gesamtzusammenhang der ökonomischen und sozialen Verhältnisse gebunden.

Damit stellt sich die Frage nach der Natur der in diesen Ländern dominierenden ökonomischen und sozialen Verhältnisse. Sie zu prüfen ist um so dringlicher, als es eine - sich als marxistische verstehende - Interpretation gibt, die behauptet, nach der Abschaffung des juristischen Privateigentums an den Produktionsmitteln könne es keine Ausbeutungsverhältnisse mehr geben, sondern nur noch Klassen (es wird vielmehr von »sozialen Gruppen« gesprochen), die geschwisterliche Beziehungen miteinander unterhalten. Eine typische Formulierung dieser Auffassung findet sich in der Rede Stalins vom 25. November 1936, in der er den neuen Verfassungsentwurf vorstellte. In dieser Rede beschreibt Stalin das Verschwinden des Privateigentums an den Produktionsmitteln in der UdSSR und setzt es mit dem Verschwinden des Kapitalismus gleich. Aus dieser Beschreibung folgert er dann, daß es in der UdSSR keine Ausbeuterklasse mehr gebe, sondern nur noch zwei befreundete Klassen, Arbeiter und Bauern, und eine soziale Gruppe: die »Intellektuellen«. Er fügt hinzu, die Intellektuellen stünden in einem dienenden Verhältnis zu den Arbeitern und Bauern, es gebe keine anderen Klassen, denen sie untergeordnet seien.

Die Wirklichkeit hat diese naiv-optimistische Vision widerlegt. Seitdem haben weitere Analysen eine dialektischere Auffassung begründet. Das gilt für die nach 1956 verfaßten Texte Mao Tse-tungs, die die Fortführung des Klassenkampfs unter der Diktatur des Proletariats behandeln, besonders für seine Untersuchung über die Widersprüche im Volk, und später vor allem für seine Aufsätze aus der Periode der Kulturrevolution. In diesen Aufsätzen ist die Rede vom Fortleben der Bourgeoisie im Schoß der Partei und von der Gefahr einer Umwandlung der Kommunistischen Partei in ihr genaues Gegenteil, eine faschistische Partei, wie es in der Sowjetunion geschah. Analysen von solcher Bedeutung widersprechen offen einer Reihe simpler Formulierungen, die in Europa in großer Zahl verbreitet wurden - unter Europa verstehe ich sowohl West- als auch Osteuropa.

Ich möchte ein paar Anmerkungen zu den theoretischen Konzepten machen, die den Anspruch erheben, diese simplen Formulierungen zu fundieren. Sie beruhen auf einem Postulat und einer Folgerung. Das Postulat besagt, die ökonomische Basis der Gesellschaftsformation der sogenannten »sozialistischen Länder« (ich werde hauptsächlich von der UdSSR sprechen) sei eine sozialistische ökonomische Basis. Die Folgerung besagt, daß auf dieser Basis kein Platz mehr sei für antagonistische Klassen, deshalb bestehe die Rolle des Staates vor allem in der Organisierung der gesellschaftlichen Produktion und in der Verteidigung des Landes gegen äußere und innere Feinde. Die inneren Feinde sind keine feindliche Klasse, sondern konterrevolutionäre »Elemente« oder »Individuen«, auf denen noch das Erbe der Vergangenheit lastet, oder »ausländische Agenten«. Mit diesem geschlossenen, gegen die Wirklichkeit abgedichteten »Erklärungsschema« fällt es zunehmend leichter, alle diejenigen zu »Söldnern im Dienst des Imperialismus« zu stempeln, die eine Abweichung von der Politik der Partei oder des Staats bekunden oder empfehlen. Die Negation (der Existenz) innerer Widersprüche - die faktisch jedoch bestehen - tendiert somit zur »Legitimierung« einer strengen Repression im Namen der »Verteidigung des Landes« oder der »Verteidigung der Revolution«.

Nachzudenken ist vor allem über das Postulat, die ökonomische Basis eines Landes wie der Sowjetunion sei sozialistisch bzw. sie sei bereits seit 1935 oder 1936 sozialistisch. Einerseits stellt dieses Postulat das rechtliche Verhältnis (das Staatseigentum), das zum Überbau gehört, einem Produktionsverhältnis gleich, das zur ökonomischen Basis gehört. Andererseits impliziert es eine Gleichsetzung von Staatseigentum (oder Kooperativen- oder Kolchoseeigentum) mit dem sogenannten »sozialistischen Eigentum«. Dieses Postulat faßt das Staatseigentum als eine Form der gesellschaftlichen Aneignung, von der unterstellt wird, sie habe das Proletariat zum Verschwinden gebracht.

Eben dies behauptete Stalin in seiner Rede von 1936 als er erklärte, die sowjetische Arbeiterklasse sei eine völlig neue Klasse und kein Proletariat mehr, weil sie die Produktionsmittel mit dem ganzen Volk gemeinsam besitze. Abstrakt ausgedrückt: Es wird also behauptet, daß das Staatseigentum den Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktivkräfte und dem Privateigentum einer Klasse »auflöse«. Wir haben es hier mit einem ideologischen System zu tun, das mit dem Dialektischen Materialismus überhaupt nichts zu tun hat. Dieses System geht von folgenden Voraussetzungen aus:

a) Staatseigentum = gesellschaftliches Eigentum = sozialistisches Eigentum;

b) das Eigentum sei die Grundlage der Produktionsverhältnisse.

Es unterstellt somit, daß, weil es »sozialistisches Staatseigentum gibt, Produktionsverhältnisse herrschten, die ebenfalls sozialistisch seien, und folgert daraus, das Verhältnis der Lohnabhängigkeit sei eine »leere« Form, die »völlig neue gesellschaftliche Verhältnisse« berge (das wird zum Beispiel im Handbuch der Politischen Ökonomie der Akademie der Wissenschaften deutlich, das 1954 in der UdSSR veröffentlicht wurde; es faßt die von Stalin zu den gleichen Problemen geäußerten Behauptungen aus dem Jahr 1952 zusammen). Solche Thesen sind nun allerdings nicht minder idealistisch als die bürgerliche Rechtsideologie. Materialistisch jedenfalls sind sie in keiner Faser. Das wird an der Schlüsselrolle erkennbar, die dem Staatseigentum, d. h. der rechtlichen Form des Eigentums, zukommt. Dahinter steht der Schatten des Proudhonismus oder des Lassalleanismus.

Bereits 1848 hatte Marx in einem Brief an Annenkow die Inkonsistenz eines Konzepts nachgewiesen, das dem rechtlichen Eigentum eine Schlüsselrolle zuweist: »Das Eigentum bildet schließlich die letzte Kategorie im System des Herrn Proudhon. In der realen Welt dagegen sind die Arbeitsteilung und alle übrigen Kategorien des Herrn Proudhon gesellschaftliche Beziehungen, deren Gesamtheit das bildet, was man heute das Eigentum nennt: außerhalb dieser Beziehungen ist das bürgerliche Eigentum nichts als eine metaphysische oder juristische Illusion. [...] Wenn Herr Proudhon das Eigentum als eine selbständige Beziehung darstellt, begeht er mehr als nur einen Fehler der Methode: er beweist klar, daß er nicht das Band erfaßt hat, das alle Formen der bürgerlichen Produktion verknüpft, [...] daß er den historischen und vorübergehenden Charakter der Produktionsformen in einer bestimmten Epoche nicht begriffen hat«. (K. Marx, Brief an P. W. Annenkow vom 28. Dezember 1846; MEW4, S. 551-552). Dieser Text sagt mit großer Klarheit, daß Eigentum im genauen Sinn des Worts keine rein juristische Kategorie ist, sondern das Produkt aus der Gesamtheit aller gesellschaftlichen Beziehungen, vor allem der Arbeitsteilung. Nun sind aber die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die UdSSR charakterisieren, im Grunde die gleichen wie bei der kapitalistischen Produktionsweise.

Der Begriff des »sozialistischen Eigentums, als juristischer Begriff, abstrahiert vom realen Aneignungsprozeß, an dem Produzenten und Nichtproduzenten beteiligt sind. Er abstrahiert von den gesellschaftlichen Beziehungen, die sich in diesem Prozeß und auf seiner Grundlage bilden. Diese Beziehungen können nur auf dem Weg einer konkreten Analyse erkannt werden; sie lassen sich nicht aus der Form des juristischen Eigentums »ableiten«.

Wie Marx im Kapital betont, bleibt die kapitalistische Produktionsweise erhalten, solange die Produktionsmittel weiterhin als fremdes Eigentum allen in der Produktion aktiven Individuen gegenüberstehen. Daß kapitalistische Produktionsverhältnisse auf der Basis des Staatseigentums aufrechterhalten werden, zeigt sich ganz deutlich in der Reproduktion der Lohnabhängigkeit. Diese Abhängigkeit bedeutet, daß die ökonomische Basis der sowjetischen Gesellschaftsformation immer noch von kapitalistischen Produktionsverhältnissen bestimmt wird. Wie Marx hervorhebt, »[unterstellt] der Arbeitslohn die Lohnarbeit, der Profit das Kapital. [...] Die kapitalistische Verteilung ist verschieden von den Verteilungsformen, die aus andren Produktionsweisen entspringen, und jede Verteilungsform verschwindet mit der bestimmten Form der Produktion, der sie entstammt und entspricht.« (MEW25, S. 889-90)

Bereits in den Grundrissen hatte Marx dargelegt, die Existenz der Wertform auf der Verteilungsebene (also die Existenz der Lohnform) beweise, daß die Produktion noch nicht unmittelbar gesellschaftlich ist: »Die Notwendigkeit selbst, das Produkt oder die Tätigkeit der Individuen erst in die Form des Tauschwerts, in Geld, zu verwandeln, dass sie in dieser sachlichen Form ihre gesellschaftliche Macht erhalten, und beweisen, beweist zweierlei: 1) daß die Individuen nur noch für die Gesellschaft und in der Gesellschaft produzieren; daß ihre Produktion nicht unmittelbar gesellschaftlich ist, nicht the offspring of association, die die Arbeit unter sich verteilt. Die Individuen sind unter die gesellschaftliche Produktion subsumiert, die als ein Verhängnis außer ihnen existiert; aber die gesellschaftliche Produktion ist nicht unter die Individuen subsumiert, die sie als ihr gemeinsames Vermögen handhaben.« (Grundrisse, S. 76) Sowohl die Form des Produktionsprozesses als auch die Form des Distributionsprozesses bezeugen, daß in den sowjetischen Betrieben kapitalistische Produktionsverhältnisse reproduziert werden.

Wenn die Sowjetunion sozialistische Strukturen herausgebildet hat, dann nicht wegen der Transformation ihrer ökonomischen Basis, sondern - unmittelbar nach der Oktoberrevolution -aufgrund der Besonderheit einer politischen Macht, die den Kampf für die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse aufnahm und die Arbeiter im Hinblick auf diese Veränderung vereinte. Als dieser Kampf aufgegeben wurde, vor allem als die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse als »abgeschlossen« verkündet wurde, obwohl sie es nicht war, verlor die sowjetische Gesellschaftsformation ihren sozialistischen Charakter. Die Preisgabe des Kampfs machte offenbar, daß sich im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen eine Wende vollzogen hatte, die die Wiederherstellung kapitalistischer Produktionsverhältnisse zuließ und sicherte.

Diese Einsicht wird durch eine Ideologie verstellt, die das Phantom einer »sozialistischen Produktionsweise« erfunden hat. Der Sozialismus ist keine Produktionsweise. Er ist der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus. Die Ideologie der »sozialistischen Produktionsweise«, die übrigens einen großen Teil der Arbeiterbewegung in der Welt korrumpiert, erfüllt eine offensichtlich apologetische Funktion. In der Sowjetunion fungiert sie als Rechtfertigung des bestehenden Zustands, als Theorie, die darauf abzielt, die Verstärkung des Staats und der Repression zu »begründen«. Sie negiert die Existenz eines Proletariats in der UdSSR. Damit negiert sie die Existenz des proletarischen Klassenkampfs und privilegiert die Belange jener, die über die Staatsmacht verfügen und die durch deren Vermittlung über die Produktionsmittel verfügen, d. h. sie privilegiert den Staatsbourgeoisie um die Erhaltung der Macht. Eine solche Ideologie erlaubt es, diejenigen als »Konterrevolutionäre« zu beschuldigen, die sich dieser Macht widersetzen, während es gerade diese Macht selber ist, die reaktionär ist.

Der Staatskapitalismus, wie er in der UdSSR vorliegt, ist ein tief widersprüchliches Phänomen. Einerseits sichert er die Reproduktion des Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat, andererseits erzeugt er eine permanente Krise - sie artikuliert sich in der übermäßigen Ausbeutung der Bevölkerung und in der Unzufriedenheit all jener, die den Widerspruch zwischen der Sprache der Macht und der Realität wahrnehmen. Deshalb ist diese Macht notwendigerweise repressiv. Allein der Kampf zur Überwindung dieses Staats und der kapitalistischen Arbeitsteilung ist mit der Entwicklung der Demokratie für die Massen vereinbar.

Quelle: Bettelheim, Charles: Über die Natur der sowjetischen Gesellschaft. In: Bettelheim, Meszaros, Rossanda u.a.: Macht und Opposition in den nachrevolutionären Gesellschaften. Suhrkamp Vertag, Frankfurt a.M. 1979, S. 101-106