Texte zur Oktoberrevolution


Lenins Revolutionsprogramm


von Oskar Anweiler

Lenins Thesen wurden nur in seinem eigenen Namen veröffentlicht und von der Redaktion der Pravda als „die persönliche Meinung des Genossen Lenin" bezeichnet(41). Die Mehrheit der Partei stand keineswegs auf Lenins Seite. Sogar das Büro des Zentralkomitees, das in den Wochen vorher einen „linken" Kurs verfochten hatte, teilte nicht den Radikalismus Lenins. Im Petersburger Ortskomitee wurden seine Thesen mit 13 gegen 2 Stimmen (bei einer Enthaltung) abgelehnt (42). Den heftigsten Widerspruch erhob Kamenev, der zusammen mit Stalin für die Taktik der Bolschewiki vor Lenins Rückkehr verantwortlich war. Er warf den Leninschen Thesen vor, daß sie zwar für die ersten Schritte des Sozialismus in England, Deutschland oder Frankreich, nicht aber für Rußland geeignet seien. In ihnen sei keine einzige praktische Antwort auf die Tagesfragen der russischen Politik enthalten. Kamenev stellte Lenins Thesen die Resolution einer Konferenz von Arbeitervertretern aus den Fabriken entgegen, in der die Einführung einer inneren „Fabrikver­fassung" durch ein Kontroll- und Mitbestimmungsrecht der Be­triebsräte begrüßt, weitere Schritte zum Sozialismus aber abge­lehnt wurden. „Diese Arbeiter haben ausgezeichnet begriffen", fügte Kamenev hinzu, „daß der Weg zum Sozialismus nicht über die Besitzergreifung einzelner Fabriken, nicht über einzelne vonein­ander unabhängige Kommunen führt, sondern über die Eroberung des zentralen Apparats des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens, durch den Übergang der Verwaltung der Banken, Eisenbahnen, der Versorgung in die Hände des Proletariats als Klasse im gesamt­staatlichen Rahmen" (43). Kamenev hat damit genau den Punkt erkannt, in dem Lenin von seinen früheren Ansichten abwich. Bis zum April 1917 haben sich die Bolschewiki — genau wie die Men­schewiki — getreu der Marxschen Revolutionsauffassung den Über­gang zum Sozialismus nie anders als in einer Reihe zentraler ge­samtstaatlicher Maßnahmen, durch „despotische Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse"(44) seitens der proletarischen Regierung, vorgestellt. Demgegenüber haben die anarchistischen und maximalistischen Gruppen schon 1905 die unmittelbare lokale „Sozialisierung" der Fabriken propagiert(45). Lenins Thesen von der Machtergreifung durch die Ar­beiter- und Bauernräte, die einen entschiedenen Schritt zum Sturz des Kapitals und zum Sozialismus darstellten, klangen in den Ohren Kamenevs und der meisten Bolschewiki wie ein Widerhall jener Losungen, und man beschuldigte Lenin, daß er den Thron Bakunins eingenommen habe 46).

Die Kritik Kamenevs zielte darüber hinaus auf die grundsätz­liche Frage nach dem Charakter der sich abspielenden russischen Revolution. „Was das allgemeine Schema des Genossen Lenin an­belangt", schrieb Kamenev in der Pravda vom 8. April 1917, „so halten wir es für unannehmbar, insoweit es davon ausgeht, daß die bürgerlich-demokratische Revolution abgeschlossen sei, und inso­weit es auf die sofortige Umwandlung dieser Revolution in eine sozialistische berechnet ist" 47). Die „alten Bolschewiki", denen Lenin vorwarf, sie klammerten sich an „alte Formeln", waren nach wie vor der Ansicht, daß die Revolution noch in ihrer ersten Phase stehe, auf die dann die von den Bolschewiki 1905 propagierte „re­volutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauern­schaft" folgen müsse. Demgegenüber betonte Lenin: „Die revolu­tionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauern­schaft ist in der russischen Revolution schon Wirklichkeit gewor­den . . . Der Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten — da habt ihr die vom Leben bereits verwirklichte revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. . . Diese Formel ist bereits überholt. . . Auf der Tagesordnung steht bereits eine andere, eine neue Aufgabe: die Trennung der proletarischen (kommunisti­schen) Elemente innerhalb dieser Diktatur von den Kleineigentümern oder kleinbürgerlichen Elementen" (als solche bezeichnete Lenin die Menschewiki und Sozialrevolutionäre) (48).

Hinter der heftigen Diskussion über die richtige „Formel" des bolschewistischen Revolutionsprogramms verbarg sich die grund­sätzliche Entscheidung über den künftigen Weg der Partei. Für Lenin flössen sozialistische Revolution, Machtergreifung durch die Räte und bolschewistische Diktatur zusammen. Der rücksichtslose Kampf gegen die anderen sozialistischen Parteien führte zwangs­läufig zur Alleinherrschaft der Bolschewiki. Gerade darin sahen aber Kamenev und seine Anhänger die Gefahr der Leninschen Taktik. Sie wollten eine „Partei der revolutionären proletarischen Massen" und nicht eine „Gruppe kommunistischer Propagandisten" sein (49), die sich im Falle der Machtergreifung nur mit Hilfe des Terrors würde behaupten können. Trotz aller Gegensätze zu den Menschewiki und Sozialrevolutionären zählten sie diese doch zu dem gemeinsamen sozialistischen Lager, während Lenin die gemäßigte Sowjetmehrheit mit der bürgerlichen Provisorischen Regierung auf eine Stufe stellte und die Revolution gegen die Sozialisten und nicht mit ihnen gemeinsam vorwärtstreiben wollte.

Es ist unschwer zu erkennen, daß Lenins neue Revolutionstheorie in wesentlichen Punkten mit den von Trockij seit 1905 vertretenen Anschauungen über die „permanente Revolution" übereinstimmte. Trockij hatte bereits damals die bolschewistische Losung der „re­volutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" als unrealistisch bezeichnet und erklärt, daß das russische Proletariat gezwungen sein würde, die Grenzen des demo­kratischen Programms in Richtung auf den Sozialismus zu über­schreiten (50). Lenin hatte sich 1905 und später oft gegen Trockijs popularisierte Formel „Fort mit dem Zaren, her mit der Arbeiter­regierung" gewandt. Auch jetzt, im April 1917, war er bemüht, seine neue Perspektive von Trockijs Theorie abzugrenzen, indem er auf die Räte als die bereits verwirklichte „Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" hinwies, von der es nunmehr zur Diktatur des Proletariats weiterzuschreiten gelte (51). Aber in der Sache hatte er sich Trockijs Standpunkt entschieden genähert. Dieser hatte sofort nach Erhalt der ersten Nachrichten über die Revolution in Petersburg am 6. März 1917 in einer New Yorker Zeitung geschrie­ben: „Das revolutionäre Proletariat muß schon jetzt, sofort, seine revolutionären Organe, die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, den Exekutivorganen der Provisorischen Re­gierung entgegenstellen. In diesem Kampfe muß sich das Prole­tariat, indem es die aufständischen Volksmassen um sich sammelt, die Machteroberung als sein direktes Ziel stellen" (52). Trockij hatte schon 1906, auf Grund der Erfahrungen der ersten russischen Revo­lution, den Räten eine große Zukunft vorausgesagt; die Bildung des Petersburger Arbeiter- und Soldatenrates bestätigte die Richtigkeit seiner damaligen Prognose (53). Mühelos schloß er sich daher nach seiner Ankunft in Rußland Anfang Mai 1917 dem Räteprogramm Lenins an und wurde einer der konsequentesten Vorkämpfer der Sowjetmacht innerhalb der bolschewistischen Partei (54).

Die Entscheidung über den künftigen Kurs der Partei und ihr Verhältnis zu den Sowjets fiel auf einer Reihe von Konferenzen im Laufe des Monats April 1917, auf denen es Lenin gelang, die Partei für seine neue revolutionäre Theorie und Taktik zu gewinnen. Er verdankte diesen Erfolg in erster Linie seiner überragen­den persönlichen Autorität, zum andern aber auch der Tatsache, daß die Bolschewiki seit 1903 einen unversöhnlichen Kampf gegen die „Bourgeoisie" und gegen die „Halbheiten" der Menschewiki ge­führt und somit innerlich schon lange die Richtung auf die alleinige Hegemonie in der Revolution eingeschlagen hatten(55). Die Dis­kussionen auf den Parteikonferenzen zeigten aber auch deutlich, daß Lenins neue Thesen über die Sowjets als revolutionäre Staats­organe und als Übergangsformen zur sozialistischen Revolution von den Parteimitgliedern nur schwer mit den praktischen Aufgaben der Partei in Verbindung gebracht werden konnten.

Auch über die Frage, was denn die Räte eigentlich seien, gingen die Meinungen auseinander. Auf der Petersburger Stadtkonferenz der Bolschewiki meinte Kalinin, es sei nicht wahr, daß die Arbeiter­deputiertenräte die einzige revolutionäre Regierungsform darstell­ten, wie Lenin behauptete (56). In Moskau, dessen Parteikomitee im allgemeinen weiter rechts stand als die Petersburger Bolschewiki, erklärte auf der Gebietskonferenz vom 19. bis 21. April Smidovic, daß die Sowjets ihrer ganzen Struktur nach bisher weder geeignet noch imstande seien, Regierungs- und Verwaltungsgeschäfte zu übernehmen. Man müsse diese Organe erst stärken, auf das Dorf ausdehnen und zusammenfassen, ehe sie die Macht übernehmen könnten (57). Nogin, ein anderer führender Moskauer Bolschewik, vertrat auf der Allrussischen Parteikonferenz vom 24. bis 29. April die Ansicht, daß die Sowjets im Laufe der weiteren Entwicklung ihre wichtigsten Funktionen an die Gewerkschaften, politischen Parteien und Selbstverwaltungsorgane abtreten würden. An der Spitze des Staates würde die Konstituierende Versammlung und dann ein Parlament stehen (58).

Viele Bolschewiki, die zwar die große revolutionäre Bedeutung der Räte anerkannten, von Lenins Ausschließlichkeit aber überrascht waren, wollten die Entwicklung noch offen halten und sich nicht unbedingt auf eine Sowjetrepublik festlegen. In der Tat findet sich in den Beschlüssen der Allrussischen Konferenz nirgends diese ein-itfeutige Formulierung von der künftigen Sowjetmacht als einer der parlamentarischen völlig entgegengesetzten Staatsform wie in den Leninschen Aprilthesen. In der Entschließung der Konferenz über die Räte der Arbeiter- und Soldatendeputierten heißt es, daß auf der zweiten Etappe der Revolution „die ganze Staatsgewalt in die Hände der Räte oder anderer Organe, die den Willen der Volksmehrheit unmittelbar zum Ausdruck bringen (Organe der örtlichen »Selbstverwaltung, Konstituante usw)" übergehen müsse (59). Ähnlich wie in der Frage der sozialistischen Revolution in Rußland, der weiterhin zahlreiche führende Bolschewiki skeptisch gegenüberstanden (60), folgte die Partei auch Lenins Programm der Sowjetrepublik nur zögernd und ohne sich dabei über die weitgehenden Konsequenzen dieser Losung klar zu sein. Denn, wie Suchanov richtig bemerkte, die meisten Bolschewiki stellten sich unter der Parole der Sowjetmacht nicht die „vollkommenste Staatsverfassung" vor, sondern einfach eine politische Tagesforderung, d.h. die Bildung einer Regierung aus den Sowjets verantwortlichen Elementen (61).

Indessen baute Lenin in den Wochen und Monaten nach seiner »Ankunft in Rußland die in der Schweiz konzipierten und in den Aprilthesen zum erstenmal niedergelegten Gedanken über das Wesen und die Aufgaben der Sowjets zu einem geschlossenen System aus. In zahlreichen Artikeln und Reden verkündete er, daß „einen höheren, besseren Regierungstypus als die Räte ... die Menschheit bis jetzt nicht hervorgebracht" habe (62). In direkter Anknüpfung an die Marxsche Analyse der Pariser Kommune von 1871 nannte er als Grundmerkmale der Sowjetmacht:

„1. Ursprung der Macht ist nicht das vom Parlament beratene und beschlossene Gesetz, sondern die direkte, von unten kommende Initiative der Volksmassen im Lande, die direkte Usurpation' . . .;

2. Ersetzung von Polizei und Armee, als vom Volke getrennter und dem Volke gegenübergestellter Institutionen, durch die direkte Bewaffnung des gesamten Volkes; die Staatsordnung wird bei einer solchen Macht geschützt von den bewaffneten Arbeitern und Bauern selbst. . .;

3. Entweder Ersetzung der Beamten, der Bürokratie, wiederum durch die unmittelbare Herrschaft des Volkes selbst, oder zu­mindest ihre Stellung unter eine besondere Kontrolle, ihre Ver­wandlung in nicht nur wählbare, sondern auf die erste Forderung des Volkes hin absetzbare einfache Beauftragte; ihre Verwand­lung aus einer privilegierten Schicht... in Arbeiter . . ., deren Entlohnung nicht höher ist als der übliche Lohn eines quali­fizierten Arbeiters" (63).

Das ist das Programm einer radikalen Demokratisierung des Staates mit dem Ziel einer wirklichen „Selbstherrschaft des Volkes", und Lenin wurde nicht müde, diesen demokratischen Charak­ter des Rätestaates hervorzuheben. „Notwendig ist nicht nur eine Vertretung nach dem Typus der Demokratie, sondern auch der Aufbau der gesamten Staatsverwaltung von unten auf durch die Massen selber, ihre tätige Anteilnahme an jedem Schritt des Lebens, ihre aktive Rolle in der Verwaltung. Die alten Unterdrückungs­organe, die Polizei, das Beamtentum, das stehende Heer, ersetzen durch die allgemeine Volksbewaffnung, durch eine wirklich all­gemeine Miliz — das ist der einzige Weg . . . Die Arbeiterdeputier-tenräte sind ihrer Bedeutung, dem von ihnen geschaffenen Typus der Staatsgewalt nach, eben Einrichtungen dieser Demokratie" (64).

Gleichzeitig mit dem überschwenglichen Lob des Rätesystems kritisierte Lenin heftig den Parlamentarismus, dessen leuchtendes Gegenbild die Sowjets seien. Auch hier knüpfte Lenin beinahe wörtlich an Marxens Geißelung der Auswüchse des Parlamentarismus in der Kommune-Schrift an. Die Sowjets seien, genau wie die Kom­mune, zugleich gesetzgebende und vollziehende Körperschaften; eine besondere Vorzugsstellung für Abgeordnete bestehe hier nicht, die Deputierten seien unmittelbar ihren Wählern verantwortlich (65). Lenins Geringschätzung der parlamentarischen Demokratie stamm­te nicht erst aus der Lektüre von Marx' Bürgerkrieg oder aus den Erfahrungen mit den russischen Räten. Schon vor 1905 waren Kon­stituierende Versammlung und parlamentarisches Regime in Ruß­land für ihn — wie auch für die meisten anderen Sozialisten, z.B. Plechanov (66) — eine Frage der Zweckmäßigkeit. Wenn Lenin auch vermied, offen gegen die bevorstehende Konstituante zu polemi­sieren und die Bolschewiki im Gegenteil in ihrer Agitation und Propaganda einen raschen Zusammentritt verlangten, so verfolgte seine Kritik des Parlamentarismus in seiner Rätetheorie doch den aktuellen Zweck, den Gedanken der Konstituante zu entwerten zu Gunsten des „höherstehenden" Rätesystems. (67). I Sind die Sowjets somit auf der einen Seite demokratische Ver­tretungskörperschaften der Arbeiter, Bauern und Soldaten, so sind sie nach Lenin gleichzeitig — da sie alle besitzenden Elemente aus­scheiden — Organe der „Diktatur des Proletariats", oder richtiger, sie können zu Organen der proletarischen Diktatur werden. Denn im Augenblick — im Frühjahr und Sommer 1917 — waren die Sowjets noch von den „kleinbürgerlichen Elementen" beherrscht, die ihre Entwicklung zur proletarischen Diktatur hemmten. Unter der Führung der Bolschewiki würden sich jedoch die Sowjets im Zuge der sozialistischen Revolution in Organe der Diktatur des Proletariats verwandeln. Lenin hat am Vorabend der bolsche­wistischen Machtergreifung in Staat und Revolution Wesen und Funktionen des Staates der proletarischen Diktatur erläutert und die Marx/Engelssche Lehre in seinem Sinne zu deuten versucht (68). Er betonte dabei stets den gewaltsamen Charakter dieser Diktatur (69), bezeichnete sie aber andererseits als bloßes Übergangsstadium zur gewaltlosen kommunistischen Gesellschaft. Die Diktatur des Prole­tariats richtet sich zwar gegen die Minderheit des Ausbeuter, die sie gewaltsam niederhält, aber im Namen der Mehrheit der Ausge­beuteten. „Demokratie für die riesige Mehrheit des Volkes und gewaltsame Niederhaltung der Ausbeuter, der Unterdrücker des Volkes, d.h. ihre Ausscheidung von der Demokratie — das ist die Modifizierung der Demokratie beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus" (70). Ein solcher Staat der Übergangsperiode ist nach den Worten Lenins „kein Staat mehr im eigentlichen Sinne des Wortes" (71). „Ein besonderer Apparat, eine besondere Unter­drückungsmaschine, ein .Staat', ist noch notwendig, aber es ist bereits ein Ubergangsstaat . . .; das Volk . . . vermag die Ausbeuter mit einer sehr einfachen 'Maschine', ohne einen besonderen Apparat niederzuhalten, durch die einfache Organisation der bewaffneten Massen (etwa der Arbeiter- und Soldatenräte)" (72). Das „Absterben des Staates", d.h. die Beseitigung aller Klassen und jeder Form des Zwanges, geschieht in der zweiten Phase der revolutionären Um­gestaltung der Gesellschaft, die den Kommunismus verwirklicht. Lenin bekennt sich ausdrücklich zum „Endziel der Vernichtung des Staates, d.h. jeder organisierten und systematischen Gewalt, jeder Vergewaltigung von Menschen überhaupt" (73), sagt aber an anderer Stelle von Staat und Revolution deutlich: „Es ist klar, daß von einer Bestimmung des Zeitpunktes des künftigen ,Absterbens' keine Rede sein kann, umsomehr als es sich selbstverständlich um einen langen Prozeß handelt" (74).

Die Bedingungen für das Absterben des Staates werden aber schon in der Phase der Diktatur des Proletariats geschaffen. In dem Abschnitt von Staat und Revolution, in dem Lenin die Zustände unter dem Sozialismus schildert, scheint er fast besessen von der Vision einer Gesellschaft, die „ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn ist". „Wenn tatsächlich alle an der Lei­tung des Staates teilnehmen, kann sich der Kapitalismus nicht mehr halten . . . Registrierung und Kontrolle — das ist das Wichtigste, was zum .Ingangsetzen', zum richtigen Funktionieren der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft erforderlich ist. Alle Bürger verwandeln sich hier in entlohnte Angestellte des Staates, den die bewaffneten Arbeiter bilden. Alle Bürger werden Angestellte und Arbeiter eines das gesamte Volk umfassenden Staats-Syndi­kats . . . Von dem Augenblick an, wo alle Mitglieder der Gesell­schaft oder wenigstens ihre übergroße Mehrzahl selbst gelernt ha­ben, den Staat zu regieren, selbst diese Angelegenheiten in ihre Hände genommen haben, . . . von diesem Augenblick an beginnt die Notwendigkeit irgendeines Regierens überhaupt zu schwinden dann wird das Tor zum Übergang von der ersten Phase der kommu­nistischen Gesellschaft zu der höheren Phase und damit auch zum völligen Absterben des Staates sperrangelweit geöffnet stehen" (75).

Das Bild des sozialistischen Sowjetstaates, das Lenin in Staat und Revolution entwarf, war von der Wirklichkeit der russischen Verhältnisse im Jahre 1917 und der vorhandenen Sowjets himmel­weit entfernt. Nirgends kommt der utopische Charakter der Leninschen Lehre von der künftigen sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft deutlicher zum Ausdruck als in dieser Vision eines «Staates, in dem „alle eine Zeitlang 'Bürokraten' werden, so daß 1 gerade dadurch niemand zum 'Bürokraten' werden kann" (76). Die Sowjets werden in Lenins Staatstheorie zum Ideal eines die Bürokratie beseitigenden Staates, der aber gleichzeitig zahllose bürokratische Funktionen ausüben soll (alles, was unter Lenins Bezeichnung „Rechnungsführung und Kontrolle" fiel). Das Wirtschaftsprogramm des Bolschewismus am Vorabend der Machtergreifung sah die Nationalisierung der Banken und Industriesyndikate sowie die Zwangseinung der Bevölkerung in Produzenten- und Konsumentenverbände vor (77). Zwischen dieser staatlichen Monopol- und Zwangswirtschaft und dem auf Selbstverwaltung beruhenden Räteprinzip bestand ein unaufhebbarer Widerspruch. Dieser Widerspruch war nur die Folge von Lenins Gesamteinstellung zu den Räten: Wie Martin Buber (78) überzeugend formulierte, nahm Lenin „die Räte in ein Aktionsprogramm, nicht in eine Strukturidee auf" (79). Bei aller Idealisierung der Räte und ihrer Herausstellung als neuen, höheren und demokratischeren Staatstypus war Lenins leitender Gesichtspunkt ein revolutionsstrategischer, nicht ein gesellschaftlich-struktureller. „Daß nicht bloß die Räte um der Re­volution willen, sondern auch — und in einem tieferen, elementa­reren Sinne — die Revolution um der Räte willen dasein könnte, ist ihm nicht in den Sinn gekommen" (80).

Wie in Marxens Einstellung zur Pariser Kommune dominierte in Lenins Haltung zu den Räten das revolutionspolitische Motiv; sein Entwurf des sozialistischen Rätestaates in Staat und Revolution war die theoretische Rechtfertigung der bevorstehenden Macht­ergreifung. Denn Lenins Staatsphilosophie hatte den realen Hinter­grund des Kampfes um die Macht. Die Sowjetlosung, deren theore­tischer Fundierung Lenin eine ganze Schrift widmete, war primär taktischer Natur; die Räte, in der Theorie Organe der Massen­demokratie, waren in der Praxis Mittel zum Zweck der Machteroberung durch die bolschewistische Partei. Lenin hat 1917 seine Utopie der sozialistischen Gesellschaft und des Staates der Übergangsperiode entworfen, ohne den Faktor zu nennen, der in seinem  Denken und Handeln die entscheidende Rolle spielte: die Partei. Um den wirklichen Platz der Räte im Bolschewismus zu verstehen, darf man sich daher nicht mit der idealisierten Darstellung der Sowjets in Lenins Staatstheorie begnügen. Erst der Blick auf die tatsächlichen Beziehungen zwischen Bolschewiki und Sowjets im Laufe der Revolution ermöglicht das richtige Verständnis für das Verhältnis von Bolschewismus und Räten.

Anmerkungen

41) Lenin, Sämtliche Werke XX, I, S. 114-118. ") Pravda Nr. 27 v. 8.4.1917.

42) Pervyj legal'nyj peterburgskij komitet, S. 83-90.

43) Pravda Nr. 30 v. 12.4.1917.

44) Marx im Kommunistischen Manifest, Ausgabe Laski, S. 94.

45) Siehe oben S. 115t.

46) Vgl. Suchanov III, S. 40.

47) Pravda Nr. 27 v. 8.4.1917. Auch bei Lenin Sämtliche Werke XX, 2, S. 26of.

48) Lenin, Sämtliche Werke XX, I, S. 132.

49) Pravda Nr. 27 v. 8.4.1917.

50) Siehe oben S. 1o6f.

51) Lenin Sämtliche Werke XX, 1, S. 136.

52) Trotzki I, S. 447.

53) Siehe oben S. 110.

54) Die Reden und Aufsätze Trockijs aus dieser Zeit sind enthalten in seinen Socinenija Bd. III, T. I u. 2. Vgl. ferner Deutscher, The Prophet Armed, S. 249-269.

55) Vgl. Trotzki I, S. 311.

56) Sed'maja („aprel'skaja") vserossijskaja i petrogradskaja konferencii RSDRP ('b) Aprel 1917. Moskau 1934. S. 14.

57) Protokoly pervoj Moskovskoj oblastnoj konferencii RSDRP (b) 19.-21. aprelja 1917 g Proletarskaja Revoljucija 1929, 10 (93), S. 127-206, hier S. 137f

58) Sed'maja („aprel'skaja") vserossijskaja i petrogradskaja obscegorodskaja konferencii S. 88f.

59) ibid. S. 237L Auch Lenin, Sämtliche Werke XX, 2, S. 298L

60) Rykov sagte z.B.: „Können wir auf die Unterstützung der Massen rechnen, wenn wir die Parole der proletarischen Revolution ausgeben? Rußland ist das kleinbürgerlichste Land Europas. Es ist unmöglich, auf die Sympathien der Massen für die sozialistische Revolution zu rechnen, und deshalb wird sich die Partei in einen Propagandazirkel verwandeln, wenn sie auf dem Standpunkt der sozialistischen Revolution steht. Der Anstoß zur sozialen Revolution muß aus dem Westen kommen". Ibid. S. 93.

61) Suchanov III, S. 58-60.

62) Lenin, Sämtliche Werke XX, 1, S. 127.

63) ibid. S. 126. [siehe dazu: Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution]

64) ibid. S. 269f

65) Lenin, Sämtliche Werke XXI, S. 507.

66) Auf dem II. Parteitag der RSDAP 1903 wurde diese Frage kurz erörtert. Plechanov hatte erklärt, daß es unter Umständen notwendig sein könne, der Bourgeoisie das Wahl­recht zu entziehen und ein „schlechtes" Parlament aufzulösen. Lenin hatte dem voll zugestimmt. Siehe seine Schrift "Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück". Ausgewählte Werke I, S. 338f

67) Siehe unten S. 263ff.

68) Vgl. W. Mautner, Der Bolschewismus, Stuttgart 1922. S. 127-214; R. Nürnberger, Lenins Revolutionstheorie. Eine Studie über „Staat und Revolution". In: Marxismus­studien, (Schriften der Studiengemeinschaft der Evangelischen Akademien, Bd. 3). Tübingen 1954. S. 161-172.

69 „Sie stützt sich nicht auf das Gesetz, nicht auf den formalen Willen der Mehrheit, sondern direkt, unmittelbar auf die Gewalt. Die Gewalt ist ein Werkzeug der Macht". Sämtliche Werke XX, 1, S. 332.

70) Lenin, Sämtliche Werke XXI, S. 544.

71) ibid. XX, 1, S. 179.

72) ibid. XXI, S. 545

73) ibid. S. 537.

74) ibid. S. 540. Dieser Satz und ähnliche Äußerungen Lenins dienten später Stalin und den sowjetischen Staatstheoretikern zur Rechtfertigung dessen, daß in der Sowjet­union der Staat auch Jahrzehnte nach der Revolution nicht „abstarb".

75) ibid. S. 556fr.

76) ibid. S. 566.

77) Vgl vor allem Lenins Aufsatz Die drohende Katastrophe und wie soll man sie bekämpfen, ibid. S. 193-242.

78) M. Buber, Pfade in Utopia. Heidelberg 1950.

79) ibid. S. 183.

80)  ibid. S. 190.

Editorische Hinweise

Oskar Anweiler, Die Rätebewegung in Russland 1905-1291, Reinbeck 1958, S. 193-202