Texte zur Oktoberrevolution

Die Etappen der russischen Revolution zwischen April und Oktober 1917

von Charles Bettelheim

Um die neue Etappe zu kennzeichnen, in die die russische Revolution nach dem Oktoberaufstand eingetreten ist, und um ihre besonderen Merkmale zu begreifen, muß von der im April 1917 bestehenden Situation ausgegangen werden. Diese Situation ist durch die "Verflechtung" der Herrschaft der Bourgeoisie und der revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft gekennzeichnet, durch die "Doppel­herrschaft". Diese "Doppelherrschaft" macht die Besonderheit der Situation in Rußland aus (29).

Die "Doppelherrschaft" bedeutet, daß im April 1917 "die demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" zugleich verwirklicht (weil "faktisch in Petrograd die Macht in den Händen der Arbeiter und Soldaten liegt") und nicht verwirklicht ist; denn vermittelt über die Sozialrevolutio­näre unterstützen die Volksmassen in der Mehrheit die Klassenzusammen­arbeit, so daß "die Bourgeoisie an der Macht" bleibt (30).

Diese Situation der "Doppelherrschaft" ist äußerst labil. Sie impliziert, daß sich Rußland, wie Lenin sagt, "in einer Periode des Übergangs von der ersten Etappe der Revolution zur zweiten" (31) befindet.

Diese Besonderheit ist selbst ein Produkt der "Verflechtung" von zwei revolutionären Prozessen: dem Prozeß der proletarischen Revolution und dem Prozeß der bürgerlich-demokratischen Revolution. Diese Verflechtung wird übrigens nach der Oktoberrevolution nicht verschwinden, sondern ganz neue Züge annehmen. Schon im April 1917 sagt Lenin voraus, daß "eine neue Etappe der bürgerlich-demokratischen Revolution beginnt" und daß dies geschehen wird, "wenn sich die Bauernschaft von der Bourgeoisie loslösen, wenn sie wider die Bourgeoisie vom Grund und Boden und von der Macht Besitz ergreifen wird" (32).

Tatsächlich verliefen die Dinge anders, als Lenin damals vorhersagte. Um eine der von ihm in derselben Schrift benutzte Formulierung wieder aufzu­nehmen: das Leben hat, indem es diese Voraussage verwirklichte, "sie konkretisiert und sie eben dadurch modifiziert" (33).
In der Tat sieht man, daß die russische Revolution zwei voneinander unterschiedene und sich ergänzende Etappen durchläuft.

a) Der revolutionäre Kampf der Bauern um den Boden und die neue demokratische Etappe der Revolution im Sommer 1917

Die erste dieser beiden Etappen ähnelt der, die Lenin vorausgesehen hatte, wobei sie zugleich bestimmte unterschiedliche Merkmale aufweist: vom Sommer 1917 an löst sich die Bauernschaft praktisch von der Bourgeoisie, indem sie mit der Landnahme beginnt: sie bricht jedoch ideologisch und politisch nicht entscheidend mit der Bourgeoisie. In der Tat entzieht die Bauernschaft den Sozialrevolutionären nicht massiv das Vertrauen und sie stellt nicht die Machtfrage. Sie kann die Machtfrage erst stellen und lösen, als sie die Führung der Arbeiterklasse und der bolschewi­stischen Partei anerkennt, was sie jetzt noch nicht tut. Lenin stellt dies noch am Abend des 25. Oktober vor dem Petrograder Sowjet der Arbeiter­und Soldatendeputierten fest, als er das Problem, das Vertrauen der Bauern zu gewinnen, aufwirft; er erklärt:

"Wir werden das Vertrauen der Bauern durch ein einziges Dekret erwer­ben, das das Eigentum der Gutsbesitzer aufhebt. Die Bauern werden verstehen, daß die Rettung für die Bauernschaft nur im Bündnis mit den Arbeitern liegt." (34)

Der von den Bauern seit dem Sommer und im Herbst geführte revolutio­näre Kampf bildet also eine neue Etappe der bürgerlich-demokratischen Revolution; denn seine Ziele sind die Aufteilung der Ländereien und die Entwicklung der privaten Nutzung des Bodens, was völlig innerhalb der Grenzen der bürgerlichen Ordnung verbleibt.

Der Rahmen, innerhalb dessen die Aufteilung der Ländereien stattfindet, ist im allgemeinen der Mir. Dieser soll grundsätzlich eine regelmäßige, sich wiederholende Umverteilung des Bodens unter seine Mitglieder sichern. Eine solche Umverteilung kann die Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft verzögern, sie kann sie aber nicht verhindern; denn die

Bedingungen, unter denen sie stattfindet, sind von der Entwicklung des Kapitalismus außerhalb der Landwirtschaft beeinflußt und von den gesell­schaftlichen Ungleichheiten, die diese Entwicklung innerhalb des Mir selbst hervorruft.

Wenn die von der provisorischen Regierung repräsentierte Macht der Bourgeoisie im Sommer und Anfang Herbst 1917 die Bauernschaft unter­drückt, dann nicht deshalb, weil deren Vorgehen die Grundlagen der kapitalistischen Entwicklung zerstört, sondern weil die unmittelbaren Interessen der russischen Bourgeoisie eng mit denen des Grundeigentums verbunden sind. Um diese unmittelbaren Interessen zu schützen, greift die provisorische Regierung zur Unterdrückung und bedroht damit den gesamten revolutionären Prozeß in einem solchen Ausmaß, daß das Eingreifen des Proletariats erforderlich ist, damit die Revolution weitergehen und sich vertiefen kann.

Infolge dieses Eingreifens, nämlich des Oktoberaufstands, erreicht die russische Revolution eine neue Etappe. Jedoch bedeutet der Übergang der russischen Revolution in eine neue Etappe - in eine proletarische Etappe - keineswegs, daß schon alle demokratischen Aufgaben der Revolution verwirklicht worden wären. Im Gegenteil, die Beziehungen zwischen den Klassen sind jetzt dergestalt, daß die demokratischen Aufgaben der Revolution nur in Verbindung mit dem Aufschwung und dem Sieg der proletarischen Revolution vollständig durchgeführt werden können. Das trifft zu auf die Verwirklichung der demokratischen Ziele der Bauernschaft. Das gilt auch für die Verwirklichung der nationalen Ziele der nicht-mssischen Völker des alten zaristischen Reichs. 1917 beginnen diese Völker den Kampf um ihre nationale Unabhängigkeit. Indem sie ihre eigene Regierung bilden, befreien sie sich von der Fremdherrschaft und helfen dem russischen Proletariat, die bürgerliche Herrschaft zu brechen. Lenin hat die dialektische Einheit dieser revolutionären Bewegungen sehr früh erkannt, und es gelang ihm, die bolschewistische Partei davon zu überzeugen; im Namen des proletarischen Internationalismus spricht sie sich für das Recht dieser Völker auf "Trennung" und Bildung ihres eigenen Staats aus. Die revolutionäre Tragweite der Bewegung jener

Völker, die früher der russischen Herrschaft unterworfen waren, erkannt zu haben und die Notwendigkeit für die bolschewistische Partei, diese Bewegung zu unterstützen, ist Lenins historisches Verdienst (35). Bekanntlich wurde diese Notwendigkeit we­der von gewissen Bolschewiki, noch von der revolutionären Fraktion der deutschen Sozialdemokratie verstanden; Rosa Luxemburg zum Beispiel hat im wesentlichen nur die bürgerliche Seite der nationalen Bewegungen gesehen und nicht begriffen, daß die demokratische Seite dieser Bewegun­gen die Unterstützung durch das Proletariat erfordert, ebenso wie die revolutionäre Bewegung der um den Boden kämpfenden Bauern durch die Arbeiterklasse unterstützt werden muß.

b) Der revolutionäre Kampf der Arbeiter um den Sturz der provisorischen Regierung und die neue proletarische Etappe, die mit der Revolution im Oktober 1917 beginnt

Der Aufschwung der revolutionären Bauernbewegung (deren besondere Merkmale hier noch einmal in Erinnerung gerufen wurden) und der Aufschwung der revolutionären Bewegung der nicht-russischen Völker haben in Verbindung mit einem machtvollen Anwachsen der proletarischen Kräfte die Möglichkeit und Notwendigkeit des Oktoberaufstands (für die Weiter­fuhrung der Revolution) bestimmt. Der Sieg des Oktoberaufstands hat die Besonderheiten der russischen Revolution, die Bedingungen des Kampfs der Bauern um den Boden und den Klassencharakter der Macht radikal verändert.

Von Oktober an ist die proletarische Seite die Hauptseite der russischen Revolution. Der revolutionäre Kampf der Bauern verläuft jetzt als demokra­tische Revolution. Sie findet unter der politischen Hegemonie des Proletariats statt; aber sie wird nicht wirklich vom Proletariat und seiner Partei geführt; daher die besonderen Züge, die den weiteren Verlauf der russischen Revolution kennzeichnen; daher auch bestimmte Merkmale der Diktatur des Proletariats, die durch die Oktoberrevolution errichtet wurde.

Anmerkungen

28) Am 10. Oktober stimmt das Zentralkomitee nach mehreren Wochen des Zögerns dem bewaffneten Aufstand zu. Zuvor hatte es die Weisungen Lenins unbeant­wortet gelassen und sogar verschiedene seiner Artikel "unterdrückt". Dies veranlaßte Lenin, seinen Rücktritt aus dem Zentralkomitee zu beantragen, um sich "die Freiheit der Agitation in den unteren Parteiorganisationen und auf dem Parteitag vorzubehalten" (a.a.O., S. 67).

29) Lenin, Briefe über die Taktik, a.a.O., S. 28

30) ebd., S. 28

31) ebd.. S. 25 dies geschehen wird, "wenn sich die Bauernschaft von der Bourgeoisie loslösen, wenn sie wider die Bourgeoisie vom Grund und Boden und von der Macht Besitz ergreifen wird" (32).

32) ebd., S. 30

33) ebd., S. 27

34) Lenin, Sitzung des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten am 25. Oktober 1917, Rede über die Aufgaben der Sowjetmacht, in: LW 26, S. 229

35) Tatsächlich hat die bolschewistische Partei aufgrund dieser internationalistischen Position zahlreiche nicht-russische aktive Kämpfer gewonnen. Diese bildeten einen beträchtlichen Teil der Parteiführer - was dazu beitrug, einem großen Teil der nationalen Bewegungen des alten Rußland, soweit sie eine bolschewistische Führung akzeptierten, einen proletarischen Charakter zu verleihen. (Die Einleitung des Buchs von G. Haupt und J.-J. Marie, Les Bolcheviks par eux-memes.Pdris 1969, bringt genaue Ausführungen über die nationale Herkunft der bolschewi­stischen Führer des Jahrs 1917: von den 246 Führern, deren Biographie in dem Buch dargelegt wird, sind nur 127 russischer Nationalität. Vgl. ebd., S. 20)

Editorische Hinweise

 Bettelheim, Charles: Über die Natur der sowjetischen Gesellschaft. In: Bettelheim, Meszaros, Rossanda u.a.: Macht und Opposition in den nachrevolutionären Gesellschaften. Suhrkamp Vertag, Frankfurt a.M. 1979, S. 76-79