Texte zur Oktoberrevolution


Von der Volksaufklärung

29.10.1917

Bürger Rußlands!

Durch den Aufstand vom 25. Oktober haben die arbeitenden Massen zum ersten Male die wirkliche Macht erlangt. Der Allrussische Kongreß der Sowjets hat zeit­weilig diese Gewalt seinem Exekutivkomitee und dem Rate der Volkskommissare übertragen. Durch den Willen des revolutionären Volkes bin ich zum Volkskommissar für das Bildungswesen ernannt.

Die allgemeine Leitung des Volksbildungswesens wird, soweit sie der Zentralstaatsgewalt bleibt, bis zur Konstituierenden Versammlung der Staats­kommission für die Volksaufklärung übertragen, deren Vorsitzender und Vollstrecker der Volkskommissar ist.

Auf welche Grundbestimmungen wird sich nun die Staatskommission stützen? Wie bestimmt sich der Kreis ihrer Zuständigkeit?

Die allgemeine Richtung der Aufklärungstätigkeit

Jede wirklich demokratische Macht auf dem Ge­biete der Bildung in einem Lande, wo Analphabeten­tum und Unwissenheit herrscht, muß sich als erstes Ziel den Kampf gegen diese Finsternis setzen; sie muß in kürzester Zeit die allgemeine Kenntnis des Lesens und Schreibens erreichen durch Organisation eines Netzes von Schulen, die den Erfordernissen der derzeitigen Pädagogik entsprechen, durch Ein­führung des allgemeinen obligatorischen und unent­geltlichen Unterrichts, und gleichzeitig durch Er­richtung einer Reihe von Lehrerinstituten und Semi­naren, die möglichst rasch ein mächtiges Heer von Volkserziehern stellen, die für den allgemeinen Unterricht der Bevölkerung des unermeßlichen Rußlands erforderlich sind.

Aber bei der bloßen Kenntnis des Lesens und Schreibens, bei einem allgemeinen Elementarunter­richt kann keine wirkliche Demokratie stehen bleiben; sie muß nach der Organisation der absolut weltlichen für alle Bürger einheitlichen Schule in mehreren Stufen streben. Das Ideal ist: die gleiche und möglichst hohe Bildung aller Bürger. Solange dieses nicht für alle verwirklicht ist, muß der natur­gemäße Übergang in allen Stufen der Schule bis zur Universität, muß der Übergang in eine höhere Stufe ausschließlich von der Begabung des Schülers und außer aller Abhängigkeit von dem Grade der Wohlhabenheit seiner Familie abhängen.

Die Aufgabe der wirklich demokratischen Organi­sation des Unterrichts ist besonders schwer zu er­füllen in einem Lande, das infolge eines verbreche­rischen, langen Krieges der Imperialisten verarmt ist. Das arbeitende Volk aber, das die Macht er­griff, kann unmöglich außer acht lassen, daß das Wissen ihm als schärfste Waffe in seinem Kampfe für ein besseres Schicksal und für sein geistiges Wachstum dienen wird. Wie sehr man andere Posten des Volksbudgets wird beschneiden müssen — die Kosten für die Volksbildung müssen hoch sein: ein reiches Budget für das Bildungswesen ist der Stolz und der Ruhm für jedes Volk. Die freien und im Vollbesitze der Macht stehenden Völker Rußlands werden dessen eingedenk sein.

Der Kampf gegen das Analphabetentum und die Unwissenheit kann sich nicht auf eine ordnungs­mäßige Einrichtung des Schulunterrichts für Kinder, Unerwachsene und Jünglinge beschränken. Auch die Erwachsenen werden aus dem erniedrigenden Zustande eines Menschen, der des Lesens und Schreibens unkundig war, sich erretten wollen. Die Schule für Erwachsene muß einen weiteren Raum in dem Plane des Volksunterrichts einnehmen.

Unterricht und Bildung

Es muß der Unterschied zwischen Unterricht und Bildung unterstrichen werden. Unterricht ist die Übertragung fertiger Kenntnisse auf den Schüler. Bildung ist ein schöpferischer Prozeß. Das ganze Leben hindurch „bildet sich" die Persönlichkeit eines Menschen, erweitert sich, bereichert sich, ver­stärkt und vervollkommnet sich.

Die arbeitenden Volksmassen, die Arbeiter, Soldaten, Bauern lechzen danach, lesen und schreiben zu können und die verschiedensten Wissensgebiete sich zu erschließen. Sie lechzen aber auch nach Bildung. Diese kann ihnen weder der Staat, noch die Intelligenz, noch irgendwelche Macht außerhalb ihrer Person geben. Schule, Bücher, Theater, Museum usw. können hier nur Hilfsmittel sein. Die Volksmassen werden selbst ihre Kultur bewußt oder unbewußt ausarbeiten. Sie haben ihre eigenen durch ihre soziale Lage geschaffenen Ideen, die sich sehr von der Lage unterscheiden, die bisher die Kultur der herrschen­den Klassen und der Intelligenz geschaffen hat; ihre eigenen Ideen, ihre eigenen Empfindungen, ihr eigenes Herantreten an alle Aufgaben der Person und der Gesellschaft, der städtische Arbeiter nach seiner Art, der auf dem Lande Arbeitende auf seine Art werden ihre lichte, von dem Klassen­bewußtsein des Arbeiters durchdrungene Welt­anschauung sich bilden. Es gibt keine erhabenere und schönere Erscheinung als die, deren Zeugen und Beteiligte die nächsten Generationen sein werden: das Aufbauen des eigenen gemeinsamen reichen und freien Seelenlebens durch gemeinschaft­liche Arbeit.

Der Unterricht ist hier ein wichtiges, aber kein entscheidendes Element. Hier ist die Kritik und die schöpferische Kraft der Massen selbst wichtiger; denn Kunst und Wissenschaft haben nur in einigen ihrer Teile eine allgemein menschliche Bedeutung: sie erleiden wesentliche Änderungen bei jeder tief­greifenden Klassenumwälzung.

Überall in Rußland, besonders unter den städtischen Arbeitern, aber auch unter den Bauern, erhob sich eine mächtige Welle der aufklärenden Kulturbewegung, vornehmlich zahllos die Arbeiter­und Soldaten-Organisationen dieser Art: ihnen ent­gegenkommen, sie auf jede Weise stützen, den Weg vor ihnen freimachen, ist die erste Aufgabe der revolutionären Volksregierung auf dem Gebiete der Volksbildung.

Dezentralisation

Die Staatskommission für Volksaufklärung ist keineswegs eine Zentralgewalt, die die Lehr- und Bildungsanstalten verwaltet. Umgekehrt muß das gesamte Schulwesen auf die Organe der örtlichen Selbstverwaltung übergehen. Die selbständige Arbeit der aus eigenem Antrieb entstandenen, kulturell aufklärenden Klassenorganisationen der Arbeiter, Soldaten und Bauern muß volle Auto­nomie genießen sowohl gegenüber dem staatlichen Zentrum, als auch gegenüber den Munizipalzentren.

Sache der Staatskommission ist es, Bindeglied und Gehilfe zu sein, die Quellen der materiellen, ideellen und moralischen Unterstützung für die munizipalen und privaten, besonders aber für die Arbeiter- und Klassenbildungsanstalten imr. all­gemein staatlichen Maßstabe zu organisieren.

Das Staatskomitee für Volksbildung

Eine ganze Reihe wertvoller Gesetzentwürfe ist seit Beginn der Revolution vom Staatskomitee für Volksbildung ausgearbeitet worden, das in seiner Zusammensetzung recht demokratisch und an er­fahrenen Spezialisten reich ist. Die Staatskommis­sion wünscht aufrichtig das planmäßige Hand-in-Hand-arbeiten mit diesem Komitee.

Sie wird sich an das Büro des Komitees mit der Bitte wenden, sofort eine Sondersitzung des Komi­tees zur Ausführung des folgenden Programms an­zuberaumen:

1) Prüfung der Normen für die Vertretung im Komitee im Sinne seiner noch weiteren Demo­kratisierung.

2) Prüfung der Befugnisse des Komitees im Sinne einer Erweiterung derselben und seiner Umwand­lung in ein Hauptstaatsdnstitut für die Ausarbeitung von Gesetzentwürfen für vollständige Reorganisation des Volksunterrichts und der Volksbildung in Ruß­land auf demokratischer Grundlage.

3) Eine gemeinsam mit der neuen Staatskommission vorzunehmende Prüfung der vom Komitee schon angefertigten Gesetzentwürfe, da bei deren Abfassung das Komitee auf den bourgeoisen Geist der früheren Ministerien Rücksicht nahm, die sie übrigens auch in dieser verengerten Gestalt hemm­ten.

Nach dieser Prüfung werden die Gesetzentwürfe ohne alle bürokratische Verschleppung in revo­lutionärer Art durchgeführt werden.

Die Pädagogen und Gesellschaften

Die Staatskommission begrüßt die Pädagogen auf der Arena der lichten und ehrenvollen Arbeit der Aufklärung des Volkes — des Beherrschers des Landes. Keine Maßnahme auf dem Gebiete der Volksaufklärung darf von irgendeiner Behörde ohne aufmerksame Abwägung der Stimme der Vertreter der pädagogischen Welt ergriffen werden.

Andererseits können die Entscheidungen keines­wegs ausschließlich durch eine Körperschaft von Spezialisten getroffen werden. Das bezieht sich auch auf die Reformen der allgemeinen Bildungs­anstalten.

Die Mitarbeiterschaft der Pädagogen und der sozialen Kräfte — das ist es, was die Kommission bei ihrer Zusammensetzung im Staatskomitee wie in ihrer gesamten Tätigkeit anstreben wird.

Als ihre allererste Aufgabe erachtet die Kommis­sion die Verbesserung der Lage der Lehrer und vor allem der enterbten und nahezu wichtigsten Arbeiter am Kulturwerke, der Volkslehrer der Elementar­schulen. Ihre gerechten Forderungen müssen unver­züglich und unter allen Umständen befriedigt werden. Das Proletariat der Schule verlangte ver­geblich eine Erhöhung des Verdienstes auf 100 Rubel monatlich. Es wäre eine Schande, die Lehrer der ungeheuren Mehrheit der russischen Kinder in Armut zu halten.

Die Konstituierende Versammlung

Zweifellos wird die Konstituierende Versammlung bald ihre Arbeit beginnen. Nur sie wird dauernd die Ordnung des staatlichen und Gemeinlebens in unserem Lande, dabei auch den allgemeinen Cha­rakter der Organisation der Volksaufklärung fest­setzen.

Jetzt aber ist mit dem Übergange der Macht an die Sowjets der wahre Volkscharakter der Konstitu­ierenden Versammlung gewährleistet. Die Linie, die von der Staatskommission, gestützt auf das Staatskomitee, gezogen wird, wird unter dem Ein­fluß der Konstituierenden Versammlung kaum wesentlich verändert werden. Ohne vorzugreifen, hält sich die neue Volksregierung für berechtigt, auch auf diesem Gebiete eine Reihe von Maß­nahmen durchzuführen, die eine möglichst rasche Bereicherung und Aufhellung des geistigen Lebens des Landes bezwecken.

Das Ministerium

Die laufenden Geschäfte müssen vorläufig ihren Gang durch das Ministerium der Volksaufklärung nehmen. Über alle unmittelbar notwendigen Ände­rungen in seiner Zusammensetzung und Einrichtung werden die vom Exekutiv-Komitee der Sowjets ge­wählte Staatskommission und das Staatskomitee entscheiden. Die endgültige Ordnung der staat­lichen Leitung auf dem Gebiete der Volksbildung wird selbstverständlich von der Konstituierenden Versammlung festgesetzt werden. Bis dahin muß das Ministerium die Rolle des ausführenden Organs bei der Staatskommission für Volksaufklärung und dem Staatskomitee für Volksbildung spielen.

Die Gewähr der Rettung des Landes liegt in der Mitarbeit ihrer lebendigen und wahrhaft demo­kratischen Kräfte.

Wir vertrauen, daß die vereinigten Anstrengungen des arbeitenden Volkes und der ehrlichen, auf­geklärten Intelligenz das Land aus der qualvollen Krise hinaus und durch die völlige Volksherrschaft in das Reich des Sozialismus und der Verbrüderung der Völker führen werden.

Petrograd, den 29. Okt./ll. Nov. 1917.
(Veröffentl. in Nr. 3 der Ztg. der Arbeiter- und Bauern-Reg. vom 1. 14. Nov. 1917.)

Quelle: Illustrierte Geschichte der russischen Revolution, Berlin 1928,  S.488 -490