Texte zur Oktoberrevolution


Das Grundgesetz der russischen Sowjetrepublik

10. Juli 1918

Mitgeteilt von Carl Grünberg (Wien)

Die Verfassung der Sowjetrepublik ist ein geschichtliches Dokument allerersten Ranges. Das allein schon rechtfertigt und fordert ihre Wieder­gabe unter den Urkundlichen Mitteilungen des „Archivs" im Original sowohl wie in — einer von Herrn Dr. L. Petschersky-Wien herrührenden sorg­fältigen — Übersetzung. Sie darf aber wohl im gegenwärtigen Augenblick, da auch in Deutschland der Kampf um die Frage: Nationalversammlung oder Rätesystem? entbrannt ist, auf verdoppeltes Interesse zählen; und zwar um so mehr, als sie m. W. in Deutschland bisher vollständig und in authen­tischer Form nicht reproduziert worden ist.

Das Grundgesetz zerfällt in zwei Teile, deren erster: Die Erklärung der Rechte des arbeitenden und ausgebeuteten Volkes, bereits im Januar 1918 vom IV. Allrussischen Sowjetkongreß beschlossen worden ist. Der zweite ist ein halbes Jahr jünger und vom V. Sowjetkongreß, am 10. Juli 1918, verabschiedet worden: er enthält die Allgemeinen Verfassungsgrundsätze der Sowjetrepublik.

In der Rede, mit der der Delegierte Geokg Steklow auf dem V. Kongreß die Bedeutung des Verfassungsentwurfes darlegte und dessen Annahme empfahl, wies er nachdrücklichst auf den grundsätzlichen Unterschied zwi­schen allen bisherigen geschichtlichen Verfassungen und der Sowjetverfassung hin. Jene seien immer und Uberall, auch im Frankreich der französischen Revolution, bürgerlichen Gepräges und bestimmt gewesen, die Vorrechte der herrschenden besitzenden Klassen gegen die Besitzlosen zu erhalten, zu festigen, zu sichern. Die Sowjetverfassung dagegen stelle einen erstmaligen Versuch dar, „die Bestrebungen der Arbeiter, Bauern und Unterdrückten in staatsrechtliche Form zu gießen und jeglicher politischen und wirtschaft­lichen Ungleichheit einmal für allemal ein Ende zu setzen". Das bewaffnete Volk selbst schaffe sich in ihr seine Charte als „Muster eines neuen gesell­schaftlichen Aufbaues für alle anderen Völker". — Im Zustande des Über­ganges vom bürgerlichen Klassenstaat zum Volksstaat, von der kapitalistischen zur kommunistischen Wirtschaftsordnung und dazu geschaffen, um diesen Übergang herbeizuführen, müsse die Sowjetverfassung, innerlich not­wendig, als Kampfverfassung in Erscheinung treten, d. h. zur Beseitigung des bourgeoisstaatlichen Gewaltapparats diesem einen proletarischen Gewalt­apparat entgegenstellen. Daher die „Diktatur des Proletariats", daher der ..demokratische Zentralismus", daher das Streben, im Unterschied von der parlamentarischen Ordnung, die alle Macht in die Hände einer kleinen Clique aus den Kreisen der Bourgeoisie lege, sowohl die Legislative wir die Exe­kutive in einem Zentralorgan, dem Allrussischen Zentral-Exekutivkomitee, zu konzentrieren, um der Revolution die erforderliche Höchstentfaltung von Kraft und Erfolg zu ermöglichen und zu gewährleisten. Der demokratische Zentralismus erscheine so, im Unterschied vom bourgeoisstaatlichen Zentralis­mus und in striktem Gegensatz zu ihm, als Selbstwehr der ungeheuren Mehr­heit der Bedrückten gegen die bisher herrschende Minderheit der Besitzenden, deren Widerstand und deren Hestauiationsanschläge. Wenn also für die Übergangszeit der Diktatur des Proletariats der Bourgeoisie das Wahlrecht genommen werde, so sei das nur eine unvermeidliche Kouzequenz aus dem Wesen und Zweck dieser Diktatur — und. nebenbei, nur eine Anwendung dessen auf die Bourgeoisie, was diese Jahrhunderte hindurch gegen die Massen praktiziert habe und sicherlich neuerdings praktizieren würde, wenn sie wieder zur Macht gelangte. Und aus analogen Erwägungen werde der Bourgeoisie auch „das Ehren recht (entzogen i, die Waffen zur Verteidigung des Vaterlandes zu führen".

Wie schon hervorgehoben, will die Sowjetverfassung nicht eine bloß natio­nale, nur auf Großrußland beschränkt, sein; sie tritt mit dem Anspruch auf, internationale Geltung zu erringen, und bringt dies auch dadurch zum Ausdruck, daß sie innerhalb des Gebiets der Sowjetrepublik keinen Unterschied zwischen republiksangehörigen und fremden Arbeitenden macht und auch den letzteren das — aktive und passive — Wahlrecht einräumt. Ihre Ur­heber rechnen mit Bestimmtheit darauf, daß das Proletariat, wo immer sonst es den Kampf um seine Emanzipation werde aufnehmen und wirksam durch­führen wollen, die gleichen Wege werde beschreiten müssen, wie die russische Sowjetrepublik, so daß diese den Kristallisationspunkt für eine europäische und darüber hinaus für eine Weltföderation abgeben werde; eine Föderation, die zunächst auf dem Boden des ehemaligen zaristischen Rußland einsetzen und hier wie Uberall jeder Nation die Möglichkeit sichern werde, ihre natio­nalen Eigentümlichkeiten und Rechte zu bewahren.

Quelle: Carl Grünberg (Hrg.), Archiv für Geschichte des Sozialismus und  der Arbeiterbewegung, Leipzig 1919, 8. Jg., S.402ff


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