Das Subjekt der Revolution
in den entwickelten kapitalistischen Ländern ist im
wesentlichen das Proletariat, Das Subjekt der
vietnamesischen Revolution und der chinesischen Revolution
in ihrer entscheidenden Phase zwischen 1928
und 1948 ist im wesentlichen die
Bauernschaft. Die Formel, die die Bolschewiki
für die russische Revolution entwickelten, heißt: "das
Proletariat, das sich auf die Bauernschaft stützt."
Die Oktoberrevolution
erscheint als Vermittlung der
proletarischen und der bäuerlichen Revolution gegen den
Imperialismus. Dies hat seine Ursachen in den halb
"asiatischen" Verhältnissen Rußlands vor dem Oktober.
Teils Opfer des Imperialismus, teils selber
imperialistisch, teils auf dem Weg
einer bürgerlichen Revolution auf dem Land, teils auf dem
Weg einer sozialistischen Revolution in der jungen,
relativ kleinen, aber hochkonzentrierten und
zentralisierten Industrie, erwies sich Rußland als
schwächstes Glied des Kapitalimperiums und als
mächtiger Keil gegen den
Imperialismus und als Übermlttler
der Kämpfe des europäischen Proletariats bei den Völkern
Asiens.
Die russische obscina (80)
ist die am weitesten entwickelte Form in der Reihe der
primären Formationen und entspricht etwa der
"Ackerbaugemeinde". Nur ein Schritt
fehlt, die Aufgabe der Umverteilungen, um sie in ein Dorf
von Parzellenbauem zu verwandeln, um das
Privatgrundeigentum durchzusetzen. Die Beziehung
zwischen Individuum und Eigentum beginnt schon die
Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft
zu dominieren, die Gentilbeziehungen
sind gelöst. Der MIR, die Dorfversammlung,
bestimmt periodisch die Anteile dei
Individuen (bzw. Familien) am Gemeindeland.
Aber diese archaisch-demokratische Form ist Objekt de
Herrschaft, in reiner Form eine Agrarbürokratie
durchaus asiatischer Art. Das
Problem der Distribution des
Mehrprodukts, die aufgrund der relativen Autonomie der
Lokalverwaltung in
der Agrarbürokratie nicht ganz von
oben nach unten erfolgen kann, und in China z.B. durch die
halblegale Korruption der Beamten
gelöst wurde, wurde im Zarenreich durch
die Belehnung der Beamten gelöst.
Das Mehrprodukt der obscina
wird also teils als Steuer, teils als Rente angeeignet,
die herrschende Klasse ist teils Adel, teils Bürokratie.
Die Bauern
sind Leibeigene, aber nicht nur der Herrschaft des
privaten Grundherren unterworfen, sondern auch dem Zaren
selbst, und unter sich archaisch-demokratisch
-organisiert. Auch die Befreiung des Adels von der
Dienstpflicht (1762) hält seinen Rang und seine
Rechtfertigung welter in Abhängigkeit vom Staatsdienst.
Die Widersprüche zwischen Zentralimperium und Adel und
Adel und Bauern aktualisieren sich mit zunehmender
Verknappung des Bodens, also mit Wachstum der Bevölkerung.
Forciert geschah dies in Rußland erst im 19. Jh. Umfaßte
die Bevölkerung 1815 erst 45 Mio. so 1913 schon 174
Mio.(81)
Zwar wurde
der damit verbundenen Verknappung des Bodens durch die
Errichtung einer kapitalistischen Produktionweise in den
Städten entgegengewirkt, ebenso durch zunehmende
Arbeitsteilung auf dem Lande, aber auch 1913 umfaßte der
städtische Anteil an der Gesamtbevölkerung erst 17,6 %
während er in England z.B. schon 1800 50 % umfasste.
So steuert auch die russische Agrargesellschaft im 19. Jh.
schon von sich aus ihrem Untergang entgegen. Spätesten
1840 war über die Hälfte der Güter verödet und der
Überschuß an bäuerlichen Arbeitkräften begann die
Landgebundenheit, die Grundlage der obscina, zu sprengen.
Teils wurden die Leibeigenen von ihren Besitzern in Ware
verwandelt, teil liefen sie davon.
Nun ist zwar
die asisatisch-feudale Produktionsweise
Rußlands eine ganze Stufe weiter fortgeschritten als die
asiatische Produktionsweise im
historischen Prozeß der Indivlduation, der Lösung des
Individuums von der Gemeinschaft und der Natur, dennoch
ist gerade das die Grundlage einer
eher größeren Solidarität und Kohärenz der obscina, weil
nämlich gerade die größere Individuation
der obscina die Möglichkeit einer vollen Durclisetzung des
Privateigentums gestattet. Das aber ist
weder im Interesse der Bauern, weil
es ihre völlige Expropriation zur notwendigen Folge hat,
gegen die umgekehrt nur die obscina Schutz
bieten kann, noch im Interesse des
Zentralimperiums, weil diesem mit der obschina die Macht-
und Steuerbasis entzogen wird. Andererseits hatte die
Verknappung des Bodens schon zu einer Differenzierung
innerhalb der obscina geführt, sodaß eine
relativ kleine Schicht,die Kulaken, tatsächlich an der
Auflösung der obschina interessiert war.
Mit sicher
bloß halben Bewußtsein
griff deshalb
das Zentralimperium
1861 zu einer Reform, die dem
kapitalistischen Milieu der asiatisch-feudalen
Agrarproduktion entgegenkam, zugleich aber dem Zaren die
Loyalität der Bauern sicherte, ohne sie dem Staat als
Ausbeutungsobjekt zu entziehen.
Die Aufhebung
der Leibeigenschaft sicherte den
Bauern nämlich die "persönliche" Freiheit und die
Möglichkeit ihr eigenes Land zu "kaufen", bestimmte aber
zugleich
1. "daß Land einer
jeden Gemeinde als Gemeinbesitz der zu ihr gehörenden
Bauern zur regelmäßigen oder fallweisen Umverteilung unter
sie gelangte" und 2. die "steuerliche Gesamthaftung des
MIR für alle einzelnen Mitglieder."(82)
Der
eigentliche Inhalt der Emanzipation ist
also folgendermaßen zu bestimmen
(Marx, MEW 19/414):
"Die Befreiung
läuft einfach darauf hinaus, daß der adlige
Gutsbesitzer nicht mehr über die
Person des Bauern verfügen, ihn
nicht verkaufen kann etc. Diese persönllcfie
Leibeigenschaft ist abgeschafft.
Sie haben ihre persönliche Gewalt über die Person des
Bauern verloren. / Kaum gelangten
Gerüchte über die beabsichtigte Emanalpation
der Bauern nach draußen, als die Regierung sich
gezwungen sah, Maßnahmen zu ergreifen gegen die Versuche
der Gutsbesitzer, mit Gewalt die Bauern zu expropriieren
oder ihnen den unfruchtbarsten Boden zuzuweisen. / Früher
in den Zelten der Leibeigenschaft, hatten die Gutsbesitzer
ein Interesse daran, den Bauer als eine unentbehrliche
Arbeitskraft zu erhalten; das hat aufgehört. Der Bauer
gelangte in ökonomische Abhängigkeit von seinem früheren
Gutsbesitzer."
Das
bedeutet zum einen Verschärfung der Klassenantagonismen
zwischen Bauernschaft und Adel, zum andern Loyalität der
Bauern zur Autokratie. Zugleich ist der
ist der Klassenantagonismus, der früher weitgehend
personal war und nur vermittelt ökonomisch , jetzt
versachlicht , zu einem ökonomisch bestimmten geworden.
Damit, daß nun die Ökonomie
die Ökonomie determiniert, und nicht , mehr die Ökonomie
ein persönliches Herrschafts-
und Knechtschaftsverhältnis
determiniert, sind die gesellschaftlichen Voraussetzungen
geschaffen dafür, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse
als gesellschaftliche ins Bewußtsein treten.
Der historische
Materialismus kann zur Kampftheorie der freilich noch
immer nicht kapitalistisch ausgebeuteten Bauernschaft
werden, (83) ohne daß das Gemeineigentum ganz aufgelöst
wäre. Aber die Loyalität der Bauern zum Zaren beruht
immer noch auf einem fiktiven
persönlichen Herrschaftsverhältnis.
Die Bauern waren zwar bereit, den Klassenkampf gegen
den Adel aufzunehmen, aber der Zar war noch
Personifikation des aktiven
Gemeinwesens, die Unterscheidung von wahrem und falschem,
gutem und bösem Zar mußte noch
sinnvoll erscheinen; die Bauern konnten die absolute
Autorität des Zaren nicht in Frage stellen.
An diesem Problem sind die
Narodnlki gescheitert. Die Hoffnung, der Zar werde durch
Dekret den Sozialismus einführen,
war ein ebenso konsequenter Ausdruck dieses falschen
Bewußtseins wie die entgegengesetzte der Narodnaja Wolja,
daß nämlich die Ermordung des Zaren zum Sozialismus führen
würde, wenngleich letztere revolutionärer war.
Die Bourgeoisie konnte sich
in dieser Gesellschaft zwar entwickeln, fand aber ihre
Grenze an der orientalischen Despotie und der
ökonomislerten Form der asiatisch
-feudalen Produktionsweise. Die Revolutionen von 1905
und Februar 1917 waren das
Äußerste, was die russische'Bourgeoisie leisten
konnte. Sie scheiterten daran, daß
sie die Widersprüche in der
Agrarstruktur und die Widersprüche zwischen der
agrarischen und der industriellen Produktionsweise nicht
lösen konnten. Dazu wäre eine imperialistische Expansion
notwendig gewesen, die der russischen Bourgeoisie aber im
Krieg durch die anderen imperialistischen Mächte entgültig
abgeschnitten wurde. Die Einsicht der Bolschewisten, daß
nun das Proletariat die Führung der Revolution
übernehmen mußte, war also vollkommen richtig.
Die Erste der drei
gewaltigen Umwälzungen der gesamten Gesellschaft, die Russland
in den letzten 100 Jahren erlebt
hat, die Emanzipation der Bauern, hat die
Zweite, die Oktoberrevolution, vorbereitet. Die
Oktoberrevolution, die in den großen Städten einen
raschen und umfassenden Sieg erringen konnte, mußte auf
dem Land die Form eines Bürgerkriegs
annehmen, der erst 1921 erfolgreich beeendet werden
konnte. Ihr wichtigste Aufgabe war
natürlich die Verstaatlichung der Produktion und
Zirkulation. Dazu war die restlose Zerschlagung der
Industrie- und Finanzbourgeoisie ebenso Vorraussetzung wie
die Zerstörung der Reste der zaristischen Autokratie, da
durch die Oligopolisierung des
Weltmarktes durch die imperialistischen
Mächte die weitere Industriealisierung
Russlands in
kapitalistischen Produktionsverhältnissen nicht mehr
möglich war. Da das russische Proletariat aber auch gegen
die Autokratie zu kämpfen hatte, also nur teilweise gegen
einen bürgerlichen Staatsapparat mit eindeutig und
unmittelbar ökonomischer Basis, war seine Kampftheorie
wesentlich politischer Art, daher
der politische Charakter des Leninismus,
wenigstens teilweise Im Gegensatz zum
Marxismus, der wesentlich Kritik der Politischen Ökonomie
ist. Was den politischen Kampf des Proletariats
'gegen die Reste der Autokratie
betrifft, fällt er der Richtung nach mit der Revolution
der Bauern zusammen.
Sozialökonomisch gesehen nahm die Agrarrevolution jedoch
die entgegengesetzte Richtung wie die proletarische.
Schaffte die Revolution in der Stadt das Privateigentum
ab, so führte sie es auf dem Land
in Form einer Parzellierung des halb- und spatfeudalen
Großgrundbesitzes in eine andere Form über,
die in einem kapitalistischen Milieu den Anfang einet
vollen Entfaltung des Agrarkapitalismus
dargestellt hätte.
Die
vorrevolutionäre Agrarstruktur wies vier
Eigenturnskategorien auf:
(1) selbst bearbeiteter
Boden
(a) 135 Mil.
ha MIR-Land
(b) 50 Mil. ha Kulaken-Land
(2) fremd bearbeiteter
Boden
(a) 61 Mil. ha Adelsland
(b) 91 Mil. ha Staats-, Kron-, Kirchenland
1918 wurde oder blieb 2b verstaatlicht, das heißt in
Sowchosen verwandelt.
2a wurde den Bauern zur lebenslänglichen Nutzung als
Privatbesitz übertragen.
Da in der gleichen Zeit aber
etwa 8 Mil. Menschen aus der Stadt
aufs Land zogen, betrug die durchschnittliche Landzunahme
pro Kopf der bäuerlichen Bevölkerung nur
0,54 ha. Deshalb wurden im
Herbst noch einmal
50 Mil. ha Kulakenland an die Bauern verteilt und
das MIR-Land umverteilt, sodaß die
bäuerlichen Großbetriebe verschwanden und der Anteil der
Kleinbetriebe von 57,6 % auf 72,1
% zunahm.
Das
hauptsächliche Ergebnis der bolschewistischen
Agrarrevolution war also 'die
Parzellierung des Bodens. Es ist natürlich absurd,
die Oktoberrevolution als bürgerliche Revolution zu
bezeichnen, es muss aber auch klar sein, dass ihre
Resultate für die Landbevölkerung - und das sind 1920
immerhin nicht weniger als 85 % der
Gesamtbevölkerung, 113,4 Mio. gegenüber 20,8 Mio,
Stadtbevölkerung das gerade Gegenteil vom Sozialismus
waren.
"So jagten die Bauern dem
Besitz nach, während die Arbeiter der zwei Hauptstädte
ihn abzuschaffen bemüht waren...
Die Bauern, die sich vor einer Konterrevolution, die die
Großgrundbesitzer zurückbringen könnte, fürchteten, waren
(zwar) am bolschewistischen Regime interessiert. Aber der
sozialistische Aspekt der Revolution rief bei
ihnen Mißtrauen, Furcht und
Feindseligkeit hervor. (84).
Anmerkungen
(80) Vgl.
G.T. Robinson, Rural Russia under the old regime N.Y.
1961; R. Luxemburg, Einführung, S. 177 ff. zur
historischen Entwicklung, Gitermann, a.a.O.; mehr
soziologisch bei C.E. Black (Hg.), The Transforrnation of
Russian Society, Cambridge, Mass. 1960
(81) Statistik in diesem ganzen Abschnitt nach
"Sowjetgesellschaft im Wandel", Stuttgart, 1966
(82) Sowjetgesellschaft .... a.a.o., S. 15
(83) Zum methodischen Aspekt dieses. Problems Lukacs,
Geschichte und Klassenbewußtsein.
(84) Deutscher, Die unvollendete Revolution, S. 26,25
Quelle: Leseauszug aus: Fritz Kramer, Über
den Sozialismus in China und Russland und die
Marxsche Theorie der Geschichte, in: Rotes Forum
Nr. 3/1970, hrg.v. SDS Heidelberg, S.18-20
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