Texte zur Oktoberrevolution


"Subtheoretische Themen"
zur Kritik der Sowjetgesellschaft


von Marcel van der Linden

In den vorgestellten Theorien kehren regelmäßig subtheoretische - das heißt: nicht an eine Strömung gebundene - Themen oder Topoi wieder, von denen mehrere Bausteine einer »nach-Marxschen« Analyse sein könnten. Meiner Ansicht nach gibt es elf dieser Bausteine:

1. Das bolschewistische und später stalinistische Regime bildet eine Entwicklungsdiktatur: Angesichts der Unterentwicklung der sozialökonomischen Verhältnisse 1917 war es unvermeidlich, daß während einiger Jahrzehnte in erster Linie forciert industrialisiert und akkumuliert wurde. Dies erforderte gesellschaftlichen Zwang und führte zu einem diktatorischen Regime. Dieser Topos ist u.a. bei Adler, Kofier, Rosdolsky, Kuron und Modzelewski, Mattick, Carlo, Melotti, Fantham und Machover, Schmiederer, Campeanu anzutreffen.

2. Die Sowjetunion weist eine Analogie mit der asiatischen Produktionsweise auf: Der Stalinismus ist keine Variante »orientalischer Despotie«, ähnelt ihr aber in mancherlei Hinsicht. Die Analyse z.B. der klassischen chinesischen Gesellschaft hat zumindest heuristischen Wert für das Studium der Sowjet­gesellschaft. Dieser Topos ist u.a. bei Sternberg, Frölich, Simin, Konräd und Szelenyi vorzufinden. Eng verwandt mit diesem Thema ist die Erwä­gung von Gorter, Pannekoek, Wagner, Wittfogel und anderen, daß Rußland bzw. die Sowjetunion traditionell einer völlig anderen ökonomischen, po­litischen und kulturellen Sphäre als »der Westen« angehörten.

3. Die Sowjetgesellschaft ist ein Bastardgebilde, ein »uneigentliches« Phänomen, eine ins Nichts führende Abzweigung vom Hauptweg der menschlichen Geschichte. Zu den Vertreterinnen dieser Auffassung gehören Kautsky, Simin und Ticktin, auch Laurat und Shachtman könnten hierzu gerech­net werden.

4. Der Bolschewismus und/oder Stalinismus ist eine historisch befristete Erscheinung: Innerhalb einiger Jahre wird sie einer anderen, dauerhafteren Formation Platz machen müssen. Dieser Topos - der dem dritten nahesteht, aber keineswegs mit ihm identisch ist - ist bei Kautsky, Trotzki und Pedrosa anzutreffen.

5. Die Sowjetunion verkörpert ein Übergangsstadium zwischen Klassen- und klassenloser Gesellschaft, und weist daher Parallelen mit dem Übergangs­stadium von der klassenlosen zur Klassengesellschaft auf. Dieser Topos ist bei Rizzi, Simin und Bahro anzutreffen.

6. Stalinismus und Faschismus/Nationalsozialismus sind zwei Varianten der­selben Gesellschaftsform. Dieser Topos - der auch aus der Totalitarismus-Theorie bekannt ist - ist bei den Vertreterinnen der Staatskapitalismus-Theorien (Rühle, Pollock) vorzufinden und bei Vertreterinnen der Theorien einer neuen Produktionsweise (Laurat, Weil, Rizzi, Burnham).

7. In der Sowjetunion handelt es sich um die Unterwerfung der Ökonomie unter die Politik oder, anders gesagt, um einen vollständig verselbständigten Staat. Vertreterinnen dieses Topos sind Hilferding, Pedrosa, Damus, Schmiederer u.a.

8. Die Macht der herrschenden Elite beruht auf der Trennung von Kopf- und Handarbeit (Wissen als Grundlage der Herrschaft). Dieser Topos ist in den Theorien der Managerklasse (Weil, Burnham) anzutreffen, aber auch bei Cycon, Eggert, dem SZ Tübingen, Eichwede und Kaiser, Konräd und Szelenyi. Eine etwas abweichende Variante (die Elite als Sektor der Kopf­arbeiter) wird von Bahro vertreten.

9. Die Arbeiter in der Sowjetunion sind keine »freien Lohnarbeiter« im Sinne
von Marx
: Da sie alle letztendlich ihre Arbeitskraft einem Unternehmer zur Verfügung stellen müssen und darüber hinaus Arbeitspflicht besteht, ist ein wesentliches Element der Marxschen »Freiheit« verschwunden, nämlich die Freiheit, zwischen verschiedenen Ausbeutern zu wählen. Dieser Topos ist im Werk von Rizzi, Burnham und Guttmann vorzufinden.

10. Je länger die Sowjetunion besteht, desto stärker ist das Wachstum der Ineffizienz oder, wie manche Autorinnen es ausdrücken, die Entwicklung des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnis­sen. Dieser Topos kam in den siebziger Jahren auf (Carlo, Ticktin, Conert, Feher u.a.).

11. Die Sowjetgesellschaft hat keine autonomen Bewegungsgesetze; ihre Ent­wicklungsrichtung wird vom Konkurrenzdruck der kapitalistischen Um­welt bestimmt. Dieser Topos ist bereits bei Cliff auszumachen und kehrte später u.a. bei Marcuse und Sweezy wieder.

Einige dieser Topoi können eventuell für die Entwicklung einer neuen Analyse der Sowjetgesellschaft von Nutzen sein; hierauf werde ich im nächsten Kapitel etwas ausführlicher eingehen.

Quelle: Marcel van der Linden, Von der Oktoberrrevolution zur Perestroika, Ffm 1992, Grafik: S.211, Text: S.217ff