Im
Oktober 1917, nach drei Jahren unbeschreiblichen
Gemetzels auf den Schlachtfeldern, ein Fanal der
Hoffnung im Pulverdampf des Krieges: die russischen
Arbeiter_innen, die im Februar den Zaren gestürzt
hatten, enthoben nun die bürgerliche Provisorische
Regierung ihres Amtes, die ihn ersetzt, aber darauf
bestanden hatte, den Krieg "bis zum Siege"
fortzusetzen. Die Sowjets (Arbeiter-, Bauern- und
Soldatenräte) riefen mit der bolschewistischen
Partei vorneweg zu einem sofortigen Ende des
Krieges auf und appellierten an die Arbeiter_innen
der Welt, ihrem revolutionären Beispiel zu folgen.
Dies war kein leerer Traum, weil es in allen
feindlichen Ländern angesichts der Unzufriedenheit
bereits gärte – so gab es Streiks in den
Kriegsindustrien, sowie Meutereien und
Verbrüderungen an der Front. Im November 1918
nötigte der Ausbruch der deutschen Revolution die
herrschende Klasse dazu, das Ende der
Kriegshandlungen auszurufen, weil sie befürchten
musste, dass ein jeglicher Versuch, sie zu
verlängern, die Flammen der Revolution weiter
anfachen würde. Für einen kurzen Zeitraum suchte
das Gespenst des "Bolschewismus" – der damals für
die Arbeiter_innensolidarität über alle Grenzen
hinweg und für die Eroberung der politischen Macht
durch die Arbeiterräte stand – den Globus heim. Für
die herrschende Klasse konnte er nur Chaos,
Anarchie und den Zusammenbruch der Zivilisation
bedeuten. Doch für die Arbeiter_innen und
Revolutionär_innen, die ihn unterstützten, enthielt
der Oktoberaufstand das Versprechen einer neuen
Welt. 2017
bleibt die Russische Revolution ein
Schlüsselereignis in der Weltgeschichte, und ihr
hundertster Jahrestag bringt unbequeme Erinnerungen
für jene Kräfte zurück, die die Welt beherrschen.
In Russland selbst fällt es dem Putin-Regime
schwer, den richtigen Ton für ihr Gedenken zu
finden; immerhin behauptete Stalins mächtige UdSSR,
von deren Restauration Putin (ausgebildet vom KGB)
träumt, ebenfalls, Erbe der Oktoberrevolution zu
sein. Doch neben (oder vielmehr diametral
entgegengesetzt zu) dieser nationalistischen Lesart
gibt es die internationalistische Sichtweise Lenins
und der Bolschewiki, die Idee, dass die Loyalität
der russischen Arbeiterklasse nicht Mutter Russland
gelten sollte, sondern den Arbeiter_innen der Welt.
In den "demokratischen" Ländern des Westens wird es
ebenfalls eine krude Mischung von Analysen und
Deutungen geben, doch über eins können wir uns
sicher sein: Wenn sie von den politischen, medialen
und akademischen Sprachrohren des Kapitalismus
kommen, dann dienen sie dazu, die Bedeutung der
Russischen Revolution zu entstellen.
Was sind die
Hauptstoßrichtungen dieser ideologischen Angriffe,
dieses Versuchs, die Erinnerung der Arbeiterklasse
entweder zu begraben oder zu pervertieren?
Ist der
Klassenkrieg vorbei?
Erste
Angriffslinie: Dies seien alles alte
Kamellen, von geringer Relevanz für die moderne
Welt. Wir lebten nicht mehr in den Zeiten, die in
den ruckeligen Schwarzweiß-Filmen damals
porträtiert worden seien, wo Kavallerieangriffe
noch ein Bestandteil der Kriegsführung gewesen
seien und die Bauern das Land noch mit
pferdebespannten Pflügen bestellt hätten (falls sie
zu den Glücklichen zählten, die ein Pferd besaßen).
Selbst die großen Fabriken wie die Putilow-Werke in
Petrograd (heute: St. Petersburg), wo Zehntausende
von Arbeitern täglich bis an die Grenzen des
Möglichen ausgebeutet worden, seien größtenteils
verschwunden, jedenfalls in den meisten westlichen
Ländern. In der Tat gibt es nicht nur viel weniger
Kleinbauern, sondern manche fragen sich, ob es
überhaupt noch so etwas wie eine Arbeiterklasse
gibt, und wenn ja, ob sie immer noch eine
ausgebeutete Klasse ist, wenn man Wohlfahrt von
einem mildtätigen Staat beanspruchen und es sich
leisten kann, allerlei Gegenstände zu erwerben
(wenn auch auf Kredit), die für die russischen
Arbeiter_innen 1917 völlig unerreichbar waren. Sind
supermoderne Konzerne wie Uber nicht viel mehr auf
der Höhe der Zeit, wenn sie ihre Arbeitskräfte als
freiberufliche Individuen einstufen statt als eine
Art Kollektivkraft, die in der Lage ist, im eigenen
Interesse zusammen zu handeln? Sollten wir alle,
welchen Job wir auch immer ausüben, nicht besser
als Bürger einer breiten demokratischen Ordnung
definiert werden?
Und doch: Tag für
Tag wird uns erzählt, dass der Kapitalismus
(hauptsächlich in seiner gegenwärtigen,
"neoliberalen" Form) den Planeten so beherrscht wie
nie zuvor - er ist wahrhaftig ein Weltsystem, eine
globale Produktionsweise, die jedes Land der Welt
dominiert, einschließlich Kuba und China, die sich
selbst immer noch "sozialistisch" nennen. Doch es
bleibt Fakt, dass, wo Kapital ist, es auch eine
Klasse gibt, die es produziert, die arbeitet und
die ausgebeutet wird, weil das Kapital laut
Definition auf unbezahlter Arbeit basiert, die
jenen entzogen wird, die für Lohn arbeiten - ob sie
in Fabriken, Büros, Schulen, Kaufhäusern,
Krankenhäusern, im Transport oder zuhause tätig
sind. Kurz, wie Marx es in einer Broschüre
formulierte, die exakt den Titel Lohnarbeit und
Kapital trägt: "Kapital und Lohnarbeit
sind zwei Seiten eines und desselben Verhältnisses.
Die eine bedingt die andre...". Wo es Kapital
gibt, gibt es auch eine Arbeiterklasse.
Selbstverständlich
hat sich die Gestalt der Arbeiterklasse seit 1917
erheblich verändert. Ganze Industriekomplexe
wechselten nach China oder Lateinamerika oder in
andere Teile dessen, was einst die "Dritte Welt"
genannt wurde. In großen Teilen der Wirtschaft in
den "Industrieländern" Westeuropas stellen
Arbeiter_innen nicht mehr materielle Güter in
Werkhallen her, sondern arbeiten stattdessen vor
Computer-Bildschirmen in der "Wissensökonomie" oder
im Finanzsektor, häufig an viel kleineren
Arbeitsplätzen; und mit der Dezimierung der
traditionellen Industriesektoren wie Bergbau, Stahl
und Schiffbau lösten sich auch die entsprechenden
Arbeiterwohnbezirke auf. All dies hat mit dazu
beigetragen, die Art und Weise zu untergraben, in
der die Arbeiterklasse sich selbst als eine Klasse
mit einer gesonderten Existenz und mit eigenen
Interessen in dieser Gesellschaft identifiziert. Es
hat das historische Gedächtnis der Arbeiterklasse
zwar geschwächt, doch es hat die Arbeiterklasse
nicht verschwinden lassen.
Es ist richtig,
dass die objektive Existenz der Arbeiterklasse
nicht automatisch bedeutet, dass es innerhalb eines
erheblichen Teils dieser Klasse noch immer ein
politisches Projekt gibt, eine Idee, dass der
Kapitalismus gestürzt und von einer höheren
Gesellschaftsform ersetzt werden muss und kann. In
der Tat ist es 2017 berechtigt zu fragen: Wo ist
das heutige Pendant zu den marxistischen
Organisationen, wie die Bolschewiki in Russland
oder die Spartakisten in Deutschland, die in der
Lage waren, eine Präsenz unter den
Industriearbeiter_innen zu entwickeln, und einen
großen Einfluss hatten, als sie sich in
Massenbewegungen, in Streiks und Aufständen
engagierten? In den wenigen Jahrzehnten vom
"Zusammenbruch des Kommunismus" bis zum Auftauchen
des Populismus schien es oft, dass jene, die noch
immer von der proletarischen Revolution reden, als
unerhebliche Kuriositäten betrachtet wurden, als
seltene Tiere kurz vor ihrer Auslöschung, und dass
sie nicht nur von den feindlichen kapitalistischen
Medien so gesehen wurden. Für die weite Mehrheit
der Arbeiterklasse ist 1917, die Russische
Revolution, die Kommunistische Internationale - ist
all dies vergessen worden, vielleicht in
irgendeiner tiefen, unbewussten Nische
weggeschlossen, aber nicht mehr Teil irgendeiner
lebendigen Tradition. Wir haben heute solch einen
Tiefpunkt in der Fähigkeit der Arbeiterbewegung
erreicht, sich an ihre eigene Vergangenheit zu
erinnern, dass die rechtspopulistischen Parteien
sich selbst als Parteien der Arbeiterklasse
präsentieren können - und von ihren liberalen
Opponenten als solche präsentiert werden -, als die
wahren Erben des Kampfes gegen die Eliten, die die
Welt anführen.
Dieser Prozess des
Vergessens und des Vergessen-Machens ist nicht
zufällig. Der Kapitalismus heute hängt mehr denn je
vom Kult des Neuen ab, von der "ständigen
Revolutionierung" nicht nur der Produktionsmittel,
sondern auch der Konsumobjekte, so dass das, was
einst neu war, wie das aktuellste Smartphone,
binnen weniger Jahre veraltet ist und ersetzt
werden muss. Diese Abwertung von Dingen, die
out of date sind, von authentischen
Erfahrungen ist für die Klasse der Ausbeuter von
Nutzen, da sie dazu dient, eine Art von Amnesie
unter den Ausgebeuteten zu erzeugen. Die
Arbeiterklasse droht ihre eigenen revolutionären
Traditionen zu vergessen; und sie verlernt zu ihrem
eigenen großen Schaden die wahren Lehren der
Geschichte, die sie in ihren künftigen Kämpfen
benötigt. Die Bourgeoisie will als reaktionäre
Klasse uns dazu bringen, die Vergangenheit zu
vergessen, oder (wie die Populisten und
Dschihadisten) uns das Wunder einer falschen,
idealisierten Vergangenheit offerieren. Das
Proletariat ist im Gegensatz dazu eine Klasse mit
einer Zukunft und genau aus diesem Grund in der
Lage, das Beste aus der Vergangenheit der
Menschheit in den Kampf für den Kommunismus zu
integrieren.
Der
Kapitalismus hat sich überlebt
Das Proletariat
bedarf der Lehren aus seiner historischen
Vergangenheit, weil das Kapital ein
gesellschaftliches System ist, das durch seine
eigenen inneren Widersprüche dem Tode geweiht ist;
und die Widersprüche, die die Welt 1914 in die
Schrecken des Ersten Weltkrieges gestürzt hatten,
sind dieselben, die heute die Welt mit einem
beschleunigten Fall in die Barbarei bedrohen. Der
Widerspruch zwischen dem Bedürfnis nach einer den
Planeten überspannenden Planung von Produktion und
Verteilung sowie der Spaltung der Welt in
konkurrierende Nationalstaaten steckt hinter den
großen imperialistischen Kriegen und Konflikten des
20. Jahrhunderts. Er steckt auch hinter den
chaotischen, militärischen Konfrontationen, die
ganze Regionen in Nahost, Afrika und darüber hinaus
ruinieren; Derselbe Widerspruch - der nur den
Zusammenstoß zwischen vergesellschafteter
Produktion und ihrer privaten Aneignung zum
Ausdruck bringt - ist untrennnbar verknüpft sowohl
mit den ökonomischen Erschütterungen, die den
Kapitalismus von 1929 bis 1973 und 2008 geschüttelt
haben, als auch mit der sich beschleunigenden
ökologischen Zerstörung, die die eigentliche
Grundlage für das Leben auf der Erde bedroht.
1919 verkündeten
die Revolutionäre, die in Moskau zusammenkamen, um
die Dritte, die Kommunistische Internationale zu
gründen, dass der imperialistische Krieg von
1914-18 den Eintritt des Weltkapitalismus in die
Epoche seiner Vergreisung und seines Niedergangs
signalisiert habe, in eine Epoche, in der die
Menschheit die Wahl zwischen Sozialismus und
Barbarei hat. Sie sahen voraus, dass, falls der
Kapitalismus nicht durch die proletarische
Weltrevolution gestürzt wird, es Kriege geben
würde, die noch verheerender sein werden als jener
von 1914-18, sowie Formen der kapitalistischen
Herrschaft, die monströser sein würden als alle
bisherigen. Und mit der Niederlage der
internationalen revolutionären Welle, mit den
Konsequenzen der Isolation und Degeneration der
Revolution in Russland erwiesen sich diese
Vorhersagen als nur zu richtig: die Schrecken des
Nazismus, des Stalinismus und des Zweiten
Weltkrieges waren in der Tat schlimmer als alles,
was ihnen vorausgegangen war.
Es trifft zu, dass
der Kapitalismus die Revolutionäre wiederholt mit
seiner Widerstandsfähigkeit, mit seiner Fähigkeit
überrascht hat, neue Wege des Überlebens und gar
des Wohlstands zu finden. Dem Zweiten Weltkrieg
folgten mehr als zwei Jahrzehnte des
Wirtschaftsbooms in den zentralen kapitalistischen
Ländern, auch wenn er von der Gefahr der nuklearen
Auslöschung durch die beiden, die Welt
beherrschenden imperialistischen Blöcke begleitet
wurde. Nachdem dieser Boom einer neuerlichen und
sich länger hinziehenden Wirtschaftskrise Ende der
1960er Jahre gewichen war, wartete der Kapitalismus
Ende der 80er Jahre mit einer neuen Formel auf, die
es ihm nicht nur ermöglichte, weiter zu überleben,
sondern ihm gar erlaubte, in Gebiete zu
expandieren, die zuvor "unterentwickelt" waren,
Gebiete wie Indien und China. Doch genau diese
Entwicklung, die zu einem großen Teil von massiven
Kreditspritzen angetrieben wurde, häufte enorme
ökonomische Probleme für die Zukunft auf (für die
bereits der Finanzcrash von 2008 als Warnung
steht). Gleichzeitig hat das Wachstum der letzten
wenigen Jahrzehnte einen fürchterlichen Tribut von
der natürlichen Umwelt eingefordert und keineswegs
die Gefahr militärischer Konflikte vermindert. Die
Drohung eines Weltkrieges zwischen zwei
gigantischen Blöcken mag zurückgegangen sein, aber
heute sind mehr Länder denn je mit Nuklearwaffen
ausgestattet, und die Stellvertreterkriege zwischen
den Großmächten, die einst mehr oder weniger auf
die weniger entwickelten Regionen beschränkt waren,
haben nun, durch die Häufung terroristischer
Gewalttaten in Europa und Amerika und die Wellen
verzweifelter Flüchtlinge auf der Flucht vor den
albtraumhaften Kriegen im Mittleren Osten und in
Afrika, direkte Auswirkungen auf die zentralen
Länder selbst. Das Überleben des Kapitalismus ist
mehr denn je unvereinbar mit dem Überleben der
Menschheit.
Kurz und gut, die
Revolution ist heute noch notwendiger als 1917; sie
ist die letzte Hoffnung der Menschheit angesichts
eines im kompletten Zerfall befindlichen
Gesellschaftssystems. Es kann nur eine globale
Revolution sein, die das kapitalistische System vom
Planeten fegen und durch eine weltweite menschliche
Gemeinschaft ersetzen kann, welche die Erde zu
einem "gemeinsamen Schatz" macht und die Produktion
sowie die Verteilung von den unmenschlichen
Forderungen des Marktes und des Profits befreit.
Das war schon das Geheimnis der Revolution 1917,
die nicht bloß eine "russische" war, sondern von
ihren Protagonisten lediglich als der erste Schlag
der Weltrevolution begriffen wurde; Sie war in der
Tat ein unerlässlicher, aktiver Faktor in den
Massenstreiks und Erhebungen, die sich in einer
großen Welle zwischen 1917 und 1923 über die Welt
verbreiteten.
Macht die
Revolution alles schlimmer?
Das Problem
bleibt: Wenn eine neue Gesellschaft notwendig ist,
ist sie denn überhaupt möglich? Und in der Tat
besteht eine zweite Angriffslinie
gegen das Andenken des Oktobers 1917 in der
Behauptung, dass die Revolution alles nur noch
schlimmer macht.
Als Beweis dafür
soll dienen, dass die Russische Revolution im
stalinistischen Gulag endete: in Massenterror,
Schauprozessen, Geschichtsfälschung, Unterdrückung
Andersdenkender; dass sie Volkswirtschaften schuf,
die zwar militärische Güter am Fließband
produzieren konnten, die aber unfähig waren,
angemessene Konsumgüter zu liefern; dass sie eine
"Diktatur des Proletariats" errichtete, die Panzer
einsetzte, um proletarische Revolten zu
zerschmettern, wie 1953 in Ostdeutschland, 1956 in
Ungarn oder 1981 in Polen.
All dies kam nicht
aus heiterem Himmel nach dem Tod Lenins und mit
Stalins Aufstieg an die Macht. Schon zu Lenins
Lebzeiten wurden Arbeiterstreiks und Rebellionen
mit bewaffneten Kräften und der unkontrollierten
Gewalt der Tscheka begegnet, die viele Opfer in der
Arbeiterklasse und unter den Bauern forderte. Schon
zu Lenins Lebzeiten haben die Sowjets (die
Arbeiterräte) zunehmend aufgehört, irgendeine reale
Kontrolle über den Staat auszuüben; die Diktatur
des Proletariats war größtenteils durch die
Diktatur der bolschewistischen Partei ersetzt
worden.
Jene, die es ernst
meinen mit der Möglichkeit der Revolution, haben
kein Interesse daran, die Wahrheit zu verheimlichen
oder die Unermesslichkeit der Aufgabe zu
minimieren, der sich eine Arbeiterklasse
gegenübersieht, die die Kühnheit besitzt, das
kapitalistische System zu konfrontieren und
umzustürzen. Eine Revolution zu machen heißt, den
Unrat von Jahrhunderten abzuschütteln - all die
Wahnvorstellungen und schlechten Gewohnheiten, die
wir nicht nur von der kapitalistischen Gesellschaft
und ihrer Ideologie, sondern von Jahrtausenden der
Klassenherrschaft geerbt haben. Sie erfordert eine
gewaltige physische, moralische und intellektuelle
Anstrengung, die nicht nur darauf abzielt, das alte
Regime, seinen Staat und seine Ökonomie aufzulösen,
sondern auch neue Gesellschaftsverhältnisse zu
erschaffen, die nicht mehr auf Konkurrenz und
Ausschluss basieren, sondern auf Solidarität und
Kooperation, und all dies auf dem gesamten
Planeten. Das bloße Ausmaß des Projekts, seine
scheinbare Unmöglichkeit ist zu einem weiteren
Faktor in den aktuellen Schwierigkeiten der
Arbeiterklasse beim Prozess ihrer Bewusstwerdung
geworden. Es ist weitaus leichter, sich in die
Passivität zurückzuziehen oder - für jene, die
weiterhin davon überzeugt sind, dass das
gegenwärtige System zutiefst geschädigt ist - nach
"leichteren" Alternativen Ausschau zu halten, die
von populistischen Kraftmeiern, vom nihilistischen
Terrorismus, der als "Dschihad" posiert, oder von
den "linken" Parteien geboten werden, die
behaupten, dass der existierende Staat eine
sozialistische Gesellschaft einleiten könne.
Wir weichen der
Realität der Russischen Revolution, ihren
fürchterlichen Schwierigkeiten und ihren tragischen
Irrtümern nicht aus. Wir werden zu gegebener Zeit
auf einige dieser Irrtümer zurückkommen. Doch bevor
wir zur Schlussfolgerung gelangen, die von der
konventionellen Geschichtsschreibung angeboten wird
- dass sich der Bolschewismus von Anbeginn nicht
vom Stalinismus unterschieden habe, dass jeglicher
Versuch, den existierenden Zustand zu kippen,
unvermeidlich in Massenterror und Repression ende
oder dass die menschliche Natur so konstituiert
sei, dass die heutige, kapitalistische Gesellschaft
die beste sei, auf die wir hoffen können -, möchten
wir daran erinnern, dass 1917 die herrschende
Klasse nicht der Einfachheit halber auf die
Selbstsucht der menschlichen Natur setzte und
solange wartete, bis alles schief ging, um dann zu
spotten: 'Ich hab's ja gesagt'. 1917 und in den
folgenden Jahren nahm die herrschende Klasse der
gesamten Welt die Gefahr einer Revolution in der
Tat sehr ernst und tat alles, um sie zu
unterdrücken. Angesichts des Ausbruchs der
deutschen Revolution 1918 beeilte sie sich, den
Krieg zu beenden, um eine der Hauptantriebskräfte
hinter den Massenstreiks und Meutereien zu
entfernen; zusätzlich eilten die Alliierten ihrem
früheren Feind - der herrschenden Klasse des
Deutschen Reichs - bei seinen Bemühungen zu Hilfe,
die revolutionären Arbeiter_innen, Matrosen und
Soldaten niederzuschlagen, die versucht hatten, dem
Beispiel des Oktoberaufstandes nachzueifern. Im
Angesicht der Sowjetmacht in Russland
intervenierten beide Seiten des imperialistischen
Krieges mit dem Ziel, die bolschewistische Gefahr
mitsamt ihren Wurzeln auszurotten. Jene, die die
Sowjetmacht im von den konterrevolutionären Kräften
angezettelten Bürgerkrieg in Russland
verteidigten, mussten nicht nur die heimischen
"Weißen" Armeen bekämpfen, sondern auch die von den
Briten, den Amerikanern, den Japanern, den
Deutschen und von anderen entsandten
Expeditionsheere, die die Weißen zudem mit Waffen
und Beratern versorgten. Der Bürgerkrieg, der von
einer Wirtschaftsblockade noch verschärft wurde,
die von den westlichen Alliierten erzwungen wurde,
als die Sowjetrepublik sich aus dem Krieg
zurückgezogen hatte, brachte die russische
Volkswirtschaft - bereits von drei Kriegsjahren
ausgezehrt - an den Rand des Ruins und mündete in
schlimmen Engpässen und ausgesprochenen
Hungersnöten. Die Bürgerkriegsbedingungen
schwächten auch die Hochburgen der
Industriearbeiterklasse, die die aktivste Kraft
hinter der Revolution waren, da viele ihrer
entschlossensten Mitstreiter freiwillig an die
Front gingen und unzählige von ihnen ihr Leben
ließen, während viele andere Arbeiter_innen kaum
eine andere Wahl hatten, als vor dem Verhungern aus
den Städten zu fliehen und auf dem Lande nach
Lebensmittel zu suchen. Inner- wie außerhalb
Russlands richtete sich ein ständiger
Propagandastrom gegen die Bolschewiki, die als
Kindesmörder und Frauenvergewaltiger dargestellt
wurden, wobei häufig auf antisemitische Themen
zurückgegriffen wurde, die beinhalteten, dass die
Bolschewiki nichts anderes als das Werkzeug einer
jüdischen Weltverschwörung seien.
Tatsächlich
betrachteten viele Politiker der "demokratischen"
Mächte - einschließlich Winston Churchill in
Großbritannien - das faschistische Regime in
Italien (und später in Deutschland) als ein
notwendiges Übel, solange man sich darauf verlassen
konnte, dass es sich gegen die bolschewistische
Flut stemmt. Auch als die UdSSR unter Stalin danach
trachtete, sich dem "Konzert der Nationen"
anzuschließen, war eine Reihe von bürgerlichen
Politikern und Staaten in der Lage, in Stalin
jemand zu sehen, 'mit dem man ins Geschäft kommen
kann', und zu verstehen, dass seine Politik des
"Sozialismus in einem Land" bedeutete, dass er
nicht mehr an der Weltrevolution interessiert - und
faktisch dagegen war. Diese Akzeptanz der UdSSR im
imperialistischen Konzert wurde durch ihre
Beteiligung am Zweiten Weltkrieg auf alliierter
Seite untermauert.
Dies war die
aufschlussreichste Demonstration, dass der
Stalinismus nicht die Fortsetzung des Bolschewismus
war, sondern sein Totengräber.
1914-18 stand der
Bolschewismus für die revolutionäre Opposition zum
imperialistischen Krieg sowie für den Klassenkampf
gegen alle kriegführenden Staaten. 1941 hielt die
stalinistische UdSSR - nach einem vorübergehenden
Pakt mit Nazi-Deutschland - die Fahne des "Großen
Vaterländischen Krieges" hoch und nahm nach seiner
Beendigung an der imperialistischen Aufteilung des
Globus teil.
Die große Lüge:
"Stalinismus gleich Kommunismus"
Der Stalinismus
war folglich nicht das Produkt der Revolution,
sondern das Resultat ihrer Isolation und
Niederlage. Um 1923 war der internationale
revolutionäre Flächenbrand, der von der
Oktobererhebung entfacht worden war, erloschen, was
der bürokratischen Schicht, die in der
bolschewistischen Partei an Stärke gewonnen hatte,
die notwendige Munition verschaffte, um zu
argumentieren, dass nicht mehr die Weltrevolution,
sondern der Aufbau des Sozialismus in der UdSSR
oberste Priorität sei. Doch dies bedeutete, der
marxistischen Vorstellung, dass der Sozialismus nur
auf Weltebene errichtet werden kann und dass
isolierte Vorposten des Sozialismus eine
Unmöglichkeit sind, den Rücken zu kehren. Und so
handelte es sich bei dem, was von den gnadenlosen
Fünfjahresplänen aufgebaut wurde, nicht um
Sozialismus, sondern um eine Form des Kapitalismus,
in dem Privatkapitalisten von einem einzigen
Staatsboss abgelöst waren. Diese Tendenz zum
Staatskapitalismus war keineswegs auf die UdSSR
beschränkt: Er war die allgegenwärtige Antwort des
Kapitalismus auf Krieg und Wirtschaftskrisen und
nahm diverse Formen an: Faschismus in Italien und
Deutschland, New Deal in den USA,
keynesianischer Wohlfahrtsstaat nach dem Zweiten
Weltkrieg, Militärdiktaturen in vielen der
schwächeren Länder. Das Besondere an der UdSSR war,
dass hier das Streben zum Staatskapitalismus seine
konzentrierteste, extremste Form annahm, ein
Resultat aus der praktischen Eliminierung (entweder
durch Flucht oder durch Enteignung) der
Privatkapitalisten in der Revolution; und dass das
stalinistische Regime - da die Konterrevolution
innerhalb des Staates heranwuchs, der aus der
Revolution entstanden war, der aber die
bolschewistische Partei sich einverleibte und sie
nahezu ununterscheidbar vom Staat machte - für den
Rest seiner Tage in der Lage war zu behaupten, in
Kontinuität zu jener Oktoberrevolution zu stehen,
die es unter Stapeln von Leichen begraben hatte.
Diese falsche
Gleichsetzung von Staat und Partei verlieh den
stalinistischen Parteien außerhalb Russlands einen
radikalen Anstrich, mit dem auch sie ihre totale
Hingabe für den Kapitalismus und für die nationalen
Interessen ihrer jeweiligen Länder mit Referenzen
zum Roten Oktober kaschieren konnten. Doch vor
allem verschaffte sie den wichtigsten Fraktionen
der herrschenden Klasse im Westen einen Freibrief,
um die größte Lüge in der Geschichte zu verbreiten:
dass das stalinistische Regime das Gleiche sei wie
"Kommunismus".
Die
Grenzenlosigkeit dieser Lüge kann ermessen werden,
wenn man das stalinistische Regime mit dem
Verständnis dessen vergleicht, was Kommunismus
wirklich bedeutet und was zumindest seit den Tagen
von Marx und Engels innerhalb der Arbeiterbewegung
vertreten worden war. Für sie wie für jene, die in
ihrem Sog folgten, bedeutete Kommunismus die
Überwindung von Jahrtausenden der menschlichen
Entfremdung, von jeglicher Gesellschaftsordnung, in
der die eigenen Schöpfungen zu feindlichen Kräften
gegen die Menschheit geworden sind, die ihr Leben
beherrschen. Auf der politischen Ebene bedeutet
Kommunismus eine Gesellschaft ohne Staat, da der
Staat eben der Ausdruck der Herrschaft der einen
Klasse über eine andere und somit eines politischen
Apparates ist, über den die breite Mehrheit keine
Kontrolle besitzt. Dabei war das stalinistische
Regime der Inbegriff der totalen Herrschaft des
Staates über das Individuum, über die Gesellschaft
und vor allen Dingen über die Arbeiterklasse. Auf
ökonomischer Ebene bedeutet Kommunismus, dass die
Menschheit nicht mehr das Subjekt unmenschlicher,
ökonomischer Gesetzmäßigkeiten, der gnadenlosen
Anforderungen des Profits und des Marktes ist. Und
dies heißt, dass es im Kommunismus keinen Platz für
Geld, für den Markt oder für Lohnarbeit gibt.
Dagegen wurde die totalitäre Gewalt des
stalinistischen Staates, des gesamten, von der
Rüstungsproduktion beherrschten wirtschaftlichen
Gebäudes auf dem Mehrwert errichtet, der der Klasse
der Lohnarbeiter_innen entzogen wurde. Das Kapital
ist in seinem Kern ein gesellschaftliches
Verhältnis, nicht bloß eine Form des legalen
Eigentums. Für den/die Lohnarbeiter_in macht es
keinen Unterschied, ob seine oder ihre Arbeitskraft
an einen Privatunternehmer oder an einem
Staatsbürokraten verkauft wird: Die Grundlagen der
kapitalistischen Ausbeutung bleiben bestehen. Und
während der Kommunismus das Ende der Spaltung der
Menschheit in unterschiedliche Nationen, die
Abschaffung der Grenzen bedeutet, waren die
stalinistischen Regimes die fanatischsten
Lieferanten von nationalistischen Ideologien und
der Verteidigung ihrer nationalen Grenzen und somit
der imperialistischen Interessen auf der Weltbühne
völlig ergeben.
Doch wenn die
Behauptung, welche Stalinismus mit Kommunismus
gleichsetzt, solch eine große Lüge war, wie konnte
sie so lange aufrechterhalten werden? Zunächst
einmal war es im Interesse beider Garnituren von
Herrschern, im Osten wie im Westen, sie am Laufen
zu halten. Bei all ihren Verbrechen gegen die
Menschheit und gegen die Arbeiterklasse
insbesondere hing die Herrschaft der stalinistische
Staatsbourgeoisie von der Proklamierung ihrer
"Kontinuität" mit der Oktoberrevolution ab. Der
Gedanke, dass sie "sozialistische" Staaten im
Übergang zum Kommunismus gewesen seien, verschaffte
diesen Regimes ihre ideologische Rechtfertigung.
Hierin wurden die Stalinisten von "links" durch die
Trotzkisten bejubelt, die unbeirrt argumentierten,
dass diese Regimes zwar degeneriert oder
deformiert, aber immer noch Arbeiterstaaten seien,
die die Arbeiter_innen verteidigen sollten.
Umgekehrt blieb für viele Arbeiter_innen im Westen,
für jene, die keinesfalls von den Sozialleistungen
des Kapitalismus in seiner "demokratischen" Form
überzeugt waren, die Idee, dass es irgendwo auf
diesem Planeten eine aktuelle Alternative zum
Kapitalismus gibt, eine wichtige Quelle der
Zuversicht. Die stalinistischen Regimes waren in
der Tat kapitalistisch, doch gerade weil sie solch
eine entstellte Form des Kapitalismus waren,
erschienen sie vielen als Repräsentanten einer
anderen Gesellschaftsform.
Für den weitaus
größeren Teil der Bevölkerung im Westen jedoch -
und faktisch für die Mehrheit der Arbeiterklasse
innerhalb der stalinistischen Regimes selbst - war
die Idee, dass die UdSSR und ihre Satelliten
sozialistisch oder kommunistisch seien, der
ultimative Beweis, dass die westliche Variante des
Kapitalismus das einzig mögliche System war, das
sich zu verteidigen oder anzustreben lohnte. Mit
anderen Worten, das Elend, die Kriegswirtschaft und
Repression, die die stalinistischen Regimes
kennzeichneten, demonstrierten, dass es unmöglich
sei, den Kapitalismus durch eine höhere
Gesellschaftsform abzulösen. Die kapitalistische
Konkurrenz, das Verlangen, grenzenlosen Reichtum
anzuhäufen, wurde als Kern der menschlichen Natur
gerechtfertigt. Daher war die herrschende Klasse im
Westen so teilnahmsvoll bei ihrer Beschreibung
ihres Gegners im Osten als sozialistisch oder
kommunistisch, und als die östlichen Regimes Ende
der 80er Jahre kollabierten, wurde die Lüge, dass
dies der endgültige Beweis für das Scheitern des
Marxismus und Kommunismus sei, in ohrenbetäubenden
Kampagnen in der ganzen Welt verstärkt, deren Echo
noch längst nicht verhallt ist. Diese Kampagnen
haben eine beträchtliche Konfusion und Unordnung in
den Reihen der Arbeiterklasse erzeugt, die bereits
in den 80er Jahren äußerste Schwierigkeiten hatte,
eine Perspektive zu entwickeln, ein historisches
Projekt, das ihre unmittelbaren Kämpfe auf ein
höheres und einheitlicheres Niveau hätte heben
können. Der weit verbreitete Gedanke, dass es
nichts über die gegenwärtige Gesellschaft
Hinausgehendes gibt, hat der Kapazität der
Arbeiterklasse, ihre Kämpfe zu politisieren und das
kapitalistische System insgesamt zu konfrontieren,
einen sehr schweren Schlag versetzt.
Zur
Verteidigung des Roten Oktobers
Eine
Schlüsselkomponente in der Verunglimpfung der
Russischen Revolution ist die Idee, dass die
Oktobererhebung nichts anderes als ein
Staatsstreich durch die machthungrige,
bolschewistische Partei gewesen sei, die sich
schnell ans Werk gemacht habe, einen totalitären
Staat, den Vorläufer des stalinistischen Regimes,
zu etablieren. Natürlich mag in dieser
Geschichtsversion große Sympathie und viel
Verständnis für die Arbeiter_innen gezeigt werden,
die im Februar 1917 sich in spontanen Massenstreiks
engagiert und die "demokratischen" Sowjets
gegründet hatten. Diese Bewegung jagte die
zaristische Autokratie davon und hätte in den Augen
von angesehenen Historikern wie Orlando Figes den
Boden für die Entstehung eines echten
demokratischen Staates bereiten können, was
seinerseits Russland Jahrzehnte des Leids und
Terrors erspart hätte. Doch die hinterhältigen
Bolschewiki hätten diese glänzenden Aussichten mit
ihrem Dogma der "Diktatur des Proletariats"
sabotiert und die Massen mit ihren demagogischen
Schlachtrufen getäuscht.
Was aber geschah
wirklich zwischen Februar und Oktober 1917?
Zunächst einmal
gab es ein tiefgreifendes politisches Erwachen der
Arbeiterklasse und aller unterdrückten Schichten -
ein Prozess, der sehr gut von John Reed in seinem
Buch Zehn Tage, die die Welt erschütterten
festgehalten wurde:
"Ganz Rußland
lernte lesen. Und es las - Politik, Ökonomie,
Geschichte. Das Volk wollte Wissen
(...) Der Drang nach Wissen, solange unterdrückt,
brach sich in der Revolution mit Ungestüm Bahn.
Allein aus dem Smolny-Institut gingen in den ersten
Monaten täglich Tonnen, Wagenladungen Literatur ins
Land. Rußland saugte den Lesestoff auf,
unersättlich, wie heißer Sand das Wasser (...) Und
dann das gesprochene Wort, neben dem Carlyles 'Flut
der französischen Rede' wie ein armseliger Rinnsal
anmutet: Vorlesungen, Debatten, Reden; in Theatern,
Zirkussen, Schulen Klubs, in den Sitzungen der
Sowjets, der Gewerkschaften, in den Kasernen...
Versammlungen in den Schützengräben an der Front,
auf den Dorfplätzen, in den Fabriken... Was für ein
Anblick, die Arbeiter der Putilow-Werke,
vierzigtausend Mann stark, herausströmen sehen, um
die Sozialdemokraten zu hören, die
Sozialrevolutionäre, die Anarchisten - wer immer
was zu sagen hatte, so lange er reden wollte.
Monate hindurch war in Petrograd, in ganz Rußland
jede Straßenecke eine öffentliche Tribüne. In den
Eisenbahnen, in den Straßenbahnwagen, überall
improvisierte Debatten, überall (...) In den
Versammlungen wurde jeder Versuch, die Redezeit
einzuschränken, abgelehnt. Jedermann hatte
vollkommene Freiheit, auszusprechen, was er auf dem
Herzen hatte..." (Kap. 1, "Hintergrund")
Genau das ist mit
der Politisierung des Klassenkampfes gemeint.
Arbeiter_innen, die von furchtbaren
wirtschaftlichen Zwängen vorwärtsgepeitscht werden,
sind gezwungen, die Frage zu stellen, wie die
Gesellschaft in ihrer Gesamtheit verwaltet wird.
Und nicht durch die Fake-Demokratie des
parlamentarischen Systems, die die Arbeiter_innen
alle paar Jahre dazu "ermächtigt", sich Experten
und Berufspolitikern auszuliefern, die "in ihrem
Auftrag" regieren, sondern durch die proletarischen
Methoden der Assoziation, der Debatte und
Selbstorganisation - in Gestalt eines ganzen
Netzwerkes von Versammlungen an den Arbeitsplätzen,
in den Nachbarschaften, in den Regimentern, in den
Dörfern, Versammlungen, die mandatierte und
jederzeit abwählbare Delegierte in die zentralen
Räte, die Sowjets entsenden. 1917 hatte solch ein
Netzwerk, das innerhalb nicht einmal eines Jahres
überall in Russland aus dem Boden geschossen war,
zur Bildung ähnlicher Organe überall auf der Welt
angeregt. In diesen Versammlungen und Räten fand
ein tiefgehender Reifungsprozess statt, eine
Konfrontation zwischen jenen, die weiterhin den
Parteien und Ideologien des alten Systems anhingen
(einschließlich vieler, die sich noch immer
Sozialisten nannten), und jenen, die dafür standen,
die Revolution bis zu ihrem logischen Schluss zu
führen: keine Auslieferung an ein Parlament, das
von bürgerlichen Parteien beherrscht wird, sondern
die Auflösung einer in sich selbst instabilen
Situation der "Doppelherrschaft" durch die
alleinige Übernahme der politischen Macht durch die
Sowjets. Die Schlachtrufe der Bolschewiki - vor
allem die Notwendigkeit, den Krieg zu beenden, der
eine fürchterliche Not in der Arbeiterklasse und
unter den Kleinbauern verursachte - stimmten mit
dem wachsenden Bewusstsein der Mehrheit überein,
dass die bürgerlichen Politiker und Parteien nicht
mit der Politik der "nationalen Verteidigung"
brechen würden und konnten; und dass angesichts der
Gefahr von unten diese Fraktionen eine offene
Diktatur der Bourgeoisie vorziehen würden, selbst
wenn dies die Unterdrückung der Sowjets bedeutete.
Die Mittäterschaft der "Demokraten" beim
Putschversuch von Kornilow im August 1917 und die
fortgesetzten Versuche der Provisorischen
Regierung, die "Ordnung wiederherzustellen",
überzeugten viele davon, dass die einzige Wahl die
Wahl zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der
Diktatur des Proletariats war.
Der
Oktoberaufstand war in der Tat der Höhepunkt dieses
ganzen Politisierungsprozesses. Er entsprach einem
wachsenden Einfluss der Bolschewiki und anderer
revolutionärer Gruppen in den Sowjets in ganz
Russland, einer wachsenden Forderung, dass die
Provisorische Regierung gestürzt und von der
Sowjetmacht ersetzt werden sollte. Doch sie
spiegelte auch eine reale Entwicklung der
Selbstorganisation und Zentralisierung wider. Die
Tatsache, dass der Aufstand eine geplante,
koordinierte Aktion war, die namentlich in
Petrograd mit einem Minimum an Gewalt vonstatten
ging und zum größten Teil von gut organisierten
Kommandos von Arbeitern und Matrosen ausgeführt
wurde, die Tatsache, dass er unter dem
allgegenwärtigen Kommando eines Organs des
Petrograder Sowjets - dem Revolutionären
Militärkomitee - geschah, und die Tatsache, dass er
schnell dem All-Russischen Kongress der Sowjets
ermöglichte, sich selbst zur obersten Macht im Land
zu erklären, all dies demonstrierte, dass der
Aufstand kein Putsch war, dass im Gegenteil die
russische Arbeiterklasse die praktische Wahrheit
der Worte Marx' gelernt hatte, wonach "der Aufstand
eine Kunst ist".
"Demonstrationen, Straßenkämpfe, Barrikaden, alles,
was in den gewohnten Begriff des Aufstandes fällt,
gab es fast nicht: die Revolution hatte nicht
nötig, die bereits gelöste Aufgabe zu lösen. Die
Eroberung des Regierungsapparates ließ sich
planmäßig durchführen, mit Hilfe verhältnismäßig
weniger, von einem Zentrum aus geleiteter
bewaffneter Abteilungen (...) Die Ruhe in den
Oktoberstraßen, das Fehlen von Massen und Kämpfen
gaben den Gegnern Anlaß, von Verschwörung einer
verschwindenden Minderheit, vom Abenteuer eines
Häufleins Bolschewiki zu sprechen (...) In
Wirklichkeit konnten die Bolschewiki im letzten
Moment den Kampf um die Macht auf eine
'Verschwörung' beschränken, nicht weil sie eine
kleine Minderheit waren, sondern im Gegenteil, weil
sie in den Arbeitervierteln und eine erdrückende,
geschlossene, organisierte und disziplinierte
Mehrheit hinter sich hatten." (Trotzki,
Die Geschichte der Russischen Revolution, Kap.
23, "Der Oktoberaufstand")
Als sie die
Regierung der Bourgeoisie in Russland stürzte,
profitierte die Arbeiterklasse von einer ziemlich
schwachen, gespaltenen und unerfahrenen
kapitalistischen Klasse. Die deutsche Bourgeoisie
zeigte sehr schnell, dass sie ein weitaus
beeindruckenderer Gegner war; und es trifft
sicherlich zu, dass in einer jeglichen zukünftigen
Revolution die Arbeiterklasse es mit einer noch
raffinierteren herrschenden Klasse zu tun haben
wird, der ein durchorganisierter staatlicher und
ideologischer Apparat zur Verfügung steht. Dennoch
ist der Oktoberaufstand bis heute der höchste
Punkt, der im proletarischen Klassenkampf je
erreicht wurde - ein Ausdruck der Fähigkeit der
Arbeiter_innen, sich massenhaft zu organisieren,
sich ihrer Ziele bewusst zu sein, das
Selbstvertrauen zu haben, um die Zügel des
gesellschaftlichen Lebens in die Hand zu nehmen. Er
war die Antizipation dessen, was Marx "das Ende der
Vorgeschichte" nannte, aller Bedingungen, unter
denen die Menschheit auf Gedeih und Verderb
unbewussten gesellschaftlichen Kräften ausgeliefert
ist; die Antizipation einer Zukunft, in der zum
ersten Mal die Menschheit entsprechend ihrer
eigenen Bedürfnisse und Zwecke ihre eigene
Geschichte machen wird.
Die Notwendigkeit
einer Klassenpartei
In den Debatten
innerhalb der bolschewistischen Partei in der Zeit
unmittelbar vor der Erhebung wies Lenin, zunehmend
ungeduldig angesichts des Hin und Hers innerhalb
der Sowjets (und auch in der Partei), auf die
Möglichkeit hin, dass der Aufstand im Namen der
bolschewistischen Partei ausgeführt werden könne,
die mittlerweile eine effektive Mehrheit in den
führenden Sowjets gewonnen hatte. Doch Trotzki
widersprach und beharrte darauf, dass der Aufstand
das Werk eines Organs sein sollte, das den Sowjets
, das heißt, den Organisationen der Arbeiterklasse
insgesamt gegenüber rechenschaftspflichtig ist. In
dieser Debatte lag der Beginn der Erkenntnis, dass
die Machtübernahme nicht die Aufgabe der Partei
ist. Wir werden später darauf zurückkommen. Doch
was die stürmische Entwicklung des
Klassenbewusstseins zwischen Februar und Oktober
mit Sicherheit bewies, war, dass eine proletarische
Revolution ohne die entschlossene Intervention und
die politische Führung, die eine kommunistische
Partei bietet, nicht erfolgreich sein kann.
Das
Klassenbewusstsein einer ausgebeuteten Klasse kann
in der bürgerlichen Gesellschaft nie homogen sein.
Es wird stets jene geben, die kämpferischer,
widerstandsfähiger gegenüber der Penetration der
dominanten Ideologie und bewusster über den
historischen Klassenkampf und seine Lehren sind. Es
ist die spezifische Aufgabe einer kommunistischen
Organisation, die klarsichtigsten Elemente der
Klasse um ein stichhaltiges Programm herum zu
sammeln, dieses Programm zu vertreten, welcher
Bewusstseinsgrad in der Klasse insgesamt auch immer
herrschen mag. Dies bedeutet nicht, dass die
kommunistische Organisation im Besitz einer
unfehlbaren Wahrheit ist: Das kommunistische
Programm stützt sich auf die theoretische
Ausarbeitung der realen Lehren der Geschichte und
wird ständig durch neue Erfahrungen und Debatten
innerhalb der Arbeiterbewegung bereichert. Es kann
durchaus Phasen geben - wie während der Russischen
Revolution, als Lenin selbst anmerkte, dass sich
die fortgeschrittenen Arbeiter_innen der
Parteilinken anschlossen -, in denen die Partei
neuen Fortschritten im Klassenbewusstsein
hinterherhinkt. Doch dies heißt nur, dass der Kampf
gegen die Ideologie der herrschenden Klasse
innerhalb der kommunistischen Organisation so wie
innerhalb der gesamten Klasse stattfinden muss: In
der Tat kann gesagt werden, dass es eben solche
Momente sind, in denen die kommunistische
Organisation ihre Rolle als lebenswichtiges Labor
für die Entfaltung von Klassenbewusstsein enthüllt.
Solch ein Moment
fand in der bolschewistischen Partei im Anschluss
an die Februarrevolution statt. Eine Mehrheit der
"alten Bolschewiki" innerhalb Russlands nahm,
fortgerissen von der demokratischen Euphorie, die
der Abdankung des Zaren folgte, eine offen
opportunistische Position ein, als sie die
Provisorische Regierung kritisch unterstützte, und
setzte die Kriegsbeteiligung fort, die nun als
defensiv und nicht mehr imperialistisch auf Seiten
Russlands bezeichnet wurde. Diese Position stellte
drei Jahre der entschlossenen,
internationalistischen Opposition gegen den Krieg
in Frage, die die Bolschewiki an die Spitze der
internationalistischen, sozialistischen Bewegung
katapultiert hatte. Doch das proletarische Leben
der Partei war, wenn auch bedroht, noch längst
nicht ausgehaucht. Nach seiner Rückkehr nach
Russland im April ließ Lenin - dabei auf die
Radikalisierung der militantesten Sektoren der
Klasse setzend - die Partei bis in ihre Fundamente
erzittern, als er die "Aprilthesen" vorstellte, die
jegliche Unterstützung der bürgerlichen
Provisorischen Regierung und jegliche Beteiligung
am imperialistischen Krieg ablehnte sowie die
Arbeiter_innen und armen Bauern dazu aufrief, sich
auf den unvermeidlichen, nächsten Schritt im
revolutionären Prozess vorzubereiten: den Transfer
der Macht an die Sowjets und die Klasse in ihrer
Gesamtheit, was ein Signal für die Weltrevolution
gegen das globale imperialistische System wäre. Für
diese Position, begriff Lenin, müsste innerhalb der
Partei, und durch die Partei innerhalb der Sowjets
insgesamt, nicht durch abenteuerliche Aktionen,
sondern durch geduldige Aufklärung, durch eine
politische Auseinandersetzung um Klarheit gekämpft
werden.
„Solange wir
in der Minderheit sind, besteht unsere Arbeit in
der Kritik und Klarstellung der Fehler, wobei wir
gleichzeitig die Notwendigkeit des Übergangs der
gesamten Staatsmacht an die Sowjets der
Arbeiterdeputierten propagieren, damit die Massen
sich durch die Erfahrung von ihren Irrtümern
befreien.“ (These 4)
Durch die
Ausführung dieser Arbeit der "geduldigen
Aufklärung" war die bolschewistische Partei (sobald
sie gegenüber Lenins Position eingelenkt hatte) im
Zuge der heranreifenden Krise in Russland und der
wachsenden Desillusionierung der Arbeiter_innen und
Bauern über die falschen Versprechungen der
Provisorischen Regierung in der Lage, die
Entwicklung des Klassenbewusstseins entscheidend zu
beschleunigen. Die Geduld der Partei erwies sich
besonders in den Juli-Tagen als bedeutsam, als eine
Minderheit von Arbeiter_innen und Matrosen in
Petrograd der Gefahr anheimfiel, auf die
bürgerlichen Provokationen hereinzufallen und zu
einem Zeitpunkt auf eine Machtergreifung zu
drängen, als ihr die Mehrheit der Klasse in
Russland noch nicht gefolgt wäre. Dies wäre in
einem völlig demoralisierenden Massaker an den
forgeschrittensten Arbeiter_innen gemündet - eine
Falle, die weniger als zwei Jahre später die
Berliner Arbeiter_innen und Spartakisten nicht in
der Lage waren, zu umgehen. In diesem Augenblick
versteckten sich die Bolschewiki nicht, sondern
nahmen an Arbeiterdemonstrationen teil und
erklärten, warum die Zeit noch nicht reif sei für
die Machtergreifung, eine Position, die überhaupt
nicht populär war. In den unmittelbaren
Nachwirkungen dieser Ereignisse war die Partei
Opfer einer nachhaltigen Verleumdungskampagne. Sie
wurde beschuldigt, bezahlter Agent des deutschen
Imperialismus zu sein, und war der direkten
Repression durch die Regierung ausgesetzt. Aber die
Partei überlebte nicht nur diesen zeitweiligen
Rückschlag: Sie war auch imstande, ihren Einfluss
in der Klasse durch ihre führende Rolle im Kampf
gegen den Putschversuch durch General Kornilow im
August wiederzuerlangen und ihre Präsenz in den
Sowjets im ganzen Land auszubauen. Weit entfernt
davon, die Klasse zurück zu halten, bereitete sie
so den Boden für den Augenblick vor, in dem es
notwendig war, zugunsten einer entschlossenen Tat
herauszukommen: für den Oktoberaufstand.
Diese Fähigkeit,
eine kohärente Analyse zu vertreten und an
Klassenprinzipien auch in Zeiten der Anfeindungen
festzuhalten - so wie sie es während des Krieges
getan hatten, als viele Arbeiter_innen dem Fieber
des Patriotismus nicht standgehalten hatten -,
überführt die weitverbreitete Verleumdung der Lüge,
die Bolschewiki seien nichts anderes als ein Haufen
machiavellistischer Intriganten gewesen, deren
einzige Sorge dem eigenen Machtgewinn gegolten
habe.
Die Degeneration
der Revolution und die Irrtümer der
bolschewistischen Partei
Im Anschluss an
die Niederlage der Revolution begannen einige der
revolutionären politischen Strömungen, die anfangs
die Bolschewiki und die Oktoberrevolution
unterstützt hatten - Teile der deutschen
kommunistischen Linken, internationalistische
Anarchisten - und die früh Anzeichen der
Degeneration der Revolution erblickt hatten, dieser
Idee des Oktobers als einen reinen Staatsstreich
durch machthungrige Bolschewiki Glauben zu
schenken. Der Gedanke kam auf in ihren Reihen auf,
dass die Bolschewiki bestenfalls "bürgerliche
Revolutionäre" seien und nichts zu tun hätten mit
der proletarischen Bewegung. Doch auf diese Weise
entledigten sie sich des wahren Problems, mit dem
Revolutionäre konfrontiert waren, wenn sie sich mit
dem auseinandersetzten, was in Russland geschehen
war: die Notwendigkeit zu verstehen, dass
proletarische Organisationen unter dem enormen
Druck der existierenden Ordnung und ihrer Ideologie
degenerieren, ja sogar Verrat begehen können.
Was uns angeht, so
lieferte die Spartakistin Rosa Luxemburg, die in
ihrer 1918 verfassten Broschüre über die Russische
Revolution ihre völlige Solidarität mit den
Bolschewiki gegen die blutrünstige Propaganda der
herrschenden Klasse zum Ausdruck brachte, den
besten Ansatz zu einem Verständnis der Höhen und
Tiefen der Russischen Revolution. Für sie hatten
die Bolschewiki, indem sie entscheidende Schritte
zugunsten der proletarischen Revolution und gegen
den imperialistischen Krieg eingeleitet hatten, die
Ehre des internationalen Sozialismus
wiederhergestellt, der vom Verrat des
opportunistischen Flügels der Sozialdemokratie
zutiefst beschmutzt worden war, welcher sich
zugunsten des Krieges 1914 geoutet hatte und sich
nun der Revolution mit all seiner Kraft
entgegenstemmte. Die Zukunft, schrieb sie, gehörte
dem Bolschewismus, weil der Bolschewismus, wie die
herrschende Klasse schnell verstand, für die
Weltrevolution stand. Diese Haltung hinderte
Luxemburg keineswegs daran, mit großer Schärfe und
Einsicht die sehr ernsten Fehler zu kritisieren,
die sie in der bolschewistischen Politik nach der
Machtübernahme erblickte: die Tendenz, die freie
Debatte und die politische Organisation in den
Sowjets und anderen Körperschaften einzuschränken
und gar zu unterdrücken; der Rückgriff auf den
"Roten Terror" angesichts konterrevolutionärer
Komplotte; die Zugeständnisse an den Nationalismus
in der Politik der "nationalen Selbstbestimmung"
für die betroffenen Völker im früheren russischen
Reich und so weiter. Doch verlor sie dabei nie die
Tatsache aus den Augen, dass diese Fehler im
Kontext der Isolation der Russischen Revolution
betrachtet werden müssen, ein Kontext, in dem die
kapitalistische Blockade und Invasion das Leben in
Sowjet-Russland sehr schnell auf die Bedingungen
einer belagerten Bastion reduziert hatten. Die
Überwindung dieser Lage lag ausschließlich in den
Händen der internationalen Arbeiterklasse,
namentlich der Arbeiterklasse Westeuropas, die
allein die Belagerung schwächen konnte, indem sie
für den revolutionären Sturz des Kapitalismus
außerhalb Russlands kämpfte. Später waren andere
Strömungen, vor allem die italienische
kommunistische Linke, ausgehend von Luxemburgs
Vorgehen der kritischen Unterstützung in der Lage,
Luxemburgs treffendste Kritiken weiterzutragen,
während sie jene Kritik von Luxemburg, die selbst
falsch war (wie ihre Verteidigung der
Konstituierenden Versammlung in Russland),
ablehnten. Insbesondere beharrte die italienische
Linke darauf, dass es die Aufgabe der Revolutionäre
nach der Niederlage war, eine Einsicht in alle
Lehren zu entwickeln, die nur echte, lebendige
Erfahrungen generieren konnten: Die Bolschewiki wie
auch ihre Zeitgenoss_innen in der restlichen
revolutionären Bewegung konnten nicht a priori zu
einem Verständnis von Fragen gelangen, die noch
nicht von der Wirklichkeit geprüft worden waren,
wie die Frage des Verhältnisses zwischen der Partei
und dem Übergangsstaat.
Die Erfahrung des
Scheiterns der Russischen Revolution gehört der
Arbeiterklasse, und es liegt an unserer Klasse und
ihren politischen Organisationen, die Hauptlehren
daraus zu ziehen, so dass in einer künftigen
revolutionären Bewegung nicht dieselben Fehler
wiederholt werden. Wir haben sehr ausführlich über
diese Lehren geschrieben (siehe die Lektüreliste am
Ende), doch wollen wir hier ein Schlaglicht auf die
bedeutendsten werfen:
- Nicht nur, dass
eine sozialistische Gesellschaft in einem
einzelnen Land unmöglich ist; auch eine
politische Macht des Proletariats kann
angesichts einer feindlichen kapitalistischen
Umwelt nicht lange im Alleingang überleben. Wenn
das Proletariat die Macht in einem Land
übernimmt, muss seine ganze (Wirtschafts-)Politik
der imperativen Notwendigkeit untergeordnet
werden, die Revolution über den ganzen Globus zu
verbreiten. Wenn sie sich auf ein Land oder eine
Region beschränkt, wird die Revolution
zwangsläufig entweder den Angriffen von außen
oder einer inneren Degeneration erliegen.
- Es ist nicht
die Rolle der proletarischen Partei, die Macht im
Namen der Arbeiterklasse auszuüben. Dies ist die
Aufgabe der Arbeiterräte und anderer
Massenorganisationen. Die Rätemethode der
jederzeit (ab)wählbaren Delegierten ist
unvereinbar mit der Methode des bürgerlichen
Parlamentarismus, wo die Regierungsmacht für
einige Jahre von Parteien ausgeübt wird, die die
Mehrheit in der nationalen Abstimmung erlangt
haben. Darüber hinaus opfert eine proletarische
Partei mit der Machtübernahme unverzüglich ihre
Hauptfunktion, die radikalste, kritischste Stimme
in den Massenorganisationen der Klasse zu sein.
Der Versuch der Bolschewiki, nach 1917 um jeden
Preis an der Macht festzuhalten, endete nicht nur
darin, dass sie die Sowjets ersetzten, sondern
auch in dem Niedergang und der schließlichen
Zerstörung der Partei selbst, die sich allmählich
in eine bürokratische Staatsmaschinerie
umwandelte.
- Die
proletarische Revolution setzt gegen die frühere
herrschende Klasse, die bis zum letzten
Blutstropfen kämpfen wird, um ihre Privilegien zu
bewahren, zwangsläufig Gewalt ein. Doch die
Klassengewalt des Proletariats kann nicht
Methoden wie den Staatsterror der herrschenden
Klasse benutzen. Sie zielt vor allem auf ein
gesellschaftliches Verhältnis ab und nicht auf
Personen; sie verabscheut den Rachegeist; sie
muss zu jeder Zeit der allgegenwärtigen Kontrolle
der Arbeiterräte untergeordnet werden; und sie
muss geleitet werden vom grundlegenden Prinzip
der proletarischen Moralität - dass die Mittel,
die man benutzt, mit dem Zweck vereinbar sind,
nämlich die Schaffung einer Gesellschaft, die auf
menschlicher Solidarität beruht, im Gegensatz zur
bürgerlichen Auffassung, dass "der Zweck jedes
Mittel heiligt". In diesem Sinn lag Rosa
Luxemburg mit ihrer Ablehnung des Begriffs des
Roten Terrors absolut richtig. Zwar war es
notwendig, entschlossen auf konterrevolutionären
Pläne der alten herrschenden Klasse zu antworten
und eine spezielle Organisation, die Tscheka, zu
schaffen, die ihre Unterdrückung zum Ziel hatte,
doch entglitt diese Organisation sehr schnell der
Kontrolle durch die Sowjets und neigte dazu, von
der moralischen und materiellen Korruption der
alten Gesellschaftsordnung befallen zu werden.
Vor allem aber entwickelte sich ihre Gewalt sehr
schnell zu einem Mittel, das nicht allein gegen
die herrschende Klasse gerichtet wurde, sondern
auch gegen andersdenkende Teile der
Arbeiterklasse - Arbeiter_innen im Streik gegen
das reale Wirtschaftselend im Bürgerkrieg,
politische Organisationen des Proletariats wie
die Anarchisten, die der bolschewistischen
Politik kritisch gegenüberstanden. Der Höhepunkt
dieses Prozesses war die Niederschlagung der
Kronstädter Arbeiter_innen und Matrosen 1921, die
als Konterrevolutionäre denunziert wurden, obwohl
sie das Banner der Weltrevolution und der
Regeneration der Sowjets hoch gehalten hatten.
Dies war ein echter Ausdruck dafür, dass "die
Revolution ihre eigenen Kinder frisst", ein
Schlüsselmoment in der inneren Zerstörung der
Sowjetmacht. Seine zutiefst demoralisierenden
Auswirkungen auf die Arbeiterklasse in Russland
unterstrichen eindringlich, dass
Gewaltverhältnisse innerhalb der Arbeiterklasse
zu jeder Zeit strikt abgelehnt werden müssen.
- Die Kritik an
der Idee des Roten Terrors ist mit dem Problem
des Staates in der Übergangsperiode verbunden.
Die Russische Revolution führte nicht nur zu
Organen wie den Arbeiterräten, sondern auch zu
einem ganzen Netzwerk von Sowjets, die andere
Klassen und Schichten um sich sammelten, wie auch
zu Organisationen wie die Tscheka und die Rote
Armee, die für den Bürgerkrieg gebildet wurden.
Dieser allgemeine Staatsapparat neigte unter den
fürchterlichen Bedingungen, auf die die
Revolution stieß dazu, sich selbst zu Lasten der
spezifisch proletarischen Organisationen - Räte,
Fabrikkomitees, Arbeitermilizen - neu zu
verstärken sowie die bolschewistische Partei zu
absorbieren und überflüssig zu machen. Wie Lenin
1922 bitter bemerkte, war dieser Staat wie ein
Vehikel, das der Kontrolle des Fahrers entglitten
war. Zwar ist der Übergangsstaat, solange noch
Klasse existieren, ein unvermeidliches Übel,
doch hat die Russische Revolution uns gelehrt,
dass staatliche Institutionen einen zwangsläufig
konservativen Charakter haben und von den
direkten Organen der revolutionären Klasse
permanent überwacht und kontrolliert werden
müssen. Das Proletariat wird mit seinen
Arbeiterräten seine Diktatur über den
Übergangsstaat ausüben müssen.
- Wenn der
Kommunismus eine Bewegung zur Abschaffung des
Staates und der auf Lohnarbeit und
Warenproduktion basierenden kapitalistischen
Ökonomie ist, dann ist es ein Fehler, ihn als das
Erzeugnis einer Stufe zu betrachten, auf der
entweder der Staat oder ein Netzwerk von
Arbeiterräten kapitalistische Verhältnisse
aufrechterhalten und stärken. Mit anderen Worten,
weder der Staatskapitalismus noch die
"Selbstverwaltung" der Arbeiter_innen (die in
Russland von Anarchosyndikalisten befürwortet
wurde) sind Etappen auf dem Weg zum Kommunismus;
sie sind vielmehr Methoden zur Erhaltung des
Kapitals. Dies bedeutet nicht, dass echter
Kommunismus über Nacht eingeführt werden kann,
vor allem solange die Revolution nicht den
gesamten Globus erobert hat; doch dies heißt,
dass er das Produkt eines bewussten und
organisierten Kampfes gegen die kapitalistischen
Verhältnisse ist; dass allein ein
selbstorganisiertes und politisch dominantes
Proletariat diesen Kampf anführen kann und dass
die ökonomischen Sofortmaßnahmen, die von der
proletarischen Macht ergriffen werden, soweit
wie möglich mit dem Ziel des Kommunismus
vereinbar sein sollten. Doch in Russland war die
Mehrheit der bolschewistischen Partei unfähig,
mit der Vorstellung zu brechen, dass der
Staatskapitalismus eine notwendige Stufe auf dem
Weg zum Kommunismus sei. Und dies bedeutete in
der Praxis und noch vor dem Triumph des
Stalinismus, dass die wachsende Ausbeutung und
Verelendung der Arbeiterklasse mit der
"Weiterentwicklung der Produktivkräfte" auf dem
Weg zu einer zukünftigen kommunistischen
Gesellschaft gerechtfertigt wurde. Die Idee, dass
die Diktatur des Proletariats solange existierte,
wie die bolschewistische Partei sich an die Macht
klammerte, hatte dieselben tragischen und
katastrophalen Konsequenzen wie die
Identifizierung des Staatskapitalismus mit dem
Sozialismus oder als einen Schritt hin zu ihm:
Die reale Niederlage der Revolution, der Triumph
der kapitalistischen Konterrevolution in
"Sowjet-Russland" ging von innen aus, getarnt als
Fortsetzung des Oktobers; und wie wir gesehen
haben, hatte dies die schädlichsten Konfusionen
innerhalb der Arbeiterklasse weltweit zur Folge.
Es war die objektive Grundlage für die große
Lüge, dass Stalinismus das Gleiche wie
Kommunismus ist.
1968–2011: das
Gespenst der Revolution peinigt noch immer das
kapitalistische System
Es ist eine Sache,
die Lehren aus der Niederlage der Revolution zu
ziehen. Doch eine andere Sache ist, ob es eine neue
Revolution geben wird, in der sie angewendet werden
können. Erneut möchten wir auf die unlösbaren
Wirtschaftskrisen, auf die Kriegsgefahr und
Selbstzerstörung, auf die Verwüstung der
natürlichen Umwelt, auf das ungezügelte Wachstum
von Kriminalität und moralischer Zersetzung in den
gesellschaftlichen Verhältnissen hinweisen und
eindringlich wiederholen, dass der Kommunismus mehr
denn je eine objektive Notwendigkeit ist. Ferner
möchten wir auf die zunehmend globale Existenz der
Arbeiterklasse, auf die wachsende Interdependenz
der Weltwirtschaft, auf die Jahrzehnte einer
schwindelerregenden Entwicklung der
Kommunikationsmittel verweisen und auf die
objektiven Möglichkeiten für die Vereinigung des
Weltproletariats zur Verteidigung seiner
gemeinsamen Interessen gegen die kapitalistische
Ausbeutung beharren. Doch die proletarische
Revolution ist die erste Revolution in der
Geschichte, die vor allem auf die subjektive
Fähigkeit einer ausgebeuteten Klasse setzt, die
Ursprünge ihrer Ausbeutung zu begreifen und sich
nicht nur zu verteidigen, sondern auch ein Projekt,
ein Programm zur Abschaffung aller Ausbeutung zu
entwickeln. Und obwohl vieles sich ungesehen, unter
der Oberfläche, in kleinen Minderheiten entwickelt,
kann diese subjektive Dimension nicht
aufrechterhalten, gepflegt und ausgeweitet werden
ohne die Entwicklung von Massenbewegungen des
Proletariats.
Solche Bewegungen
sind tatsächlich in den letzten 50 Jahren auf
Weltebene aufgetaucht. Dem enormen Gipfel, der von
der revolutionären Welle 1917-23 erreicht worden
war, folgten viele Jahrzehnte der Konterrevolution,
die ihr brutalstes Antlitz in jenen Ländern zeigte,
in denen die revolutionäre Welle am höchsten stieg:
in Italien und Deutschland mit dem Anbruch des
Faschismus und in Russland mit Beginn des
Stalinismus. Die tödliche Dreifaltigkeit wurde
durch den Aufstieg der Volksfronten und des
demokratischen Antifaschismus vervollständigt. Der
Kombination dieser Kräfte gelang es, die letzten
Ausbrüche des proletarischen Widerstandes (wie in
Spanien 1936-37) zu ersticken und das Proletariat
dazu zu bringen, in den Schlund des zweiten
imperialistischen Weltkrieges zu marschieren; In
den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Krieg wurde
der Klassenkonflikt durch den Wirtschaftsboom und
das Sicherheitsnetz des Wohlfahrtsstaates sowie
durch die falsche Wahl zwischen westlicher
"Demokratie" und östlichem "Sozialismus" in Schach
gehalten.
Doch gegen Ende
der 1960er Jahre, als der Nachkriegsboom nachließ,
als der Alltag im Kapitalismus sowohl im Westen als
auch im Osten seine reale Armut und Heuchelei
enthüllte, als die Stellvertreterkriege zwischen
den beiden imperialistischen Blöcken in Vietnam und
Afrika fortgesetzt wüteten, begann eine neue
Generation von Proletariern, die nicht die
Niederlagen und die Traumata ihrer Eltern
durchmachen musste, die Normalität der
kapitalistischen Gesellschaft anzuzweifeln. Dieses
Infragestellen, das auch andere
Gesellschaftsschichten erfasste, sollte mit dem
riesigen Generalstreik im Mai-Juni 1968 offen ans
Tageslicht treten, mit einer Bewegung, die das Ende
der Konterrevolution markierte und das Signal zu
einer internationalen Welle von Arbeiterkämpfen auf
allen Kontinenten gab. Auf ihrem Höhepunkt erlebte
die Bewegung im Mai 1968 in Frankreich vergleichbar
intensive politische Debatten an Straßenecken, in
Schulen, Universitäten und am Arbeitsplatz, die
John Reed in Russland vor dem Oktober 1917
beobachtet hatte. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten
wurde die Idee, den Kapitalismus durch eine neue
Gesellschaft zu ersetzen, ernsthaft unter
bedeutenden Minderheiten von Arbeiter_innen und
Student_innen diskutiert, und eine der wichtigsten
Früchte dieses Gärungsprozesses war eine neue
Generation revolutionärer politischer
Organisationen.
Die Bewegung in
Frankreich konnte die Frage der Revolution nur auf
theoretischer Ebene stellen. Der Kapitalismus
befand sich gerade am Beginn seiner offenen Krise,
und die herrschende Klasse hatte in den nächsten
Jahren noch viele politische Tricks in ihrer
Hinterhand, nicht zuletzt den Gebrauch ihrer linken
Parteien und Gewerkschaften als eine falsche
"Opposition" zum System. Doch die Welle der Kämpfe,
die 1969 begannen, setzte sich in den beiden
nächsten Jahrzehnten fort. Ihr Höhepunkt war
sicherlich die Bewegung in Polen 1980, ein echter
Massenstreik, der zu Organisationsformen - die
werkübergreifenden Streikkomitees - führte, die an
die Arbeiterräte der revolutionären Jahre
erinnerten. Doch trotz dieses sehr
fortgeschrittenen Organisationsgrades haben die
polnischen Arbeiter_innen nie die Möglichkeit eines
Sturzes des kapitalistischen Systems erwogen. Im
Gegenteil, sie wurden niedergedrückt durch die
Illusion, dass sie bereits in einem kommunistischen
System lebten und dass ihre letzte Hoffnung in den
demokratischen Formen des kapitalistischen Westens
lag, mit ihren Parlamenten und "freien"
Gewerkschaften. Die Arbeiter_innen im Westen haben
eine größere Erfahrung mit der Leere dieser Formen,
doch das fundamentale Problem, dem sie
gegenüberstanden, unterschied sich nicht von dem
ihrer Klassenbrüder und -schwestern im Ostblock:
die Schwierigkeit, den Kampf von der Ebene der
ökonomischen Verteidigung auf die Ebene einer
politischen Offensive gegen den Kapitalismus
anzuheben.
Die Bewegungen der
Arbeiterklasse in den 70er und 80er Jahren hatten
jedoch einen sehr bedeutenden Einfluss auf die
Evolution der kapitalistischen Gesellschaft gehabt.
In den 1930er Jahren, als der Ausbruch einer
offenen Wirtschaftskrise auf eine Arbeiterklasse
traf, die sich mitten in einer tiefen historischen
Niederlage befand, gab es kein Hindernis auf dem
Weg des Kapitalismus in den Krieg. Im Gegensatz
dazu bedeutete die Weigerung der Arbeiterklasse in
den 70er und 80er Jahren trotz des starken Drucks
in Richtung Weltkrieg, sich für die Interessen der
nationalen Wirtschaft zu opfern, auch, dass sie
nicht gewillt war, sich in einen neuen Krieg ziehen
zu lassen. Uns wird von Experten der Bourgeoisie
erzählt, dass ein Dritter Weltkrieg nie
stattgefunden habe, weil der Kapitalismus die
Lehren aus früheren Kriegen gelernt und
internationale Organismen wie die EU oder die UN
geschaffen habe, um nationale Rivalitäten
einzudämmen. Oder dass die schlichte Existenz von
Atomwaffen die sicherste "Abschreckung" gegen einen
Weltkrieg gewesen sei. Der Gedanke, dass der Kampf
der Arbeiterklasse möglicherweise die wahre
Abschreckung war, lag völlig außerhalb des
Tellerrandes des bürgerlichen politischen Denkens.
Doch die Barriere,
die das Proletariat gegen den Krieg errichtet
hatte, war selten in bewusster Manier errichtet
worden. Die Unfähigkeit der Bourgeoisie, die Klasse
für den Krieg zu mobilisieren, war Eines, doch die
Arbeiterklasse war gleichermaßen unfähig, ihre
eigene politische Alternative, die Weltrevolution,
zur Entfaltung zu bringen. Infolgedessen haben wir
seit dem Ende der 80er Jahre eine Art Pattsituation
in der Entwicklung der Gesellschaft erlebt, die
außer Stande ist, sich in Richtung des einen oder
des anderen Ausgangs zu entwickeln. Vor dem
Hintergrund einer schleppenden, unauflösbaren
Wirtschaftskrise ist der Kapitalismus dazu
verurteilt, stehenden Fußes zu verrotten. Mit dem
Zusammenbruch der beiden imperialistischen Blöcke
sind die Aussichten auf einen Weltkrieg nun zwar
scheinbar in weite Ferne gerückt,
aber der kapitalistische Kriegsdrang setzt sich
fort und beschleunigt sich auf chaotischere, aber
nicht minder gefährliche Weise.
Diese letzte Phase
im langen Niedergang des kapitalistischen Systems,
die Phase des Zerfalls des Kapitalismus, hat der
Arbeiterklasse zusätzliche Schwierigkeiten
bereitet. Die Kampagnen über den "Tod des
Kommunismus" waren einer der offensichtlichsten
Ausdrücke für die Fähigkeit der herrschenden
Klasse, den Zerfall ihres eigenen Systems gegen das
Bewusstsein der ausgebeuteten Klasse zu wenden. Ihr
zentrales Thema - der Triumph der "Demokratie" über
den Totalitarismus - bewies einmal mehr, dass die
Vorstellung, wir lebten unter der Herrschaft der
"Demokratie", eine der wirkmächtigsten
Mystifikationen ist, die die kapitalistische
Gesellschaft jemals hervorgebracht hat und die von
der herrschenden Klasse hartnäckig aufrechterhalten
wird. Dasselbe Thema hat durch die aktuelleren
Kampagnen rund um die Auseinandersetzung zwischen
Populismus und Anti-Populismus, in der beide Lager
sich als Ausdruck des "wahren Volkswillen"
verkaufen, eine Auffrischung erfahren.
Mittlerweile
fahren die eigentlichen gesellschaftlichen
Prozesse, die in dieser Zerfallsphase im Gang sind,
fort, in heimtückischer Manier zu wirken: die
Tendenz der kapitalistischen Gesellschaft, sich auf
allen Ebenen in Cliquen und Banden zu
fragmentieren, der Aufstieg aller Arten von
irrationalen Ängsten und Fanatismen, die sich
verbreitende Suche nach Sündenböcken...
Diese Tendenzen
sind für die Entwicklung der internationalen
Arbeitersolidarität und für die Art von globalem,
historischem Denken, das erforderlich ist, um die
wahren Prozesse der kapitalistischen Gesellschaft
zu verstehen, zutiefst abträglich. Und doch: trotz
des allgegenwärtigen Rückzugs des Klassenkampfes
seit dem Ende der 80er Jahre erleben wir auch
weiterhin wichtige Aufwallungen des Proletariats,
auch wenn die Teilnehmer_innen in solchen
Bewegungen sich häufig nicht als Proletarier
begreifen. 2006 entglitt die Studentenbewegung in
Frankreich der Kontrolle der offiziellen
Gewerkschaften; und weil sie drohte, sich auf die
Beschäftigten auszubreiten, war die Bourgeoisie
gezwungen, das CPE zurückzuziehen, jenes Gesetz,
das darauf abzielte, die Unsicherheit in den
Beschäftigungsverhältnissen rapide zu erhöhen.
2011, im Anschluss an die Revolten in Nordafrika,
Israel und Griechenland, belebte die Bewegung der
"Indignados" in Spanien, wie die französischen
Studenten 2006, die Erinnerung von '68 wieder,
indem sie zu Massendebatten über den Charakter der
kapitalistischen Gesellschaft und ihren völligen
Mangel an Perspektiven animierte. Dies war eine
Bewegung, die sich über ihren internationalen
Charakter sehr klar war und in der der Schlachtruf
der "Weltrevolution" unter einigen kleinen
Minderheiten immer relevanter wurde. Und ebenfalls
wie die Bewegung von 2006 war die
Organisationsform, die von der Bewegung der
"Indignados" angenommen wurde, die Vollversammlung
auf den Straßen und in den Stadtteilen, außerhalb
der offiziellen Institutionen der bürgerlichen
Gesellschaft. Mit anderen Worten, ein schwaches,
aber eindeutiges Echo der Sowjetform der
Organisation. Natürlich waren diese Bewegungen
kurzlebig und litten unter zahllosen Schwächen und
Konfusionen, nicht zuletzt unter der Ideologie der
(wahren) Demokratie und der Bürgerrechte, was von
den linksextremistischen Parteien wie Syriza und
Podemos mit ihrem Refrain: "Versammlungen - ja,
aber lasst sie uns nutzen, um unser demokratisches
Leben zu regenerieren, die Teilnahme am Parlament
und an Wahlen zu steigern..." geschickt ausgenutzt
wurde. Sanders und Corbyn verkaufen denselben
Schwindel. Doch das Wesentliche an diesen
Bewegungen ist, dass sie demonstrieren, dass das
Proletariat nicht tot ist und immer noch in der
Lage ist, sein Haupt zu erheben, und dass, wenn es
dies tut, es unwiderstehlich zu den revolutionären
Traditionen seiner eigenen Vergangenheit gezogen
wird.
Das Proletariat
hat noch nicht sein letztes Wort gesprochen. Die
Veränderungen in der Zusammensetzung der
Arbeiterklasse birgt, trotz ihrer negativen
Auswirkungen bis jetzt, auch Elemente in sich, die
weitaus günstiger sind für die Perspektive der
Revolution. Die jungen proletarischen Generationen,
die in einer Lage leben, die unsichere
Beschäftigungsverhältnisse mit chronischer
Arbeitslosigkeit kombiniert, können im Laufe der
Zeit sich selbst als Teil einer Klasse erkennen,
die die Armut mit den Sklaven teilt. Doch wie
Engels' Schrift "Grundsätze des Kommunismus"
feststellt: „Der einzelne Sklave, Eigentum
eines Herrn, hat schon durch das Interesse dieses
Herrn eine gesicherte Existenz, so elend sie sein
mag; der einzelne Proletarier, Eigentum sozusagen
der ganzen Bourgeoisklasse, dem seine Arbeit nur
dann abgekauft wird, wenn jemand ihrer bedarf, hat
keine gesicherte Existenz.“ Folglich: „Die
Proletarier haben nichts in ihr [der
kommunistischen Revolution] zu verlieren als ihre
Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen"
(Kommunistisches Manifest). Die aktuelle und
zukünftige Situation des Weltproletariats enthüllt
immer mehr, was Marx als die Fundamente seines
revolutionären Charakters, seiner Fähigkeit, den
Kapitalismus zu zerstören und den Kommunismus zu
schaffen, identifizierte:
- eine Klasse der
bürgerlichen Gesellschaft, die der bürgerlichen
Gesellschaft fremd ist;
- eine Klasse,
deren radikale Ketten und universellen Leiden sie
zu einer radikalen und universellen Revolution
drängen;
- eine Klasse,
die in sich all die Leiden der anderen
Gesellschaftsschichten konzentriert, ohne von
irgendeinem ihrer Vorteile zu profitieren, und
die sich nur befreien kann, wenn sie die gesamte
Menschheit befreit;
- eine
assoziierte Klasse, die die Gesellschaft nach dem
Prinzip der Assoziation organisieren kann,
welches der kapitalistischen Herrschaft der
universellen Kommerzialisierung zuwiderläuft;
- eine Klasse,
die die menschliche Moralität aus ihrem
kapitalistischen Gefängnis befreien kann, indem
sie den menschlichen Körper davon befreit, Diener
der Waren und der Lohnarbeit zu sein.
Lang lebe der
Oktober!
Die Erinnerung an
die Oktoberrevolution kann niemals wirklich
ausgelöscht werden, genau so wenig, wie man den
Kapitalismus ohne Klassenkampf haben kann. 1917 war
die Menschheit mit der Wahl zwischen Sozialismus
oder Barbarei konfrontiert: entweder die
proletarische Weltrevolution oder die Zerstörung
der Zivilisation, vielleicht die Zerstörung der
Menschheit an sich. 2017 werden wir mit demselben
Dilemma und derselben Tragweite konfrontiert. Der
Kapitalismus kann nicht reformiert, grün gewendet
oder mit einem menschlichen Antlitz versehen
werden. Sein Sturz ist lange überfällig, und keine
künftige Revolution wird Erfolg haben können, ohne
all die Lehren aus der gigantischen Erfahrung zu
ziehen, die unsere Klasse in Russland wie auch in
Deutschland, Ungarn, Italien und im Rest der Welt
hundert Jahre zuvor durchlebt hatte. Es ist die
Aufgabe und Verantwortung der Minderheit von
Revolutionären, der politischen Organisationen des
Proletariats, diese Lehren so gründlich und
weitgehend wie möglich zu studieren, auszuarbeiten
und zu verbreiten.
September
2017
Quelle:
http://de.internationalism.org/iksonline/manifest-zur-oktoberrevolution-russland-1917-die-weltrevolution-als-schritt-hi |