Texte zur Oktoberrevolution

Die Kämpfe innerhalb der bolschewistischen Partei und der Friede von Brest-Litowsk

von Charles Bettelheim

Die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk und der Vertrag selbst lösen eine Krise aus, die genau am 5. Januar 1918 einsetzt, als auf Beschluß des Zentralkomitees Friedensverhandlungen mit dem deutschen Imperialismus aufgenommen werden. Es wird zu diesem Zeitpunkt klar, daß der deutsche Imperialismus einen Friedensvertrag mit der Sowjetmacht nur gegen enorme Gebietsabtretungen unterzeichnen wird: Aufgabe Polens, Litauens, Weißrußlands und der Hälfte von Lettland, das die deutsche Armee weiterhin besetzt halten würde.

Lenin spricht sich für die Annahme dieser Bedingungen und den soforti­gen Abschluß eines Vertrags aus. Er ist sich des Friedenswillens im Land bewußt. Er weiß überdies, daß die bewaffneten Kräfte so desorganisiert sind, daß sie einer neuen deutschen Offensive nicht standhalten könnten.
Trotzki ist für Aufschub ("Weder Frieden noch Krieg"). Bucharin ist Befürworter des "revolutionären Kriegs" (wenn es auch keine Kraft gibt, die ihn führen könnte); doch da er isoliert ist, schließt er sich Trotzkis These an, so daß Lenin sich im Zentralkomitee in der Minderheit befindet (9 Stimmen vertreten Trotzkis Auffassung und nur 7 die von Lenin).

Infolge dieses Beschlusses des Zentralkomitees nimmt die deutsche Armee die Offensive an allen Fronten wieder auf und dringt tief in das sowjetische Territorium ein. Am 17. Januar bringt Lenin seine Auffassung noch einmal vor und unterliegt wiederum (da Trotzki und Bucharin behaupten, die deutsche Offensive werde einen Einfluß auf die internationale Arbeiterbewegung haben und einen revolutionären Anlaß für die Unter­stützung der Sowjetmacht geben). Diesmal stimmen 6 ZK-Mitglieder für Trotzkis und 5 für Lenins Auffassung.

Die deutsche Armee dringt so schnell vor, daß das Zentralkomitee am 18. Januar erneut zusammentritt. Jetzt schließt sich Trotzki der Auffassung Lenins an, die vom Zentralkomitee angenommen wird; aber nur mit 7 Stimmen bei 5 Gegenstimmen.

Die mehrere Tage lang von der Mehrheit des Zentralkomitees bezogenen Positionen (die scheinbar "links" sind, in Wahrheit aber nationalistisch und kleinbürgerlich) und die während dieser Zeit erlittenen Niederlagen haben zur Folge, daß Sowjetrußland nunmehr neue Ansprüche des deutschen Imperialismus akzeptieren muß. Zur Liste der von ihm verlangten Territorien kommen jetzt die Ukraine, Livland und Estland hinzu. Diesen Ansprüchen zufolge soll das von der Sowjetmacht kontrollierte Territorium um 26% seiner Bevölkerung, 27% seiner bebauten Fläche und um 75% seiner Produk­tionskapazität für Eisen und Stahl reduziert werden.

Lenin fordert, den Friedensvertrag ohne Diskussion zu unterschreiben. Das Zentralkomitee zögert. Stalin schlägt vor, nicht einfach die deutschen Ansprüche zu akzeptieren, sondern die Verhandlungen erneut aufzunehmen. Lenins Antrag setzt sich jedoch mit 7 Stimmen bei 4 Gegenstimmen durch (42).

Am 3. März 1918 wird der Vertrag von Brest-Litowsk formell unterzeichnet; aber die vergangenen Wochen haben gezeigt, wie tief die Partei gespalten war. Im Grunde setzt diese Spaltung zwei Gruppen zueinander in Opposition: die einen sind mit Lenin der Auffassung, daß die Aufrechterhaltung einer proletarischen Macht in Rußland wesentlich für die Zukunft der revolutio­nären Bewegung in der Welt sei, die anderen nehmen eher den Untergang dieser Macht in Kauf als ihr Weiterbestehen um den Preis von Zugeständ­nissen, die sie für unannehmbar halten. Daher beendet die Unterzeich­nung des Vertrags nicht die offene Krise innerhalb der Partei, was insbesondre die Erklärungen der regionalen Parteiorganisationen deutlich zeigen, die nämlich zu dieser Zeit noch öffentlich ihren Widerspruch zur Unterzeichnung formulieren.

Nach dem Beschluß des Zentralkomitees stimmt das Parteibüro der Moskauer Region einer Resolution zu, worin es erklärt, es werde die Autorität des Zentralkomitees nicht mehr anerkennen bis zur Zusammen­kunft eines außerordentlichen Parteitags und zur Wahl eines neuen Zentral­komitees.
Das amtierende Zentralkomitee erkennt formell jenen, die nicht mit dem Beschluß einverstanden sind, den es einen Monat zuvor gefaßt hat, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu. In bezug auf den Beschluß des Moskauer Gebietsparteibüros schreibt Lenin:

"Es ist ganz natürlich, daß Genossen, die in der Frage des Separatfriedens in scharfem Gegensatz zum ZK stehen, das ZK scharf verurteilen und erklären, von der Unvermeidlichkeit der Spaltung überzeugt zu sein. Das alles ist ein legitimes Recht der Parteimitglieder, das ist durchaus begreiflich." (43)

Am Tag nach der Unterzeichnung des Vertrags von Brest-Litowsk, am 4. März 1918, gibt das Parteikomitee von Petrograd die erste Nummer einer Tageszeitung mit dem Titel Kommunist heraus; diese Tageszeitung ist das Organ der "Linkskommunisten". Sie bilden zu dieser Zeit eine Opposition, die offen den Weg der Spaltung und der Konstituierung einer neuen Partei geht.

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42) Es ist bezeichnend für die kleinbürgerliche Realitätstüchtigkeit der "Links-kommunisten", deren wichtigster Vertreter zu dieser Zeit Bucharin ist, daß sie es ablehnen, im Fall einer Wiederaufnahme der Kämpfe von den früheren "Alliierten", das heißt von Frankreich und England, Waffen anzunehmen, während Lenin bereit ist, "Kartoffeln und Munition von den imperialistischen Räubern" zu nehmen.

43) LW 27 / S.52

Quelle: Charles Bettelheim, Die Klassenkämpfe in der UdSSR, Band 1, 1917-1923, Westberlin 1975; Seite 311-313