Die Friedensverhandlungen
von Brest-Litowsk und der Vertrag selbst lösen eine Krise
aus, die genau am 5. Januar 1918 einsetzt, als auf
Beschluß des Zentralkomitees Friedensverhandlungen mit dem
deutschen Imperialismus aufgenommen werden. Es wird zu
diesem Zeitpunkt klar, daß der deutsche Imperialismus
einen Friedensvertrag mit der Sowjetmacht nur gegen enorme
Gebietsabtretungen unterzeichnen wird: Aufgabe Polens,
Litauens, Weißrußlands und der Hälfte von Lettland, das
die deutsche Armee weiterhin besetzt halten würde.
Lenin spricht sich für die
Annahme dieser Bedingungen und den sofortigen Abschluß
eines Vertrags aus. Er ist sich des Friedenswillens im
Land bewußt. Er weiß überdies, daß die bewaffneten Kräfte
so desorganisiert sind, daß sie einer neuen deutschen
Offensive nicht standhalten könnten.
Trotzki ist für Aufschub ("Weder Frieden noch Krieg").
Bucharin ist Befürworter des "revolutionären Kriegs" (wenn
es auch keine Kraft gibt, die ihn führen könnte); doch da
er isoliert ist, schließt er sich Trotzkis These an,
so daß Lenin sich im Zentralkomitee in der
Minderheit befindet (9 Stimmen vertreten Trotzkis
Auffassung und nur 7 die von Lenin).
Infolge dieses Beschlusses
des Zentralkomitees nimmt die deutsche Armee die Offensive
an allen Fronten wieder auf und dringt tief in das
sowjetische Territorium ein. Am 17. Januar bringt Lenin
seine Auffassung noch einmal vor und unterliegt wiederum
(da Trotzki und Bucharin behaupten, die deutsche Offensive
werde einen Einfluß auf die internationale
Arbeiterbewegung haben und einen revolutionären Anlaß für
die Unterstützung der Sowjetmacht geben). Diesmal stimmen
6 ZK-Mitglieder für Trotzkis und 5 für Lenins Auffassung.
Die deutsche Armee dringt so
schnell vor, daß das Zentralkomitee am 18. Januar erneut
zusammentritt. Jetzt schließt sich Trotzki der Auffassung
Lenins an, die vom Zentralkomitee angenommen wird; aber
nur mit 7 Stimmen bei 5 Gegenstimmen.
Die mehrere Tage lang von
der Mehrheit des Zentralkomitees bezogenen Positionen (die
scheinbar "links" sind, in Wahrheit aber nationalistisch
und kleinbürgerlich) und die während dieser Zeit
erlittenen Niederlagen haben zur Folge, daß Sowjetrußland
nunmehr neue Ansprüche des deutschen Imperialismus
akzeptieren muß. Zur Liste der von ihm verlangten
Territorien kommen jetzt die Ukraine, Livland und Estland
hinzu. Diesen Ansprüchen zufolge soll das von der
Sowjetmacht kontrollierte Territorium um 26% seiner
Bevölkerung, 27% seiner bebauten Fläche und um 75% seiner
Produktionskapazität für Eisen und Stahl reduziert
werden.
Lenin fordert, den
Friedensvertrag ohne Diskussion zu unterschreiben. Das
Zentralkomitee zögert. Stalin schlägt vor, nicht einfach
die deutschen Ansprüche zu akzeptieren, sondern die
Verhandlungen erneut aufzunehmen. Lenins Antrag setzt sich
jedoch mit 7 Stimmen bei 4 Gegenstimmen durch (42).
Am 3. März 1918 wird der
Vertrag von Brest-Litowsk formell unterzeichnet; aber
die vergangenen Wochen haben gezeigt, wie tief die Partei
gespalten war. Im Grunde setzt diese Spaltung zwei
Gruppen zueinander in Opposition: die einen sind mit Lenin
der Auffassung, daß die Aufrechterhaltung einer
proletarischen Macht in Rußland wesentlich für die Zukunft
der revolutionären Bewegung in der Welt sei, die anderen
nehmen eher den Untergang dieser Macht in Kauf als ihr
Weiterbestehen um den Preis von Zugeständnissen, die sie
für unannehmbar halten. Daher beendet die Unterzeichnung
des Vertrags nicht die offene Krise innerhalb der Partei,
was insbesondre die Erklärungen der regionalen
Parteiorganisationen deutlich zeigen, die nämlich zu
dieser Zeit noch öffentlich ihren Widerspruch zur
Unterzeichnung formulieren.
Nach dem Beschluß des
Zentralkomitees stimmt das Parteibüro der Moskauer Region
einer Resolution zu, worin es erklärt, es werde die
Autorität des Zentralkomitees nicht mehr anerkennen bis
zur Zusammenkunft eines außerordentlichen Parteitags und
zur Wahl eines neuen Zentralkomitees.
Das amtierende Zentralkomitee erkennt formell jenen, die
nicht mit dem Beschluß einverstanden sind, den es einen
Monat zuvor gefaßt hat, das Recht auf freie
Meinungsäußerung zu. In bezug auf den Beschluß des
Moskauer Gebietsparteibüros schreibt Lenin:
"Es ist ganz natürlich, daß
Genossen, die in der Frage des Separatfriedens in scharfem
Gegensatz zum ZK stehen, das ZK scharf verurteilen und
erklären, von der Unvermeidlichkeit der Spaltung überzeugt
zu sein. Das alles ist ein legitimes Recht der
Parteimitglieder, das ist durchaus begreiflich." (43)
Am Tag nach der
Unterzeichnung des Vertrags von Brest-Litowsk, am 4. März
1918, gibt das Parteikomitee von Petrograd die erste
Nummer einer Tageszeitung mit dem Titel Kommunist heraus;
diese Tageszeitung ist das Organ der "Linkskommunisten".
Sie bilden zu dieser Zeit eine Opposition, die offen den
Weg der Spaltung und der Konstituierung einer neuen Partei
geht.
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42)
Es ist bezeichnend für die kleinbürgerliche
Realitätstüchtigkeit der "Links-kommunisten", deren
wichtigster Vertreter zu dieser Zeit Bucharin ist, daß sie
es ablehnen, im Fall einer Wiederaufnahme der Kämpfe von
den früheren "Alliierten", das heißt von Frankreich und
England, Waffen anzunehmen, während Lenin bereit ist,
"Kartoffeln und Munition von den imperialistischen
Räubern" zu nehmen.
43) LW 27 / S.52
Quelle: Charles Bettelheim, Die Klassenkämpfe in
der UdSSR, Band 1, 1917-1923, Westberlin 1975; Seite
311-313
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