Texte zur Oktoberrevolution


Die Krise der Neuen Ökonomischen Politik (NEP)


von Rita di Leo

1917 hieß das Ziel: Alle Macht den Räten; 1921 hieß es: das ganze Kapital­system den Arbeitern. Die Erfahrung hatte gezeigt, daß es möglich war, sich der Kapitalisten zu entledigen, während man beim Kampf gegen die Produktionsverhältnisse zu viele Regeln noch nicht durchschaute. Das Ka­pital mit seinen beiden Teilen, der eine lebendig, der andere erst mit Le­ben zu erfüllen, mußte in Bewegung gesetzt werden, um verwundbar zu werden. Und einer der beiden Teile, der lebendige, die Arbeiterklasse, mußte die Initiative ergreifen: das Kapital mußte sich also selbst in Bewe­gung setzen, sich als Kapital erkennen und über das Kapital als System ent­scheiden. 1917 war es die Funktion der Partei gewesen, der Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse ihre formale Legitimation zu geben; 1921 bestand sie, nicht darin, den Sowjetstaat zu retten, sondern die natür­liche Umgebung wieder herzustellen, in der die Arbeiterklasse als solche handeln und so die übrige Gesellschaft vorantreiben konnte: "Die materiel­le Hauptbasis für die Entwicklung des proletarischen Klassenbewußtseins ist die Großindustrie, wenn der Arbeiter die in Betrieb befindlichen Fabri­ken sieht, wenn er tagtäglich jene Kraft verspürt, die tatsächlich imstande sein wird, die Klassen aufzuheben.(...) Anfang 1921 sahen wir, daß nach der Beendigung des Kampfes gegen die äußeren Feinde die Hauptgefahr, das größte Übel darin bestand, daß wir außerstande waren, die ununterbrochene Produktionsarbeit in den größten Betrieben zu sichern, die uns in geringer Zahl verblieben waren. Das ist das Ausschlaggebende. Ohne diese ökono­mische Basis kann es keine feste politische Macht der Arbeiterklasse ge­ben." (1) Die Zugeständnisse an die Bauern sollten dazu dienen, ein gün­stiges Klima für den Kapitalismus zu schaffen, nicht als Ziel für sich selbst, sofern um die Weiterentwicklung der Revolution zu ermöglichen: "Die Ka­pitalisten werden aus unserer Politik Vorteile ziehen und werden ein Indu­strieproletariat schaffen, das bei uns durch den Krieg und die furchtbare (Verwüstung und Zerrüttung deklassiert, d.h. aus seinem Klassengeleise geworfen ist und aufgehört hat, als Proletariat zu existieren." (2)

Aufgabe der Partei war es, eben durch die NEP die Bedingungen dafür zu schaffen, daß das Proletariat wieder als solches entstand, den Angriff ge­gen das Kapital zu Ende führen konnte, und zwar von Innen heraus. Die Er­greifung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse war nichts als die Vor­stufe zu anderen Eroberungen, die alle durch die Arbeiterklasse selbst in ihrem natürlichen Verhältnis zum Kapitalsystem vollzogen werden mußten. Die Revolution hatte auf der Februarinitiative der Arbeiter basiert; in jeder ihrer Schritte hatte sich der Druck der Arbeiterklasse gezeigt. Im Abeb­ben der Revolution spiegelte sich das Schwinden der proletarischen Präsenz, der materielle Auflösungsprozess des Industrieproletariats wider. Die NEP sollte dazu dienen, den Tagen des Februar eine Fortsetzung zu geben, den revolutionären Prozeß in neuen Formen wieder in Bewegung zu setzen, jedoch ohne weitere frontale Angriffe. Denn die frühere Destruktionswut hatte zuerst die Kapitalisten getroffen, dann die Arbeit, die Arbeitsbedin­gungen, die Produktionsmittel,und schließlich hatte sie die Klasse selbst erfaßt, die Voraussetzung ihrer Existenz als Klasse untergraben.

Durch die NEP sollte erreicht werden, das die Arbeiterklasse ihre Rolle als Widerpart des Kapitals übernahm, daß sie sich als konstitutives Ele­ment des Systems begriff und daß die Voraussetzung für den Sozialismus in den Arbeiterkämpfen selbst entdeckt und erobert wurden und nicht durch administrative Entscheidungen erlassen würden.

"Der Kapitalismus ist ein Übel gegenüber dem Sozialismus. Der Kapitalis­mus ist ein Segen gegenüber dem Mittelalter, gegenüber der Kleinproduk­tion, gegenüber dem mit der Zersplitterung der Kleinproduzenten zusam­menhängenden Bürokratismus. Insofern wir nicht imstande sind, den un­mittelbaren Übergang von der Kleinproduktion zum Sozialismus zu verwirk­lichen, insofern ist der Kapitalismus in gewissem Maße unvermeidlich als das elementar entstehende Produkt der Kleinproduktion und des Austausches und insofern müssen wir uns den Kapitalismus zunutze machen (...) als ver­bindendes Kettenglied zwischen der Kleinproduktion und dem Sozialismus als Mittel, Weg, Behelf, Methode zur Steigerung der Produktivkräfte." (3) Die Aussagen Lenins über die grundlegende Funktion der NEP sind unmiß-verständlich:"Wenn der Kapitalismus wiederersteht, so heißt das, daß auch die Klasse des Proletariats wiedererstehen wird, das mit der Produktion materieller, für die Gesellschaft nützlicher Güter beschäftigt ist (...) und sich nicht mit Spekulation, nicht mit der Herstellung von Feuerzeugen zum f Verkauf und sonstiger 'Arbeit' befaßt, die nicht gerade nützlich , aber bei dem zerrütteten Zustand unserer Industrie völlig unvermeidlich." (4)

Aiso: Der Kapitalismus als materielle Vorbedingung für die politische Kraft, die für die Partei, für die antikapitalistische Revolution unerläßlich ist. Weiterhin, der Kapitalismus als Basis gesellschaftlicher Produktion, im Gegensatz zur kleinen und unterentwickelten Handwerks- und Manufaktur­produktion. Und schließlich, der Kapitalismus als Möglichkeit zur Kontrol­le und Voiausplanung der Produktions- und Tauschverhältnisse. "Interessant ist, das Engels vor 27 Jahren auf die Unzulänglichkeit einer Betrachtung des Kapitalismus hinwies, bei der man die Rolle der Trusts übersieht und sagt, das Merkmal des Kapitalismus sei die Planlosigkeit.

Engels bemerkt dazu: 'Und wenn wir zu den Trusts übergehen (...), so hört da auch die Planlosigkeit auf , und doch ist das Kapitalismus (...). Die Einführung der Planmäßigkeit befreit die Arbeiter nicht davon, Sklaven zu sein, die Kapitalisten aber streichen ihre Profite 'planmäßiger'."(5) Fünf Jahre an der Spitze des Landes und der Partei hatten Lenin überzeugt daß Arbeit und Kapital bewußt vereint werden mußten, um die Dynamik des revolutionären Prozesses nicht zu blockieren. Ohne die Klasse hatte sich die revolutionäre Spannung gelöst; ohne Kapital war die Klasse verschwunden. Und die Wiedervereinigung beider Teile mußte bei hellem Tageslicht vollzogen werden.

"Die Lage, die durch unsere Neue Ökonomische Politik geschaffen worden ist - Entwicklung kleiner Handelsbetriebe, Verpachtung von Staatsbetrieben usw. -, all dies bedeutet Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse, und das nicht sehen zu wollen, würde bedeuten, völlig den Kopf verlieren." - "Die ganze Frage besteht - sowohl theoretisch als auch praktisch - darin, richtige Methoden zu finden, wie  man die (...) unvermeidliche Entwicklung des Kapitalismus in das Fahrwasser des Staatskapitalismus lenken soll, welche Bedingungen man hierfür schaffen muß, wie man für die nahe Zukunft die Umwandlung des Staatskapitalismus in den Sozialismus zu sichern hat." (6)

Die Entscheidung für den Staatskapitalismus war der Anfang eines Experi­ments, das "in der Geschichte überhaupt noch nie dagewesen " sei: "In der Frage des Staatskapitalismus machen, wie mir scheint, unsere Presse und unsere Partei überhaupt den Fehler, daß wir in intelllgenzlerische Denkweise, in Liberalismus verfallen, darüber klügeln, wie man den Staatskapitalismus zu verstehen habe, und in alten Büchern nachschlagen. Aber dort ist von etwas ganz anderem die Rede: dort ist über den Staatskapitalismus geschrieben, der unter dem Kapitalismus vorkommt, aber es gibt kein einziges Buch, wo über den Staatskapitalismus geschrieben wäre, der unter dem Kommunismus vorkommt (...) .Das ist doch eine Lage, wie sie in der Geschichte überhaupt noch nie dagewesen ist: Das Proletariat, die revolutionäre Vorhut, besitzt durchaus genug politische Macht, zugleich aber gibt es Staatskapitalismus." (7)

Der letzte große Beitrag Lenins zum Kampf der Arbeiter gegen den Kapi­talismus war unmißverständlich und klar: es galt, die Arbeiter als domi­nierende politische Kraft mit dem Kapital als Produktionsmechanismus zu verbinden und beide sich gemeinsam entwickeln zu lassen. Gleichzeitig sollte aus dem System heraus versucht werden, Möglichkeiten zu seiner Überwindung zu finden. Fixpunkt des ganzen Experiments war die politische Vorrangstellung, die der Faktor Arbeit bei dieser Wiedervereini­gung mit dem Kapital einnehmen sollte: Genau darin bestand der revolutio­näre Charakter der sich vollziehenden Auseinandersetzung zwischen Arbeitern und Kapitalismus. Mit der NEP versuchte Lenin, die erste historische Gelegenheit zu schaffen, die Produktionsverhältnisse politisch zu verwan­dein und trotzdem weiterbestehen zu lassen. DerJTaktor Arbeit sollte nicht mehr politisch im Gegensatz zum Kapital stehen und ihm materiell unter­geordnet sein, sondern es sollte genau das Gegenteil erreicht werden, und zwar auf eine Weise, die es erst noch herauszufinden galt.

In diesem Sinn be­zeichnet der leninsche Ansatz der NEP eine Loslösung von der alten Welt En­gels und Putilovs (8) und stellt einen noch heute gültigen Vorschlag dar. Aber im Rußland der zwanziger Jahre wurde der Vorschlag Lenins auf eine Weise durchgeführt, die alles entstellte, was an Ketzerischem und Neuem darin enthalten war. Auf der Basis der NEP brachen die alten Gegensätze zwischen Stadt und Land, zwischen denen, die über die Produktionsmittel verfügen,und denen, die ihre Arbeitskraft verkaufen, wieder auf - und der Graben des Unverständnisses zwischen Arbeitern und Partei vertiefte sich. Lenins Nachfolger hatten nicht seinen politischen Mut. Der Parteiapparat hatte eben erst einige Erfahrung auf der formalpolltlschen Ebene und in der Frage der inneren Sicherheit des jungen Sowjetstaats gewonnen, aber er stand den zahlreichen komplexen Problemen der sozialen und ökonomischen Sphäre noch völlig hilflos gegenüber. Sich der NEP als "deus ex machina" anzuvertrauen, war die große Verlockung für die Partei, wo sich eine zuversichtliche Erwartungshaltung gegenüber den kapitalistischen Entwicklungsgesetzen breitmachte, eine Zuversicht, die größer war, als die eines liberalen englischen Freihändlers des 19. Jahrhunderts.

So wurde auf dem Land eine Wirtschaftspolitik durchgeführt, die vielmehr der rückschrittlichen und wenig zielgerichteten Politik eines Napoleon III. ähnelte,als dem "Bauernschutz" der deutschen Fürsten, der wenigstens fest auf der Basis des Kredits und der technischen Hilfeleistung beruht hatte.

Auf dem industriellen Sektor versuchte man, die "industrielle Revolution" des reichen und kühnen England des 19. Jahrhunderts zu wiederholen. Aber statt dem Modell einer ständigen Ausdehnung der Baumwoll- und Keramik-Industrie zu folgen, begleitet von einem Eingreifen der Gemeinden im Be­reich der Infrastruktur und von einer Parallelentwicklung im Bereich der Rohstoffe und Werkzeugmaschinen, ahmte man genau das nach, was beim englischen Beispiel am wenigsten exemplarisch war: Einsparung beim Konsum der Arbeiter - (wozu neueste Studien der Ansicht sind, daß das keine wirksame Bedingungen für das Wachstum des Kapitals darstellt). (9) Der Mangel an Kapital war das größte Hindernis für die Entwicklung. Schon zu Beginn der NEP-Perlode hatte die Leninsche Perspektive eines blühenden Staatskapitalismus, der aufgrund einer klugen Politik der Konzession vom internationalen Großkapital gestützt würde, Schiffbruch erlitten: Sowjetruß­land war nicht das Rußland Wittes - es bot keinen Anreiz für Investitionen auf deren Zukunft man bauen konnte. Der Adel, der im Spielcasino Dörfer und Bauern verloren hatte, erschien politisch seriöser als die Bolschewisten.

Der junge Sowjetstaat mußte ohne die fremde Finanzzufuhr auskommen, die In der Vergangenheit für die erste Industrialisierung des Landes so wichtig gewesen war. Diese Tatsache, die heute eigentlich selbstverständlich scheint, blieb der Regierung und der Partei lange verborgen. Sie unter­schätzten den Haß der Kapitalisten gegenüber der Oktoberrevolution und hatten die Illusion, es genüge, hohe Profite zu versprechen, um Auslands­kapital zu erhalten. Solche Illusionen und Erwartungen zerbrachen eigent­lich erst Ende der zwanziger Jahre, zusammen mit den Hoffnungen auf einen objektiven Mechanismus, der von der NEP hätte ausgelöst werden und die Gebräuche von Millionen halbnomadischer Bauern in wirtschaftliche Ini­tiative mit positiven Auswirkungen auf dem industriellen Sektor hätte ver­wandeln sollten.

Das Ziel den Bauern in einen Unternehmer zu verwandeln, erforderte eine langfristige Politik öffentlicher Unterstützung, die auf billigen Krediten für Investitionen und gleichzeitig auf einer Nachfrage nach Arbeitskräften hatte beruhen müssen, groß genug, um die enorme Unterbeschäftigung auf den Dörfern aufzufangen. 1921 konnte der Sowjetstaat nur einige Zugeständnisse machen, die keine allzugroßen Geldmittel beanspruchten. Gleichzeitig war die Partei fehlgeleitet durch eine Überbewertung der Grundrente, von der man glaubte, sie sei in der Lage, in der ökonomischen Entwicklung des Landes schon in ganz wenigen Jahren eine Rolle zu übernehmen, wozu in England mehr als ein Jahrhundert nötig gewesen war. Die Naturalsteuer konnte nur Kulaken, aber keine Agrarkapitalisten hervorbringen.

Der Kulak, halb Bauer, halb Händler, diese alte Persönlichkeit des bäuer­lichen Rußland, war - sobald er die Luft der neuen Gesetze geatmet - mit derselben Anmaßung wie früher wiederaufgetaucht. In jedem Dorf gab es nicht mehr als einen oder zwei von ihnen, aber genau wie früher waren sie die wirklichen Herren. Sie waren die einzigen, auf die man bei der Versor­gung der Stadt zählen konnte - denn da sie das beste Land hatten, produzier­ten sie über den Familienbedarf hinaus. Sie kannten sich mit den Maschinen «aus und zahlten ihre Steuern. Die anderen Bauern, alle mehr oder weniger arm,hingen vom Kulaken ab: bei ihm liehen sie Saatgut, bei ihm fanden sie tageweise Arbeit, er verlieh auch Maschinen und Tiere. Sie waren Opfer seiner harten Bedingungen, aber zu schwach, um sich gegen ihn zu wehren. Auch die Autoritäten waren vom guten Willen des Kulaken abhängig,und im Dorf waren sich alle darüber klar, sowohl die armen Bauern, die im Sow­jet und der Partei waren, als auch die Mittelbauern, die versucht hatten, ihre Lage durch Produktions- und Distributionskooperativen zu bessern, welche dann elend gescheitert waren. Die alte Spirale, die die horizontale Agrarentwicklung abwürgte, galt immer weiter, mit ihren Ursachen und Folgen: Die Armut an Geldkapital, die die Verwandlung der Kulaken in Agrar­kapitalisten blockierte; der Mangel an Agrarkrediten,mit denen es möglich gewesen wäre, zu verhindern, daß der kleine Bauer sich an den Kulaken wenden mußte oder daß der Händler In der Stadt wiederum den Kulaken stran­gulierte; Der niedrige offizielle Preis der Argrarprodukte, der keine Inve­stitionen in diesen Sektor stimulierte; und schließlich das geringe Ausmaß, in dem Industrieprodukte auf die Dörfer gelangten. Welchen Sinn hatte die Koexistenz von Sowjets und dem fetten, triumphierenden, analphabetischen Kulaken, der von der Tür seines Hofes aus das Leben im Dorf kontrollier­te, wobei im Dorf nicht einmal mehr die Regeln des alten "mir" (10) eine Ordnung garantierten ?

Fußnoten

(1) Lenin, Werke (LW) Bd. 32, S.430 und 432 f.
(2) LW 33, S.46.
(3) LW 32, S.364.
(4) LW 33, S.46.
(5) LW 24, S.298 f.
(6) LW 33, S.80 und LW 32, S.358.
(7) LW 33, S.264 f.
(8) Entfällt.
(9) II capitalismo e gli storici, Florenz 1967; Vgl. bes. den Aufsatz von Hartwell, Technological Change and Development in Western Europe 1750-1914, in: The Cambridge Economy History of Europe, Bd. IV, Teil I.
(10) Die alte russische Dorfgemeinde mit ihrer spezifischen Gemein­schaftsverfassung, die eine Art Kollektivbewirtschaftung des gemein­deeigenen Landes vorsah.

Quelle: Rita di Leo, Die Arbeiter und das sowjetische System, München 1973, S.8-13