1917 hieß das Ziel: Alle
Macht den Räten; 1921 hieß es: das ganze Kapitalsystem
den Arbeitern. Die Erfahrung hatte gezeigt, daß es möglich
war, sich der Kapitalisten zu entledigen, während man beim
Kampf gegen die Produktionsverhältnisse zu viele Regeln
noch nicht durchschaute. Das Kapital mit seinen beiden
Teilen, der eine lebendig, der andere erst mit Leben zu
erfüllen, mußte in Bewegung gesetzt werden, um verwundbar
zu werden. Und einer der beiden Teile, der lebendige, die
Arbeiterklasse, mußte die Initiative ergreifen: das
Kapital mußte sich also selbst in Bewegung setzen, sich
als Kapital erkennen und über das Kapital als System
entscheiden. 1917 war es die Funktion der Partei gewesen,
der Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse
ihre formale Legitimation zu geben; 1921 bestand sie,
nicht darin, den Sowjetstaat zu retten, sondern die
natürliche Umgebung wieder herzustellen, in der die
Arbeiterklasse als solche handeln und so die übrige
Gesellschaft vorantreiben konnte: "Die materielle
Hauptbasis für die Entwicklung des proletarischen
Klassenbewußtseins ist die Großindustrie, wenn der
Arbeiter die in Betrieb befindlichen Fabriken sieht, wenn
er tagtäglich jene Kraft verspürt, die tatsächlich
imstande sein wird, die Klassen aufzuheben.(...) Anfang
1921 sahen wir, daß nach der Beendigung des Kampfes gegen
die äußeren Feinde die Hauptgefahr, das größte Übel darin
bestand, daß wir außerstande waren, die ununterbrochene
Produktionsarbeit in den größten Betrieben zu sichern, die
uns in geringer Zahl verblieben waren. Das ist das
Ausschlaggebende. Ohne diese ökonomische Basis kann es
keine feste politische Macht der Arbeiterklasse geben."
(1) Die Zugeständnisse an die Bauern sollten dazu dienen,
ein günstiges Klima für den Kapitalismus zu schaffen,
nicht als Ziel für sich selbst, sofern um die
Weiterentwicklung der Revolution zu ermöglichen: "Die
Kapitalisten werden aus unserer Politik Vorteile ziehen
und werden ein Industrieproletariat schaffen, das bei uns
durch den Krieg und die furchtbare (Verwüstung und
Zerrüttung deklassiert, d.h. aus seinem Klassengeleise
geworfen ist und aufgehört hat, als Proletariat zu
existieren." (2)
Aufgabe der Partei war es,
eben durch die NEP die Bedingungen dafür zu schaffen, daß
das Proletariat wieder als solches entstand, den Angriff
gegen das Kapital zu Ende führen konnte, und zwar von
Innen heraus. Die Ergreifung der Staatsmacht durch die
Arbeiterklasse war nichts als die Vorstufe zu anderen
Eroberungen, die alle durch die Arbeiterklasse selbst in
ihrem natürlichen Verhältnis zum Kapitalsystem vollzogen
werden mußten. Die Revolution hatte auf der
Februarinitiative der Arbeiter basiert; in jeder ihrer
Schritte hatte sich der Druck der Arbeiterklasse gezeigt.
Im Abebben der Revolution spiegelte sich das Schwinden
der proletarischen Präsenz, der materielle
Auflösungsprozess des Industrieproletariats wider.
Die NEP sollte dazu dienen, den
Tagen des Februar eine Fortsetzung zu geben, den
revolutionären Prozeß in neuen Formen wieder in Bewegung
zu setzen, jedoch ohne weitere frontale Angriffe. Denn die
frühere Destruktionswut hatte zuerst die Kapitalisten
getroffen, dann die Arbeit, die Arbeitsbedingungen, die
Produktionsmittel,und schließlich hatte sie die Klasse
selbst erfaßt, die Voraussetzung ihrer Existenz als Klasse
untergraben.
Durch die NEP sollte
erreicht werden, das die Arbeiterklasse ihre Rolle als
Widerpart des Kapitals übernahm, daß sie sich als
konstitutives Element des Systems begriff und daß die
Voraussetzung für den Sozialismus in den Arbeiterkämpfen
selbst entdeckt und erobert wurden und nicht durch
administrative Entscheidungen erlassen würden.
"Der Kapitalismus ist ein
Übel gegenüber dem Sozialismus. Der Kapitalismus ist ein
Segen gegenüber dem Mittelalter, gegenüber der
Kleinproduktion, gegenüber dem mit der Zersplitterung der
Kleinproduzenten zusammenhängenden Bürokratismus.
Insofern wir nicht imstande sind, den unmittelbaren
Übergang von der Kleinproduktion zum Sozialismus zu
verwirklichen, insofern ist der Kapitalismus in gewissem
Maße unvermeidlich als das elementar entstehende Produkt
der Kleinproduktion und des Austausches und insofern
müssen wir uns den Kapitalismus zunutze machen (...)
als verbindendes Kettenglied zwischen der Kleinproduktion
und dem Sozialismus als Mittel, Weg, Behelf, Methode zur
Steigerung der Produktivkräfte." (3) Die Aussagen Lenins
über die grundlegende Funktion der NEP sind
unmiß-verständlich:"Wenn der Kapitalismus wiederersteht,
so heißt das, daß auch die Klasse des Proletariats
wiedererstehen wird, das mit der Produktion materieller,
für die Gesellschaft nützlicher Güter beschäftigt ist
(...) und sich nicht mit Spekulation, nicht mit der
Herstellung von Feuerzeugen zum f Verkauf und sonstiger
'Arbeit' befaßt, die nicht gerade nützlich , aber bei dem
zerrütteten Zustand unserer Industrie völlig
unvermeidlich." (4)
Aiso: Der Kapitalismus als
materielle Vorbedingung für die politische Kraft, die für
die Partei, für die antikapitalistische Revolution
unerläßlich ist. Weiterhin, der Kapitalismus als Basis
gesellschaftlicher Produktion, im Gegensatz zur kleinen
und unterentwickelten Handwerks- und
Manufakturproduktion. Und schließlich, der Kapitalismus
als Möglichkeit zur Kontrolle und Voiausplanung der
Produktions- und Tauschverhältnisse. "Interessant ist, das
Engels vor 27 Jahren auf die Unzulänglichkeit einer
Betrachtung des Kapitalismus hinwies, bei der man die Rolle
der Trusts übersieht und sagt, das Merkmal des
Kapitalismus sei die Planlosigkeit.
Engels
bemerkt dazu: 'Und wenn wir zu den Trusts übergehen (...),
so hört da auch die Planlosigkeit auf , und doch ist das
Kapitalismus (...). Die Einführung
der Planmäßigkeit befreit die Arbeiter nicht davon,
Sklaven zu sein, die Kapitalisten
aber streichen ihre Profite
'planmäßiger'."(5) Fünf Jahre an
der Spitze des Landes und der Partei hatten Lenin
überzeugt daß Arbeit und Kapital
bewußt vereint werden mußten, um die Dynamik des
revolutionären Prozesses nicht zu blockieren. Ohne die
Klasse hatte sich die revolutionäre Spannung gelöst; ohne
Kapital war die Klasse verschwunden. Und die
Wiedervereinigung beider Teile mußte bei hellem Tageslicht
vollzogen werden.
"Die Lage, die durch unsere
Neue Ökonomische Politik geschaffen worden ist -
Entwicklung kleiner Handelsbetriebe, Verpachtung von
Staatsbetrieben usw. -, all dies bedeutet Entwicklung
kapitalistischer Verhältnisse, und das nicht sehen zu
wollen, würde bedeuten, völlig den Kopf verlieren." - "Die
ganze Frage besteht - sowohl theoretisch als auch
praktisch - darin, richtige Methoden zu finden, wie
man die (...) unvermeidliche Entwicklung des
Kapitalismus in das Fahrwasser des Staatskapitalismus
lenken soll, welche Bedingungen man hierfür schaffen muß,
wie man für die nahe Zukunft die Umwandlung
des Staatskapitalismus in den Sozialismus zu
sichern hat." (6)
Die Entscheidung für den
Staatskapitalismus war der Anfang eines Experiments, das
"in der Geschichte überhaupt noch nie dagewesen " sei: "In
der Frage des Staatskapitalismus machen, wie mir scheint,
unsere Presse und unsere Partei überhaupt den Fehler, daß
wir in intelllgenzlerische Denkweise, in
Liberalismus verfallen, darüber klügeln, wie man den
Staatskapitalismus zu verstehen habe, und in alten Büchern
nachschlagen. Aber dort ist von etwas ganz anderem die
Rede: dort ist über den Staatskapitalismus geschrieben,
der unter dem Kapitalismus vorkommt, aber es gibt kein
einziges Buch, wo über den Staatskapitalismus geschrieben
wäre, der unter dem Kommunismus vorkommt (...) .Das ist
doch eine Lage, wie sie in der Geschichte überhaupt
noch nie dagewesen ist: Das Proletariat, die revolutionäre
Vorhut, besitzt durchaus genug politische Macht, zugleich
aber gibt es Staatskapitalismus." (7)
Der letzte große Beitrag
Lenins zum Kampf der Arbeiter gegen den Kapitalismus war
unmißverständlich und klar: es galt, die Arbeiter als
dominierende politische Kraft mit dem Kapital als
Produktionsmechanismus zu verbinden und beide sich
gemeinsam entwickeln zu lassen. Gleichzeitig sollte aus
dem System heraus versucht werden, Möglichkeiten zu seiner
Überwindung zu finden. Fixpunkt des ganzen Experiments war
die politische
Vorrangstellung, die der Faktor Arbeit bei dieser
Wiedervereinigung mit dem Kapital einnehmen sollte: Genau
darin bestand der revolutionäre Charakter der sich
vollziehenden Auseinandersetzung zwischen Arbeitern
und Kapitalismus. Mit der NEP versuchte Lenin, die erste
historische Gelegenheit zu schaffen, die
Produktionsverhältnisse politisch zu verwandein und
trotzdem weiterbestehen zu lassen. DerJTaktor Arbeit
sollte nicht mehr politisch im Gegensatz zum Kapital
stehen und ihm materiell untergeordnet sein, sondern es
sollte genau das Gegenteil erreicht werden, und zwar auf
eine Weise, die es erst noch herauszufinden galt.
In diesem Sinn bezeichnet
der leninsche Ansatz der NEP eine
Loslösung von der alten Welt Engels und Putilovs (8) und
stellt einen noch heute gültigen Vorschlag dar. Aber
im Rußland der zwanziger Jahre wurde der Vorschlag Lenins
auf eine Weise durchgeführt, die alles entstellte, was an
Ketzerischem und Neuem darin enthalten war. Auf der Basis
der NEP brachen die alten Gegensätze zwischen Stadt und
Land, zwischen denen, die über die Produktionsmittel
verfügen,und denen, die ihre Arbeitskraft verkaufen,
wieder auf - und der Graben des Unverständnisses zwischen
Arbeitern und Partei vertiefte sich. Lenins Nachfolger
hatten nicht seinen politischen Mut. Der Parteiapparat
hatte eben erst einige Erfahrung
auf der formalpolltlschen Ebene und in der Frage der
inneren Sicherheit des jungen Sowjetstaats gewonnen, aber
er stand den zahlreichen komplexen Problemen der sozialen
und ökonomischen Sphäre noch völlig hilflos gegenüber.
Sich der NEP als "deus ex machina" anzuvertrauen, war die
große Verlockung für die Partei, wo sich eine
zuversichtliche Erwartungshaltung gegenüber den
kapitalistischen Entwicklungsgesetzen
breitmachte, eine Zuversicht, die größer war, als
die eines liberalen englischen Freihändlers des 19.
Jahrhunderts.
So wurde auf dem Land eine
Wirtschaftspolitik durchgeführt, die vielmehr der
rückschrittlichen und wenig zielgerichteten Politik eines
Napoleon III. ähnelte,als dem "Bauernschutz" der deutschen
Fürsten, der wenigstens fest auf der Basis des Kredits und
der technischen Hilfeleistung beruht hatte.
Auf dem industriellen Sektor
versuchte man, die "industrielle Revolution" des reichen
und kühnen England des 19. Jahrhunderts zu wiederholen.
Aber statt dem Modell einer ständigen Ausdehnung der
Baumwoll- und Keramik-Industrie zu folgen, begleitet von
einem Eingreifen der Gemeinden im Bereich der
Infrastruktur und von einer Parallelentwicklung im Bereich
der Rohstoffe und Werkzeugmaschinen, ahmte man genau das
nach, was beim englischen Beispiel am wenigsten
exemplarisch war: Einsparung beim Konsum der Arbeiter -
(wozu neueste Studien der Ansicht sind, daß das keine
wirksame Bedingungen für das Wachstum des Kapitals
darstellt). (9) Der Mangel an Kapital war das größte
Hindernis für die Entwicklung. Schon zu Beginn der
NEP-Perlode hatte die Leninsche Perspektive eines
blühenden Staatskapitalismus, der aufgrund einer klugen
Politik der Konzession vom internationalen Großkapital
gestützt würde, Schiffbruch erlitten: Sowjetrußland war
nicht das Rußland Wittes - es bot keinen Anreiz für
Investitionen auf deren Zukunft man bauen konnte. Der
Adel, der im Spielcasino
Dörfer und Bauern verloren hatte, erschien politisch
seriöser als die Bolschewisten.
Der junge Sowjetstaat mußte
ohne die fremde Finanzzufuhr auskommen, die In der
Vergangenheit für die erste Industrialisierung des Landes
so wichtig gewesen war. Diese
Tatsache, die heute eigentlich selbstverständlich scheint,
blieb der Regierung und der Partei lange verborgen. Sie
unterschätzten den Haß der Kapitalisten gegenüber der
Oktoberrevolution und hatten die Illusion, es genüge, hohe
Profite zu versprechen, um Auslandskapital zu erhalten.
Solche Illusionen und Erwartungen zerbrachen eigentlich
erst Ende der zwanziger Jahre, zusammen mit den Hoffnungen
auf einen objektiven Mechanismus, der von der NEP hätte
ausgelöst werden und die Gebräuche von Millionen
halbnomadischer Bauern in wirtschaftliche Initiative mit
positiven Auswirkungen auf dem industriellen Sektor hätte
verwandeln sollten.
Das Ziel den Bauern in einen
Unternehmer zu verwandeln,
erforderte eine langfristige Politik öffentlicher
Unterstützung, die auf billigen Krediten für Investitionen
und gleichzeitig auf einer Nachfrage nach Arbeitskräften
hatte beruhen müssen, groß genug, um die enorme
Unterbeschäftigung auf den Dörfern aufzufangen. 1921
konnte der Sowjetstaat nur einige Zugeständnisse machen,
die keine allzugroßen Geldmittel beanspruchten.
Gleichzeitig war die Partei fehlgeleitet durch eine
Überbewertung der Grundrente, von der man glaubte, sie sei
in der Lage, in der ökonomischen Entwicklung des Landes
schon in ganz wenigen Jahren eine Rolle zu übernehmen,
wozu in England mehr als ein Jahrhundert nötig gewesen
war. Die Naturalsteuer konnte nur Kulaken, aber keine
Agrarkapitalisten hervorbringen.
Der Kulak, halb Bauer, halb
Händler, diese alte Persönlichkeit des bäuerlichen
Rußland, war - sobald er die Luft der neuen Gesetze
geatmet - mit derselben Anmaßung wie früher
wiederaufgetaucht. In jedem Dorf gab es nicht mehr als
einen oder zwei von ihnen, aber genau wie früher waren sie
die wirklichen Herren. Sie waren die einzigen, auf die man
bei der Versorgung der Stadt zählen konnte - denn da sie
das beste Land hatten, produzierten sie über den
Familienbedarf hinaus. Sie kannten sich mit den Maschinen
«aus
und zahlten ihre Steuern. Die anderen Bauern, alle mehr
oder weniger arm,hingen vom Kulaken ab: bei ihm liehen sie
Saatgut, bei ihm fanden sie tageweise Arbeit, er verlieh
auch Maschinen und Tiere. Sie waren Opfer seiner harten
Bedingungen, aber zu schwach, um sich gegen ihn zu wehren.
Auch die Autoritäten waren vom guten Willen des Kulaken
abhängig,und im Dorf waren sich alle darüber klar, sowohl
die armen Bauern, die im Sowjet und der Partei waren, als
auch die Mittelbauern, die versucht hatten, ihre Lage
durch Produktions- und Distributionskooperativen zu
bessern, welche dann elend gescheitert waren. Die alte
Spirale, die die horizontale Agrarentwicklung abwürgte,
galt immer weiter, mit ihren Ursachen und Folgen: Die
Armut an Geldkapital, die die Verwandlung der Kulaken in
Agrarkapitalisten blockierte; der Mangel an
Agrarkrediten,mit denen es möglich gewesen wäre, zu
verhindern, daß der kleine Bauer sich an den Kulaken
wenden mußte oder daß der Händler In der Stadt wiederum
den Kulaken strangulierte; Der niedrige offizielle Preis
der Argrarprodukte, der keine Investitionen in diesen
Sektor stimulierte; und schließlich das geringe Ausmaß,
in dem Industrieprodukte auf die Dörfer gelangten.
Welchen Sinn hatte die Koexistenz von Sowjets und dem
fetten, triumphierenden, analphabetischen Kulaken, der von
der Tür seines Hofes aus das Leben im Dorf kontrollierte,
wobei im Dorf nicht einmal mehr die Regeln des alten "mir"
(10) eine Ordnung garantierten ?
Fußnoten
(1) Lenin,
Werke (LW) Bd. 32, S.430 und 432 f.
(2) LW 33, S.46.
(3) LW 32, S.364.
(4) LW 33, S.46.
(5) LW 24, S.298 f.
(6) LW 33, S.80 und LW 32, S.358.
(7) LW 33, S.264 f.
(8) Entfällt.
(9) II capitalismo e gli storici, Florenz 1967; Vgl. bes.
den Aufsatz von Hartwell, Technological Change and
Development in Western Europe 1750-1914, in: The Cambridge
Economy History of Europe, Bd. IV, Teil I.
(10) Die alte russische Dorfgemeinde mit ihrer
spezifischen Gemeinschaftsverfassung, die eine Art
Kollektivbewirtschaftung des gemeindeeigenen Landes
vorsah.
Quelle: Rita di Leo, Die Arbeiter und das
sowjetische System, München 1973, S.8-13
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