Am 24. September sind wieder
mal Bundestagswahlen. Können wir nur wählen,
„welche Mörder uns befehlen, welche Diebe uns
bestehlen“ (TonSteineScherben)? Wenn Wählen was
bringen würde, wäre es verboten? Aber war es nicht
schon mal verboten? Was sollten die Kriterien sein,
wenn Linke entscheiden, ob und wenn ja wo sie ihr
„Kreuzchen“ machen?
Eigentlich am
Naheliegendsten: Was steht im Programm einer
Partei?
Mitte Juni fand der
Wahlprogramm-Parteitag der LINKEN statt. Sicher gab
es einige Merkwürdigkeiten zu vermelden. So z. B.
den Beschluss, dass die LINKE nun nicht mehr dafür
ist, die Konkordatsverträge mit den beiden großen
christlichen Kirchen zu kündigen. Das dürfte
Menschen, die für die Trennung von Kirche und Staat
kämpfen, nicht gerade motivieren, die LINKE zu
wählen.
Aber ansonsten stehen in dem
über 100 Seiten dicken Wahlprogramm jede Menge gute
und richtige Forderungen. Leider bleibt ziemlich im
Unklaren, wie und vor allem von wem all die schönen
Forderungen durchgesetzt werden sollen. Vielleicht
von der sogenannten „Zivilgesellschaft“? Die hat
sich im Juli in Gestalt des „Civil-20-Gipfels
(C20)“ bei Kanzlerin Merkel eingeschleimt: „Die
Bundesregierung hat ein offenes Ohr für die
Anliegen der Zivilgesellschaft.“
Aber ansonsten stehen in
dem über 100 Seiten dicken Wahlprogramm jede
Menge gute und richtige Forderungen.
Oder vielleicht von der guten
alten „Arbeiterklasse“? Bei den Stellungnahmen
mancher führender LINKEN-Politiker*innen hat man
den Eindruck, sowas wie „Klassen“ gibt es gar nicht
mehr. Oder reicht es vielleicht, wenn „unsere“
Leute in Parlamenten und Regierungen eine clevere
Politik machen…?
Viele neigen dazu, (Wahl-)
Programme zu überschätzen. Wer das Wesen einer
Partei vor allem aus ihrem Programm erklärt, kann
ziemlich schnell ziemlich schief liegen. Das war
schon immer so.
Das Gothaer Programm der SAPD
(Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands – so
hieß die Sozialdemokratie damals) von 1875 war
schlecht und dennoch war die Partei von August
Bebel damals real eine klassenkämpferische
Organisation. Das 16 Jahre später beschlossene
Erfurter Programm war besser, „marxistischer“ – und
dennoch war die SPD durchaus schon auf dem Weg zum
„Burgfrieden“ mit den Herrschenden.
Sagt die soziale Basis der
Mitglied-/Wählerschaft einer Partei mehr über sie
aus? Klar – „Arbeiterpartei“ ist besser als
„Apothekerpartei“. Darf aber auch nicht
überbewertet werden. In Frankreich ist momentan der
Font National von Marine Le Pen zumindest bei den
Wählern die stärkste „Arbeiterpartei“. Und Rüttgers
stellte nach seinem Wahlsieg 2005 leider zu Recht
fest, seine CDU sei die „neue Arbeiterpartei“ in
NRW. Die LINKE in Meck-Pomm hingegen ist bei der
letzten Landtagswahl von gerade noch 9 % der
Industriearbeiter*innen gewählt worden.
Fast alle Parteioberen
fast aller linken Parteien fast aller Zeiten
pfeifen auf die Grundsätze ihrer Partei, wenn’s
drauf ankommt – nämlich auf Macht, Kohle und
Privilegien.
Viele sagen: Programme sind
Schall und Rauch – was zählt ist das (Regierungs-)
Handeln. Da sieht es besonders düster aus: Fast
alle Parteioberen fast aller linken Parteien fast
aller Zeiten pfeifen auf die Grundsätze ihrer
Partei, wenn’s drauf ankommt – nämlich auf Macht,
Kohle und Privilegien.
Ein besonders abstoßendes und
niederschmetterndes Beispiel hierfür haben nur eine
Woche vor dem Programm-Parteitag der LINKEN deren
Vertreter*innen aus Berlin, Brandenburg und
Thüringen (wo sie in der Regierung sitzen bzw. den
Ministerpräsidenten stellen) im Bundesrat
abgeliefert. Dort stimmten sie einer
Grundgesetz-Änderung zu, welche die Tür zur
Privatisierung (nicht nur) der deutschen Autobahnen
weit aufstößt.
Ein Desaster – denn in der
Bevölkerung steht die LINKE vor allem für drei
Grundsätze: Keinerlei Sozialabbau + keinerlei
Privatisierungen + keinerlei deutsche
Kriegsbeteiligung. Ein tragender Pfeiler des
politischen Profils, ein Alleinstellungsmerkmal der
LINKEN wurde damit schwer beschädigt. Besonders
fatal: Nur einen Tag vorher hielten LINKE im
Bundestag feurige Anti-Privatisierungs-Reden, die
LINKE-Fraktion stimmte geschlossen gegen den
Entwurf.
Die ISO streitet
gemeinsam mit anderen entschieden
antikapitalistischen Kräften in der LINKEN dafür,
dass Programm und Grundsätze der Partei für alle
– also auch für Parlamentarier*innen und
Minister*innen – zu gelten haben.
In den Augen der Leute
(zumindest derer, die sich überhaupt noch für
Politik interessieren) hat sich die LINKE damit
blamiert wie alle anderen Parteien im
schwarz-rot-grün-gelben Einheitsbrei: Am Sonntag
dagegen predigen, am Montag dafür stimmen. Die ISO
streitet gemeinsam mit anderen entschieden
antikapitalistischen Kräften in der LINKEN dafür,
dass Programm und Grundsätze der Partei für alle –
also auch für Parlamentarier*innen und
Minister*innen – zu gelten haben.
Aber vielleicht ist das
alles zu kurzfristig-tagespolitisch gedacht – geht
es in Wirklichkeit nicht um den grundsätzlichen
Charakter einer Partei?
Die ISO versteht sich als
revolutionäre Organisation. Wir wollen dazu
beitragen, den Kapitalismus und den bürgerlichen
Klassenstaat zu stürzen. Das will die LINKE
erklärtermaßen nicht – was aber kein Grund sein
sollte, sie nicht zu wählen.
Die LINKE will den Kapitalismus
erträglicher machen und die brutalen neoliberalen
„Reformen“ der letzten 30 bis 40 Jahre wieder
zurückdrängen. Marxist*innen kritisieren das –
nicht weil sie es nicht auch gut fänden, sondern
weil sie diese Strategie für wenig
erfolgversprechend halten.
Es gibt kein Zurück zu den
„goldenen“ sozialdemokratischen Zeiten der 1970er
Jahre – der damalige Klassenkompromiss wurde nicht
von „unten“, sondern von „oben“ gekündigt, von
„sozialdemokratischen“ Führern wie Blair und
Schröder. Andererseits: Wir leben in ziemlich
„nicht-revolutionären“ Zeiten, es käme also einem
politischen Wunder gleich, wenn die LINKE so
„richtig“ revolutionär wäre.
Kleinen Gruppen wie der unseren
steht ein wenig Bescheidenheit gut zu Gesicht –
nicht die ISO, sondern die LINKE steht in
Meinungsumfragen bei bis zu 10 %.
Es gibt kein Zurück zu
den „goldenen“ sozialdemokratischen Zeiten der
1970er Jahre – der damalige Klassenkompromiss
wurde nicht von „unten“, sondern von „oben“
gekündigt, von „sozialdemokratischen“ Führern wie
Blair und Schröder.
Wir sind ja sonst auch immer
und überall gegen das neoliberale
Glaubensbekenntnis „TINA“ (There is no alternative
– Es gibt keine Alternative). Dann sollten wir bei
unserer Wahlentscheidung eben auch einen Blick auf
die zur Wahl stehenden antikapitalistischen
Alternativen werfen. DKP, MLPD und PSG liegen in
der Wählergunst nur knapp über der
Wahrnehmbarkeitsschwelle – nämlich im Bereich 0,1
%. Das alleine kann aber kein Grund sein, nicht zu
ihrer Wahl aufzurufen. Uns trennen von diesen
Parteien grundsätzliche Differenzen, diese Art von
Kandidaturen bringen die Arbeiter*innenbewegung und
die Linke in Deutschland keinen Millimeter voran.
Wie wär’s mit ungültig stimmen, mit Wahlboykott?
Das kann in bestimmten
historischen Situationen ein probates Mittel sein,
Protest gegen die herrschenden Verhältnisse
auszudrücken. Aktuell würden ungültige Stimmen aber
von den bürgerlichen Medien der allgemeinen
„Politikverdrossenheit“ und also den
Rechtspopulist*innen zugeschlagen. Damit kommen wir
zu einer Besonderheit dieser Bundestagswahl und zu
einem wichtigen Grund, am 24. September die LINKE
zu wählen – dem Erstarken der AfD. Es ist ja
eigentlich ein schlechter Witz, dass diese
arbeiter- und gewerkschaftsfeindliche,
pro-kapitalistische und dazu aggressiv neoliberale
Formation als „Protestpartei“ der Ausgebeuteten und
Abgehängten durchgeht. Zeigen wir, dass der Protest
gegen dieses menschenverachtende System von links
und nicht von rechts kommt!
Aktuell würden ungültige
Stimmen aber von den bürgerlichen Medien der
allgemeinen „Politikverdrossenheit“ und also den
Rechtspopulist*innen zugeschlagen.
Auf der Wahlebene geht das nur,
wenn die LINKE im nächsten Bundestag möglichst
stark vertreten ist – also: LINKE wählen, um der
AfD und zugleich den anderen neoliberalen Parteien
CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP die rote Karte zu
zeigen!
Natürlich soll linkes Wählen
nicht nur „nützlich“ sein, sondern idealerweise
auch die eigene grundsätzliche Haltung zum Ausdruck
bringen. Die bereits angesprochene skandalöse
„Autobahn-Nummer“ zeigt ja noch mal, wo das
Hauptproblem der LINKEN liegt: Sie ist eigentlich
„zwei Parteien in einer“. Im Osten ist sie
überwiegend die Partei derjenigen, die es
„geschafft“ haben, die angekommen sind im
wiedervereinigten kapitalistischen Deutschland.
Sobald sie in einer Regierung sitzt, beteiligt sie
sich hemmungslos an Sozialkürzungen und
Privatisierungen und ist von gewöhnlichen
bürgerlichen Parteien kaum mehr zu unterscheiden.
Dementsprechend begegnen ihr dort
Billiglöhner*innen und Hartzer*innen mit
Gleichgültigkeit oder sogar offenem Hass. Im Westen
ist sie überwiegend eine ehrlich
linksreformistische Kraft (das ist nicht wenig in
Zeiten wie diesen). In manchen Landesverbänden
(etwa in NRW gibt es einen einflussreichen klar
antikapitalistischen Flügel. Hier gilt sie zu Recht
als Verteidigerin der Lohnabhängigen und der
„Prekären“.
Und was machen wir nun? Skepsis
bezüglich der Standhaftigkeit bei
Regierungsbeteiligungen (die ja auch in westlichen
Ländern oder im Bund nicht ausgeschlossen sind) ist
mehr als angebracht.
In der Gesamtschau sollten die
Alleinstellungsmerkmale den Ausschlag geben: Es
gibt in Deutschland keine andere Partei (jedenfalls
keine, die Chancen hat, in den Bundestag
einzuziehen), die die Abschaffung von Hartz IV samt
Repressionsapparat und eine bedingungslose
Mindestsicherung von 1050 € fordert.
Unrealistisch? Das haben wir
vom Mindestlohn vor ein paar Jahren auch gedacht.
Die schiere parlamentarische Existenz der LINKEN
hat mit dazu beigetragen, dass es den nun gibt.
Es gibt in Deutschland
keine andere Partei (jedenfalls keine, die
Chancen hat, in den Bundestag einzuziehen), die
die Abschaffung von Hartz IV samt
Repressionsapparat und eine bedingungslose
Mindestsicherung von 1050 € fordert.
Die ISO ruft also dazu auf, bei
der Bundestagswahl Die LINKE zu wählen – auch und
gerade diejenigen, die große Bauchschmerzen mit der
Parlamentsfixierung der Partei (in Ost und West)
haben. Es wird Zeit, dass sich die radikale Linke
in Deutschland mal ehrlich macht. Wir kennen
nämlich keine noch so scharfen linken
Kritiker*innen der LINKEN, die am Wahlabend vor dem
Fernseher sitzen und bei Bekanntgabe einer
Wahlschlappe der LINKEN jubelnd aus dem Sessel
springen, um in der Küche erst mal eine Flasche
Sekt aufzumachen. Allgemeiner formuliert: Eine
Niederlage der LINKEN wäre auch eine Niederlage für
die gesamte Linke, für die deutsche
Arbeiter*innenklasse und die sozialen Bewegungen.
Wahlen für bürgerliche
Parlamente sind in der Regel kein Wunschkonzert.
Wer im Osten wohnt oder wem sich beim Gedanken an
die Anpassung an die etablierte Politik gerade in
Landesregierungen der Magen umdreht, sollte sich
selbst möglichst ehrlich die Frage beantworten, ob
z. B. ein Scheitern der LINKEN an der 5 %-Hürde die
Arbeits- und Kampfbedingungen der Linken insgesamt
bzw. der sozialen Bewegungen bzw. der
Gewerkschaften verbessert oder verschlechtert.
Also: Kreuz bei der
LINKEN, aber bitte nicht die eigene Stimme
tatsächlich abgeben!
Die „grauen Gipfelherren“
fürchten sich nicht vor ein paar linken
Staatssekretär*innen und Minister*innen, richtiges
Fracksausen kommt bei den Herrschaften erst auf,
wenn wir beginnen, die Dinge selber in die Hand zu
nehmen. Selbsttätigkeit und Selbstorganisation in
Betrieb, in Schule und Uni, in der Nachbarschaft –
erst wenn wir da ein Stück weiter kommen, wird sich
wirklich was ändern in diesem Land.
Quelle:
intersoz.org/die-linke-waehlen-aber