Der schmutzige Algerienkrieg
Über das Objekt der ersten Solidaritätsbewegung

Von Werner Balsen und Karl Rössel (1986)

Wer heute die „Demokratische Volksrepublik Algerien" besucht, kann im modernen, neuen Revolutionsmuseum in Algier handgebastelte Bomben bewundern, die mit altmodischen Weckern zu zünden sind. Mit Bomben dieser Art begann die kurze Zeit vorher gegründete »Front de Liberation Nationale" (FLN) am l. November 1954 den algerischen Befreiungskrieg. Nach über einem Jahrhundert Unterdrückung und Kolonialherrschaft traten die Algerier zum bewaffneten Kampf für die Unabhängigkeit ihres Landes an. 1830 hatten die Franzosen zunächst Städte und kleinere Landstriche an der afrikanischen Nordküste besetzt. Schon bei diesen ersten Vorstößen stießen sie auf Widerstand der Algerier, der brutal niedergemacht wurde. Das Revolutionsmuseum in Algier dokumentiert den Kampf um die Stadt im neunzehnten Jahrhundert und die immer wieder auftauchenden Guerilla-ähnlichen Widerstandsgruppen in allen Teilen des Landes. Sie waren allerdings den gut bewaffneten Kolonialherren aus Frankreich lange Zeit nicht gewachsen. Die Franzosen interessierten sich zunächst vor allem für die fruchtbaren Ebenen der Küstengegenden. Die Ausstellung in Algier zeigt, wie traditionelle Landbesitzer verjagt und in die algerische Wüste verbannt wurden. Die Landwirtschaft Algeriens wurde von den Kolonialherren nach und nach vollständig auf die Bedürfnisse des »Mutterlandes" Frankreich ausgerichtet. Das führte zum Beispiel dazu, daß in diesem islamischen Land, wo laut Koran der Alkoholgenuß verboten ist, riesige Weinfelder für die Herren aus Frankreich angelegt wurden. Während Wein, Orangen und Weizen nach Frankreich transportiert wurden bzw. zur Ernährung der anwachsenden Zahl französischer ,,colons" (Siedler) in Algerien dienten, hungerte die einheimische Bevölkerung. Vor der Kolonialherrschaft hatten fast alle Algerier in Koran-Schulen lesen und schreiben gelernt. Als die Franzosen diese Schulen und die arabische Sprache verboten, wurden Generationen von Algeriern zu Analphabeten gemacht.

Als Kanonenfutter waren die Algerier den Franzosen allerdings immer gut genug. Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg versprach Frankreich den Algeriern für die Unterstützung der französischen Armee gegen die Deutschen die Unabhängigkeit. Deshalb feierten die Algerier den 8. Mai 1945, den Tag der deutschen Kapitulation, auch als Ende der Kolonialzeit. Im Revolutionsmuseum von Algier hängt ein Bild von diesem Tag: Es zeigt jubelnde Menschenmengen mit algerischen Fahnen. Minuten später verwandelten die Franzosen diese Demonstrationen in ein Blutbad. Französische Soldaten schössen in die Menge. Französische Flugzeuge bombardierten die unbewaffneten algerischen Freiheitsdemonstranten in verschiedenen Städten. Das Fazit des 8. Mai 1945 in Algerien: 45.000 Ermordete an einem einzigen Tag. Bilder im Museum zeigen, wie die Leichenberge von französischen Soldaten vor die Städte geschafft und verbrannt wurden. Den Algeriern blieb keine andere Wahl: Nur durch bewaffnete Gegenwehr hatten sie eine Chance, ihre Freiheit zu erkämpfen. Es wurde einer der blutigsten Befreiungskriege der Kolonialgeschichte. Der Krieg dauerte acht Jahre lang, von 1954 bis 1962. Eine Woche nach den ersten Anschlägen der algerischen Untergrundbewegung erklärte Francois Mitterand, damals französischer Innenminister: »Algerien ist und bleibt Frankreich. Gegen jeden, der auf die eine oder andere Weise versucht, Unruhe zu stiften und eine Abspaltung herbeizuführen, werden wir mit allen Mitteln, die uns das Gesetz an die Hand gibt, zurückschlagen." Auf den Aufstand der Algerier antworteten die Franzosen mit einer Politik der verbrannten Erde, mit Massakern, Folterungen und dem Einsatz von Napalmbomben auch gegen die Zivilbevölkerung. Doch der Terror der Besatzer stärkte nur den Willen der Algerier nach Unabhängigkeit und Freiheit. Trat die FLN als politischer Arm der algerischen Widerstandsbewegung auf, so führte die, ,Armee de la Liberation Nationale'' (ALN) einen Guerilla-Krieg gegen die Besatzer mit Anschlägen in den großen Städten und auf französische Militäreinrichtungen. Die ALN hatte ihre Rückzugsgebiete in den algerischen Bergen der Kabylei und des Atlas. Flüchtlings- und Rekrutierungs-Camps lagen in den Nachbarstaaten Marokko und Tunesien. Diese Länder wurden nicht zuletzt aufgrund des Algerienkrieges von den Franzosen in die

Unabhängigkeit entlassen. Bis heute sind in Algerien bis tief in den Süden der Sahara die Reste der Todesstreifen zu sehen, die die Franzosen mit Minengürteln und elektrifizierten Stacheldrahtzäunen über hunderte von Kilometern an den Grenzen entlang errichteten, um der ALN Nachschubwege abzuschneiden. Die FLN operierte auch im Ausland, vor allem in Frankreich, wo damals hunderttausende Algerier arbeiten mußten. Sie bemühte sich um internationale Unterstützung für ihren Unabhängigkeitskrieg. Beschämend war dabei die Haltung der französischen sozialistischen Partei, SFIO, und der Kommunisten der KPF, die den blutigen Kolonialkrieg anfangs unterstützten und mittrugen. 1956 hielt die FLN in befreiten Gebieten der Kolonie einen Kongreß ab, auf dem sie erstmals auch Sozialrevolutionäre Veränderungen für Algerien beschloß, die über die Forderung nach nationaler Unabhängigkeit hinausgingen. Eine provisorische Regierung in Kairo wurde gebildet. Wenig später initiierte die von den Kommunisten geduldete und von den Sozialisten mitgetragene französische Regierung einen ersten spektakulären Akt der internationalen Luftpiraterie: Auf dem Flug von Rabat nach Kairo wurde ein Flugzeug von der französischen Luftwaffe abgefangen und in Paris zur Landung gezwungen. Darin befanden sich die Führer der FLN: Ben Bella, Boudiaf, Ait Ahmed und Khider. Die FLN-Führung blieb bis zum Ende des Algerienkrieges in Frankreich gefangen.

Die Franzosen scherten sich auch nicht um Diskussionen des Algerien-Problems in der UNO. Sie erklärten Algerien zur „innerfranzösischen Angelegenheit" und verbaten sich jegliche Einmischung.

Der Krieg wurde mit allen Mitteln des Terrors und der Unterdrückung geführt. Auf die Greueltaten der französischen Armee, die Folter mit Elektrizität, die Mißhandlung von Frauen und die Tötung von Kindern, reagierte die französische Öffentlichkeit mit zunehmenden Protesten, die von Jean-Paul Sartre angeführt wurden. Als de Gaulle sah, daß trotz all dem dieser Krieg nicht zu gewinnen war, bereitete er Kompromißlösungen vor. Daraufhin verstärkte die Terrororganisation der Algerien-Franzosen OAS ihr blutiges Handwerk mit Anschlägen auf die algerische Zivilbevölkerung. Noch im Oktober 1961 bekamen algerische Demonstranten in Paris die barbarische Gewalt des französischen Rassismus zu spüren. Hunderte wurden mitten auf den Straßen der Hauptstadt buchstäblich von Polizisten gelyncht und massakriert. Einige Schwerverletzte wurden damals auch in Krankenhäuser nach Düsseldorf und Frankfurt gebracht. Erst im März 1962, als die FLN den größten Teil des Landes be-freit hatte und kontrollierte, wurde Algerien im Vertrag von Evian die nationale Unabhängigkeit gewährt. Das Land mußte sich jedoch gleichzeitig verpflichten, die französischen Kapitalinteressen nicht anzutasten. Den Franzosen ging es dabei vor allem um die Ausbeutung der Bodenschätze in der Sahara. So verdienten französische Konzerne noch jahrelang weiter am Aufbau der algerischen Industrie. Erst im Februar 1971 gelang es der Regierung Boumedienne, die Erdgas- und Erdölindustrie zu nationalisieren und damit auch ökonomisch unabhängiger zu werden. Frankreich antwortete darauf mit einem Wirtschaftsboykott, der vor allem die algerische Landwirtschaft traf, die bis heute auf das Land der ehemaligen Kolonialherren ausgerichtet ist, weil der Umbau auf nationale Produktionsbedürfnisse nur langsam vonstatten geht. Die Bilanz des Algerienkrieges war verheerend: Bei einer Gesamtbevölkerung von zehn Millionen starben eineinhalb Millionen Algerier in diesem Befreiungskrieg. Über zwei Millionen Algerier waren von den Franzosen in Konzentrationslagern zusammengepfercht worden. Fast die Hälfte der Äcker und Felder war verwüstet und 60 Prozent der Versorgungsbetriebe waren zerstört. Ein Drittel der Straßen und Eisenbahnlinien und zwei Drittel der Hafenanlagen waren vernichtet. Noch heute sind die Folgen dieses Krieges überall im Land sichtbar und spürbar. Noch heute zerfetzen französische Minen algerische Hirten in der Sahara. Wie sehr dieser Krieg das nationale, antikolonialistische Bewußtsein vieler, vor allem älterer Algerier geprägt hat, zeigt auch der Satz eines Schuldirektors in Oran:

„Die Identität unseres Volkes ist unsere Geschichte." Während dieses Befreiungskampfes entstand 1961 in Algerien ein wichtiges theoretisches Werk, das bis heute für die Diskussion, vor allem in Afrikar, erhebliche Bedeutung hat, in der BRD bezeichnenderweise aber erst 1966 erstmals erschien: FrantzFanons Buch »Die Verdammten dieser Erde", das auch „das kommunistische Manifest der antikolonialen Revolution" genannt wird. Der Autor erlebte die Befreiung Algeriens nicht mehr. Er starb 1961, an dem Tag, an dem sein Buch in Paris veröffentlicht wurde. Jean-Paul Sartre schrieb in seinem Vorwort: »Das ist es, was Fanon seinen afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Brüdern auseinandersetzt: .Entweder wir verwirklichen alle gemeinsam und überall den revolutionären Sozialismus, oder wir werden einer nach dem anderen durch unsere ehemaligen Tyrannen geschlagen werden.'

Und den Europäern sagt er: .Bisher waren wir die Subjekte der Geschichte, jetzt sind wir ihre Objekte. Das Kräfteverhältnis hat sich umgekehrt, die Dekolonisation hat begonnen. Alles, was unsere Söldner versuchen können, ist, deren Vollendung zu verzogern.' "

Quelle: Balsen, Werner, Rössel, Karl, Hoch die Internationale Solidarität, Zur Geschichte der Dritte Weltbewegung in der Bundesrepublik, Köln, 1986, S.64ff OCR-Scan by Red. trend