Konspirativ
Wie der hessische Untergrund den algerischen Freiheitskampf unterstützte

Am 19.März 1962 ging der Algerien-Krieg zu Ende. In Hessen kein Thema - könnte man meinen. Weit gefehlt, denn maßgebliche Sympathisanten des algerischen Freiheitskampfes, die sogenannten "Kofferträger", operierten Ende der 50er Jahre von hier aus. Zum Beispiel Walmot Falkenberg, damals Soziologie-Studentin, die in einer Februarnacht des Jahres 1961 aus dem Gefängnis geflohene, von der französischen Polizei steckbrieflich gesuchte, FLN-Mitglieder nach Frankfurt schleuste. Oder Heiner Halberstadt, der später verriet, dass der von ihm gegründete "Club Voltaire" seinen Namen einem algerischen Revolutionär verdankt.
hauptsache kultur hat diese und andere hessische "Kofferträger" besucht.

Text des Beitrags:

Mit Böllerschüssen über der Bucht von Algier wird das Ende des Algerienkrieges und die Unabhängigkeit des Landes gefeiert. Dieses Jahr zum 40. Mal.  Jubel in den Straßen Algiers, als am 19. März 1962 der Waffenstillstand mit Frankreich unterzeichnet wird. Die Nationale Befreiungsfront FLN hat gesiegt.  Der Sieg wird auch in Wiesbaden gefeiert, von hessischen FLN-Unterstützern, die für algerische Untergrundkämpfer Kurierdienste geleistet haben, allen voran die Studentin Walmot Falkenberg.

Walmot Falkenberg Walmot Falkenberg, Lektorin, FLN-Unterstützerin:
Es handelte sich bei der Aufgabe unserer Gruppe darum, dass wir Personen von Deutschland nach Frankreich und von Frankreich nach Deutschland transportieren sollten, die nicht durch die Passkontrolle durften, sondern wir mussten über die grüne Grenze, wie man das so nennt, diese Personen aus Frankreich bringen oder oder Frankreich herausbringen.

Im Südhessischen versteckte Walmot Falkenberg Algerier, die in Deutschland Gelder für die FLN auftrieben, und brachte sie zurück nach Paris. Gleichzeitig verschaffte sie jungen Franzosen Unterkünfte, die aus der Armee desertiert waren, um nicht in Algerien kämpfen zu müssen.

Am 1. November 1954 hatte der algerische Aufstand begonnen, nach 124 Jahren französischer Kolonialherrschaft. Mit mehr als 400.000 Soldaten zog Frankreich gegen Schafhirten, Tagelöhner und kleine Angestellte zu Felde, die sich der Nationalen Befreiungsfront FLN angeschlossen hatten. Verdächtige Algerier wurden systematisch gefoltert, mit Billigung der sozialistischen Regierung in Paris. Mithilfe solcher Methoden war Frankreich im Begriff, den Krieg militärisch zu gewinnen. Unterstützung aus dem Ausland wurde für die Aufständischen lebenswichtig. Zu diesem Zeitpunkt erschien ein Buch von Henri Alleg über die Verbrechen der französischen Armee.

Walmot Falkenberg, Lektorin, FLN-Unterstützerin:
Gegen Ende meiner Schulzeit, 1959, habe ich in der Zeitschrift "Konkret", eine der damals wenigen linken Zeitschriften, einen Abdruck des Buches von Henri Alleg "Die Folter" gelesen. Und das hat mich sehr beeindruckt, weil ich als Kriegskind aufgewachsen bin mit dem Anspruch, dass nun, nachdem der Nationalsozialismus besiegt ist, unter dem Aspekt von Demokratie und Freiheit andere gesellschaftliche Verhältnisse durchgesetzt werden sollten.


Das einzige Buch über die deutschen "Kofferträger", die Unterstützer der FLN, zeigt auch Walmut Falkenberg, den Kopf der Geheimorganisation. Sie war damals im Ostermarsch engagiert und Vorsitzende der Frankfurter SDS-Hochschulgruppe. Über ihr Untergrundengagement musste sie schweigen. Einzige Hilfe von prominenter Seite war eine Rede Enzensbergers gegen den Algerienkrieg 1961 und ein Elf-Minutenfilm Volker Schlöndorffs über in Deutschland versteckte Algerier, der sofort verboten wurde. Die namenlose Neue Linke traf sich in einem Frankfurter Club, der bald politisch von sich reden machte.

Heiner Halberstadt
 
Heiner Halberstadt, Kommunalpolitiker, FLN-Unterstützer:
Dann haben wir nach einem Namen gesucht, und in diesem Gespräch mit einem algerischen Genossen - ich nenne das mal so - sagte der, nachdem wir alles mögliche überlegt hatten: 'Club Heine' oder 'Club de la Gauche' oder so etwas Ähnliches, da sagte er: jeder großen gesellschaftlichen Veränderung geht die Aufklärung voraus, und wir haben gelernt bei Voltaire. Wie wäre es mit dem Namen Voltaire? Das hat uns eingeleuchtet, und so ist dieser Name dann entstanden, und nach 40 Jahren heißt diese Einrichtung immer noch 'Club Voltaire'.

Auch Heiner Halberstadt versteckte Deserteure und FLN-Anhänger bei sich zu Hause oder anderswo.

Heiner Halberstadt, Kommunalpolitiker, FLN- Unterstützer:
Ich möchte aber ausdrücklich sagen: wir haben uns nur im zivilen Bereich bewegt, nicht im militärischen. Nicht nur deshalb, weil es gefährlich war. Bekannterweise sind in Frankfurt auch Bomben hochgegangen, z.B. jemand, der als Waffenhändler hier tätig war ... im Palmenhof-Hotel in der Bockenheimer Landstraße ist eine Bombe hochgegangen, im Kettenhofweg ist eine Bombe hochgegangen - das waren die Leute, die im militärischen Bereich tätig waren. Damit hatten wir nichts zu tun.


Unterschlupf fanden Deserteure aus Frankreich und FLN-Algerier auch bei einer heute 91-Jährigen, die damals Leiterin der Frauenhaftanstalt Preungesheim war.

Frage:
Das war für Sie doch gar nicht völlig ungefährlich, denn Sie waren doch damals schon Beamtin.
Helga Einsele, Regierungsdirektorin a.D., FLN-Unterstützerin:

Ja, das war nicht völlig ungefährlich. Aber wissen Sie, das war ja nach unserem Krieg, und wir waren doch damals recht verwandelt und hatten gewusst, man kommt durch dieses Land und durch diese Welt nur durch, wenn man an den Grenzen entlang geht, wenn man seine Haut rettet, aber dennoch gelegentlich, wenn es sein muss, etwas tut, was nicht ganz mit der Legalität übereinstimmt.


Die Nerven flatterten,die Kehle war zugeschnürt, wenn die "Gruppe Falkenberg" FLN- Funktionäre über die grüne Grenze bei Forbach nach Paris zurückbrachte. Dort ging die Polizei brutal gegen die algerische Befreiungsfront vor. Es war die Zeit der deutsch-französischen Freundschaft von de Gaulle und Adenauer. "Verbrechen dulden ist kein Freundschaftsdienst", sagten die hessischen FLN-Unterstützer und schafften die Kolonialkriegsgegner durch alle Polizeikontrollen.

Helga Einsele Helga Einsele, Regierungsdirektorin a.D., FLN-Unterstützerin:
Das Bewusstsein, dass das richtig ist, dass man sich so verhält, das war doch noch sehr stark, und nicht nur in uns selbst. Sie sehen ja, die ganze Studentenbewegung wuchs daraus hervor, dass die Eltern eben noch diesen alten Denkmodellen zustimmten, während die Jugend sich davon zu befreien versuchte. Viele von denen, die sich damals zu befreien versuchten, sind heute schon wieder festgefahrener, als sie es damals waren.

Algier putzt sich bereits für den 40. Jahrestag der Unabhängigkeit. Zu den Feierlichkeiten sollen alle damaligen "Kofferträger", auch die aus Hessen, eingeladen werden. Die Anerkennung,die ihnen in Frankreich und Deutschland bis heute versagt blieb, genießen sie im Herzen der Algerier. Die Erinnerung an den "Befreiungskrieg", wie der Algerienkrieg dort heißt, ist in Algier an jeder Straßenecke lebendig. Zeit für ein Fest unter Freunden.

 

Edit. Angaben:
Bei diesem Text handelt es sich um einen Beitrag in "hauptsache kultur!" des Hessischen Fernsehens, gesendet am Samstag, 23. März 2002 um 21.45 Uhr, der von
Samuel Schirmbeck produziert wurde. Die Seite wurde gecachet von:
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