Frankreichs Algerienkrieg
und die Generäle
Unfreiwilliges Ende eines langjährigen Tabus aus Staatsraison
Konrad Watrin
Es war ein besonders
schmutziger Krieg mit Massakern und summarischen Liquidierungen. Immer wieder
flackerte die Frage nach der Armee der Grande nation im Algerienkrieg auf. Noch
bis vor kurzem war in Frankreich offiziell nur von "Konflikt" die Rede, von
"Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung" während der "algerischen
Ereignisse" zwischen 1954 und 1962. Damals kämpfte die Nationale
Befreiungsbewegung FLN unter Ben Bella um die Unabhängigkeit. Die instabile IV.
Republik wich der quasi-monarchischen Präsidialverfassung de Gaulles (1958).
Erst mit dem Abkommen von Evian (1962) konnte der Retter der Nation einen
Schlussstrich unter das grausame Algerien-Kapitel ziehen.
Anders als die Briten, Meister zügigerDekolonisierung, klammerten sich die
Franzosen am Ende des Zweiten Weltkrieges an die imperialen Ruinen von
Nordafrika bis Indochina. Sie verbissen sich in Vietnam bis zur Niederlage von
Dien Bien Phu (1954). Algerien, das zum Mutterland - und nicht als Kolonie -
zählte, sollte "integraler Bestandteil" de la France une et indivisible bleiben.
Nun schlägt das Gewissen der Republik erneut. Lionel Jospins
sozialistisch-kommunistisch-grüner Regierung unter dem Neogaullisten Chirac als
Staatspräsident jedoch kommen die Bekenntnisse zweier hochdekorierter Militärs
höchst ungelegen. Beide Generäle, der 92-jährige Jacques Massu und der zehn
Jahre jüngere Paul Aussaresses, räumten ein, dass die französische Armee während
des Algerienkrieges zur Erpressung von Geständnissen gefoltert hat. Verdächtige
wurden fast ebenso systematisch liquidiert. De Gaulles alter Weggefährte Massu
gestand schon im letzten Herbst: "Wenn Frankreich diese Praktiken anerkennt und
verdammt, dann hielte ich dies für einen Fortschritt." Im November hatte er in
einem Interview mit Le Monde sein Bedauern darüber artikuliert, doch jede
Beteiligung abgestritten.
Mit dem Eingeständnis der beiden alten Kameraden von Folter und Mord platzt
jetzt ein letztes Tabu. Beide Generäle hatten während des Krieges wichtige
militärische Funktionen in Algier inne. Massu war als Chef der berüchtigten 10.
Fallschirmjäger-Division für "Sicherheit" zuständig. Oberst Aussaresses leitete
ab 1957 die militärischen Geheimdienstoperationen, vor allem um das Netz der FLN
zu zerschlagen. Seine Spezialeinheiten jagten die FLN-Führer in der Kashba. Die
"legalen" Voraussetzungen dafür wurden 1956 durch die Regierung des Sozialisten
Guy Mollet geschaffen. Den Sicherheitsbehörden wurden "Sondervollmachten"
gewährt, die ihnen die Wahl der Mittel zur Bekämpfung des "Terrorismus" frei
stellte. Für Verbrechen waren nicht mehr die ordentlichen Gerichte, sondern
Militärgerichtshöfe zuständig. Der jede Rechtsstaatlichkeit verhöhnenden
Bestimmung hatte auch der damalige Justizminister - Franéois Mitterrand -
zugestimmt.
Anders als Massu lässt Aussaresses, der seit dem Erscheinen seines
Erinnerungsbuchs (Services spéciaux. Algerie 1955-1957. Paris 2001) Anfang Mai
für böse Schlagzeilen sorgt, auch heute noch jede Einsicht und Reue missen. In
etlichen Interviews wiederholte er, Folterungen angeordnet zu haben. Und er
bekannte sich auch dazu, eigenhändig 24 Gefangene getötet zu haben,
"ausschließlich Terroristen". Wenn sich trotz allem auch hier jeder deutsche
Fingerzeig verbietet, so wirft der Fall des "alten Schlächters" (Spitzname) das
Erinnerungsbild an eine bestimmte deutsche Mentalität zurück. Der General glaubt
nach wie vor an eine normale soldatische Pflichterfüllung: "Was mich anbelangt,
so bereue ich nichts."
Der erste, der dem algerischen Grauen seinen Namen gab, war
Kriegsveteranen-Minister Jean-Pierre Masseret, der vor drei Jahren ein Mahnmal
mit den Worten enthüllte: "Erlauben Sie mir, dass ich den Ausdruck Algerienkrieg
benutze." Und später: "1,7 Millionen Männer wurden mobilisiert, 24 000 Tote, 60
000 Verletzte - wenn das kein Krieg ist ..." Auf algerischer Seite gab es
schätzungsweise eine halbe Million Opfer. Algerier selber setzen die Zahlen noch
wesentlich höher an. Der Algerienkrieg - das Wort wurde von der Pariser
Nationalversammlung erst 1999 gestattet - sollte eine Beute retten, die von
Frankreich nach 1830 erobert worden war.
Peinliche Erinnerungen
Dieser Krieg begann eigentlich am 8. Mai 1945. Am Tag des Waffenstillstands in
Europa schossen französische Truppen im algerischen Constantine auf
Demonstranten, die für die Autonomie ihres Landes innerhalb des französischen
Staatsverbandes eintraten. Der Brutalität der Armee fielen auch an den folgenden
Tagen hunderte, wenn nicht tausende Algerier zum Opfer. Man wollte die
Unabhängigkeitsbewegung im Keim ersticken.
In Frankreich sind Erinnerungen an diese Verstrickungen peinlich, weil sie an
eine Lüge rühren, die geradezu als Staatsräson der IV. und V. Republik galt.
Noch immer gründet der Stolz des Landes, insbesondere seiner Eliten, darauf, zu
den Siegermächten des Weltkrieges zu gehören - eine Rolle, die man im Grunde dem
Großmut der Amerikaner verdankte, die der Panzerdivision des General Leclerc bei
der Befreiung von Paris (1944) den Vortritt ließen. Doch darüber breitete sich
bald der Mantel des Résistance-Mythos. Außerdem gehörte der Rückgriff auf
koloniale Hinterhöfe dazu. Gaston Monnerville, einer der politischen Mandarine
der IV. Republik, sagte es so: "Ohne das (französische Kolonial-) Reich wäre
Frankreich nichts anderes, als ein befreites Land; dank seines (Kolonial)-Reiches
jedoch ist es ein Siegerstaat."
Massu und Aussaresses haben mit ihren Äußerungen in dieser ehernen Lüge der
Republik gestochert. Die Reaktion eines weiteren Generals, Marcel Bigeard,
dekorierter Haudegen in Indochina und Algerien, zeigt, wie tief der Stachel
sitzt. Dem konservativen Le Figaro erklärte er, die beiden Generäle suchten
"Frankreich zu beschädigen, während de Gaulle und selbst Mitterrand bestrebt
waren, eben dies zu unterbinden".
Die Wahrheit hätte man in Frankreich schon seit 1955 akzeptieren können, als de
Gaulles späterer Kulturminister Franéois Mauriac in L"Express darüber schrieb.
Dies wurde ebenso verdrängt wie Vichy und das wahrscheinliche Ausmaß der
Kollaboration. So hätte auch längst bekannt sein können, dass Folter in Algerien
einem "Kommandanten O." oblag, wie der Historiker Pierre Vidal-Naqet heraus
fand: In Algerien wütete "eine französische Gestapo", und Aussaresses, gedeckt
von höchsten Stellen, war der Chef, schrieb er in "La Torture dans la République".
Passieren kann den noch so unfreiwillig Geständigen wenig. 1968 trat in
Frankreich für alle in Algerien verübten Taten eine Amnestie in Kraft.
Verbrechen wider die Menschlichkeit sind erst seit 1994 Straftatbestand.
Der Staatspräsident hatte zunächst zurückhaltend auf das Aufbrechen der alten
Narben reagiert und von der Notwendigkeit zur Aufarbeitung der Vergangenheit
gesprochen. Für Chirac, der als Unterleutnant in Algerien Militärdienst
leistete, bedeutet diese Zeit die "begeisterndste Periode" seines Lebens. In
einer Erklärung bedauerte er die Grausamkeiten, die im Namen Frankreichs in
Algerien verübt wurden.
Jospins Reaktion fiel auffallend bedächtig aus. Während des Krieges war in Paris
die Linke - mit Mitterrand - an der Macht. Der spätere Einiger der Linken und
Präsident dürfte um die "algerischen Ereignisse" gewusst haben, lehnte Mord und
Folter ab, protestierte aber nur schwach, um seine Karriere nicht zu gefährden.
Die Notwendigkeit für einen "kollektiven Akt der Reue" jedoch empfindet Jospin
bislang nicht.
In einem vom Grünen Cohn-Bendit, dem Spanier Juan Goytisolo und dem Soziologen
Pierre Bourdieu unterzeichneten Appell forderten Mitte Mai europäische
Intellektuelle ihre Regierungen und die EU auf, um der Menschenrechte willen
Druck auf das heutige Regime Algier auszuüben. Wie aber will eine außenpolitisch
kaum handlungsfähige EU mit der führenden Grande nation an der Spitze so etwas
glaubhaft demonstrieren ohne Aufarbeitung der Geschichte - und einem
Schuldbekenntnis zur Rolle Frankreichs in Algerien?
Quelle: Der Artikel erschien
im Internet unter
http://www.das-parlament.de/2001/29/ausland/2001_29_063_6108.html