Der Krieg in Algerien
und die Befreiung des Menschen

von Frantz Fanon

Häufig erweisen sich die Analyse und die Einschätzung eines bestimmten Ereignisses als inadäquat und die Schlußfolgerungen als paradox, weil gerade den organischen Verbindungen nicht genügend Rechnung getragen wurde, die zwischen diesem besonderen Ereignis und der historischen Entwicklung des umgebenden Ganzen existieren.

So kann es geschehen, um ein Beispiel zu nennen, daß die gegenseitige Stärkung, die zwischen der Befreiungsbewegung der kolonisierten Völker und dem emanzipatorischen Kampf der ausgebeuteten Arbeiterklassen der imperialistischen Länder stattfindet, manchmal eine Art Vernachlässigung erfährt oder gar in Vergessenheit gerät.

Der Arbeiter und der Kolonisierte . . .

Der Prozeß der Befreiung des Menschen, unabhängig von den konkreten Situationen, in denen er sich befindet, berührt und betrifft die gesamte Menschheit. Der Kampf um die nationale Würde gibt dem Kampf um Brot und soziale Würde erst seine wahrhafte Bedeutung. Diese innere Beziehung ist eine der Wurzeln der ungeheuren Solidarität, die die unterdrückten Völker mit den ausgebeuteten Massen der kolonialistischen Länder verbindet.
Im Verlauf der verschiedenen nationalen Befreiungskriege, die in den letzten zwanzig Jahren aufeinander folgten, ließ sich nicht selten ein gewisser feindseliger, sogar gehässiger Unterton beim kolonialistischen Arbeiter gegenüber dem Kolonisierten feststellen. Und zwar weil das Zurückweichen des Imperialismus und die Umwälzung spezifischer zurückgebliebener Strukturen des Koloniallandes unmittelbar von ökonomischen Krisen begleitet werden, die die Arbeiter des kolonialistischen Landes als erste zu spüren bekommen. Die Kapitalisten der >Metropole< lassen sich in demselben Maße soziale Verbesserungen und Lohnerhöhungen von ihrem Arbeitern entreißen, wie das Kolonialland ihnen ermöglicht; die .besetzten Gebiete auszubeuten und zu plündern. Schwierig wird es in dem kritischen Moment, wo die kolonisierten Völker sich in den Kampf stürzen und ihre Unabhängigkeit fordern, in deren Verlauf paradoxerweise das Interesse der Arbeiter und Bauern der »Metropole« dem der kolonisierten Völker entgegenzulaufen scheint. Die übel dieser »unerwarteten« Entfremdung müssen erkannt und energisch bekämpft werden.
Der Kampf gegen den Kolonialismus, diese besondere Art der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, fällt also unter den allgemeinen Prozeß der Befreiung des Menschen. Wenn auch die Solidarität zwischen Arbeitern der »Metropole« und den kolonisierten Völkern Krisen und Spannungen erfährt, läßt sich dies selten zwischen kolonisierten Völkern untereinander feststellen. Die kolonisierten Menschen haben dies gemeinsam, daß man ihnen das Recht, ein Volk zu bilden, bestreitet. Diese grundsätzliche Haltung des Kolonialisten nimmt unterschiedliche Formen an und wird legitimiert und als Folge davon finden sich Rassismus, Haß, Verachtung auf Seiten des Unterdrückers und entsprechend Verdummung, Analphabetismus, moralische Lähmung und endemische Unterernährung auf Seiten der Unterdrückten.

Die Solidarität der Unterdrückten

Zwischen kolonisierten Völkern scheint eine Art erleuchteter und geheiligter Kommunikation zu bestehen, die bewirkt, daß jedes befreite Land eine Zeit lang in den Rang eines »führenden Landes« erhoben wird. Die Unabhängigkeit eines neuen Landes, die Befreiung neuer Völker werden von den übrigen unterdrückten Ländern als Aufforderung, als Ermutigung, als Versprechen empfunden. Jeder Rückschlag für die Kolonialherrschaft in Amerika oder in Asien verstärkt den nationalen Willen der afrikanischen Völker. Gerade in dem nationalen Kampf gegen den Unterdrücker haben die kolonisierten Völker konkret die Solidarität des kolonialistischen Blockes erfahren und die notwendige Interdependenz der Befreiungsbewegungen.
Die Erschütterung des englischen Imperialismus zum Beispiel kann wahrhaftig nicht von einer Konsolidierung des französischen Imperialismus begleitet sein. Unmittelbar mag es den Anschein haben, als sei dem so. In Wirklichkeit die nationale Flut, die Entstehung neuer Staaten, eine unabwendbare Ebbe der internationalen kolonialistischen Kohorten. Der Auftritt von bisher unbekannten Völkern auf der Bühne der Geschichte, ihr Wille, an der Errichtung einer globalen Zivilisation mitzuwirken, gibt der gegenwärtigen Periode eine entscheidende Bedeutung im Prozeß der Humanisierung der Welt.
Der Pakt von Bandung konkretisiert sowohl die physische als auch die geistige Einheit der kolonisierten Völker. Bandung ist die historische Verpflichtung der unterdrückten Menschen, sich gegenseitig zu helfen und den Kräften der Ausbeutung den endgültigen Rückzug aufzuzwingen.
Algerien als »führendes Land«

Der Krieg in Algerien nimmt einen bevorzugten Platz im Prozeß der Zerstörung des Imperialismus ein. Seit vier Jahren klammert sich der französische Kolonialismus, der sich von allen am hartnäckigsten in der Nachkriegszeit verhält, mit allen Mitteln an seinem Brückenkopf in Afrika fest. Alle militärischen und politischen Argumente sind ausgespielt worden, um die Repression und die französische Präsenz in Algerien zu rechtfertigen. Die Dimensionen dieses grausamen Krieges haben die internationale Meinung erstaunt und in Verwirrung gebracht. Der französische Kolonialismus hat in Algerien alle seine Kräfte mobilisiert.

Die von Frankreich im Algerienkrieg entfalteten militärischen, ökonomischen und politischen Anstrengungen lassen sich objektiv nur im funktionalen Zusammenhang mit dem gesamten »französischen« Afrika einschätzen: Die algerische Revolution zu besiegen, würde mit Sicherheit heißen, für ein Dutzend Jahre das »nationalistische Ferment« auszulöschen. Das würde gleichzeitig bedeuten, die möglichen afrikanischen Befreiungsbewegungen zum Scheitern zu verurteilen und vor allem die junge tunesische und marokkanische Unabhängigkeit in eine äußerst unsichere und debile Lage zu versetzen. Der französische Kolonialismus in Algerien hat die Geschichte der barbarischen Methoden, die vom internationalen Kolonialismus angewandt werden, beträchtlich bereichert. Zum ersten Mal wohnt man der Mobilisierung mehrerer Jahrgänge bei, der Entsendung von Reservisten der Reduzierung der nationalen Sicherheitsstreitkräfte zugunsten eines Krieges der kolonialen Wiedereroberung. Zu wiederholten Malen verkündeten die französischen Herrschenden einen unmittelbar bevorstehenden Sieg über die algerischen nationalen Streitkräfte. Alle objektiven Konditionen schienen gegeben, um die Niederlage der algerischen Revolution zu realisieren. Jedesmal hat man eine Art Wunder, eine Erneuerung, einen Wiederbeginn erlebt.

Und dies, weil das algerische Volk sich durch gewaltige internationale demokratische Kräfte unterstützt weiß. Außerdem sind sich die algerischen Massen der Bedeutung ihres Kampfes für den afrikanischen Kontinent bewußt.

Der Krieg in Algerien ist noch lange nicht beendet und am Morgen dieses fünften Kriegsjahres überblicken die Männer und Frauen Algeriens, von einer unbändigen Sehnsucht nach Frieden erfüllt, mit klarem Kopf den schwierigen Weg, der ihnen noch zu gehen bleibt. Aber die positiven, entscheidenden, unwiderruflichen Resultate, die ihr Kampf für Afrika ermöglicht, nähren ihre Zuversicht und verstärken ihre Kampfkraft.

Während die Protektorate Tunesien und Marokko die Unabhängigkeit erlangen konnten, ohne das französische Imperium grundlegend in Frage zu stellen, rückt Algerien durch seinen Status, durch die lange Dauer der Besetzung und das Ausmaß der kolonialistischen Durchdringung, die Frage nach der Zerschmetterung des Imperiums auf kritische Weise in den Vordergrund.

Für den französischen Kolonialismus ist Algerien nicht allein ein neuer Kolonialkonflikt, sondern auch die Gelegenheit für die entscheidende Auseinandersetzung, Grenz- und Testfall in einem. Daher auch reagierten die französischen Streitkräfte im Verlauf dieses Konfliktes mit einer Brutalität und einer Heftigkeit, die so häufig Bestürzung erweckten. Der franco-algerische Konflikt hat das Kolonialproblem in ganz Afrika aufgeworfen. Die übrigen Kolonialmächte in Afrika verfolgen mit Angst und Schrecken die Entwicklung, des Krieges in Algerien. Und auf des anderen Seite der Sahara wirft jetzt das unabhängige Guinea seinen >subversiven< Schatten auf die Territorien, die im Moment noch als sicher gelten. Algerien, der Brückenkopf des westlichen Kolonialismus in Afrika, ist schnell zum Wespennest geworden, in das der französische Kolonialismus gefallen ist und das die sinnlosen Hoffnungen der westlichen Unterdrücker zunichte macht.

Der Krieg in Algerien beherrscht seit vier Jahren auf tragische und entscheidende weise das innen‑ und außenpolitische Leben Frankreichs. Die Beziehungen Frankreichs mit den übrigen westlichen Ländern, seine diplomatischen oder zuweilen militärischen Auseinandersetzungen mit den arabischen Staaten, die Evolution der kolonialistischen Strukturen der ehemaligen > Französischen Union« reflektieren deutlich die verschiedenen Phasen des Krieges in Algerien.
Aus Angst vor neuen Kolonialkriegen haben manche französischen Politiker ihre Warnungen und Mahnungen vervielfacht: überdenken wir das Problem unserer kolonialen Besitzungen - das ist der Satz, der seit 1955 im französischen Parlament und in politischen Kreisen immer wiederkehrt. Das >Rahmen-Gesetz< von Herrn Deferre wurde in der Absicht geschaffen, verfrühte nationale Forderungen zu vermeiden.
Aber die Tatsache des Krieges in Algerien, die Details über die kolonialistische Repression, der Heroismus des algerischen Volkes haben das Bewußtsein der Männer und Frauen Afrikas geweckt und erkühnt.

Zu Beginn des Jahres 1958 tritt in allen von Frankreich besetzten afrikanischen Territorien der nationale Wille auf den Plan und immer mehr Parteien werfen immer entschlossener das ernste Problem des bewaffneten Kampfes auf.

In Togo und Kamerun haben die Ereignisse tatsächlich den Charakter eines heimlichen Krieges angenommen. Woanders vervielfältigen die Sklavenaufseher des Kolonialismus ihre beruhigenden Deklarationen. Nun, der aufmerksame Beobachter entdeckt hinter diesen selbstsicheren Erklärungen eine tiefe Angst und Furcht vor dem Zorn des Volkes.

Der Krieg in Algerien hat das koloniale Gleichgewicht in Afrika grundlegend erschüttert. In Afrika gibt es kein besetztes Gebiet, dessen Zukunftsperspektiven nicht durch den Krieg in Algerien von Grund auf verändert worden wären. Das algerische Volk ist sich der Bedeutung des Kampfes, in den es verwickelt ist, bewußt. Seit 1954 hat es die Losung: nationale Befreiung Algeriens und Befreiung des afrikanischen Kontinentes aufgestellt. Die leichtfertige Kritik an absoluter Weigerung, in der Frage der Entkolonisierung Etappen aufzustellen, die immer wieder an der F. L. N. geübt wird, berücksichtigt nicht hinreichend die wahrhaft afrikanischen Dimensionen des algerischen nationalen Kampfes.

Der französische Kolonialismus muß sterben

Unter diesen Bedingungen dürfte der Appell General de Gaulles der letzte Versuch des französischen Kolonialismus gewesen sein. Man hat gesehen, daß General de Gaulle nicht die Konsequenzen aus einer Bewegung ziehen konnte, die über ihn hinwegschreitet. Die neue Verfassung läßt der Metropole in der »Communauté« noch einen bevorzugten Matz, räumt aber die unumgängliche Anerkennung autonomer Staaten ein. Die Bildung der madagassischen Republik ist das erste Ergebnis dieser gaullistischen Reform.

Die kolonialistischen Kreise, die ihr Vertrauen in das Eingreifen des von der göttlichen Vorsehung gesandten Generals gesetzt hatten, beginnen sich heute zu fragen, ob sie nicht einen schlechten Handel gemacht haben. Da sie nicht die Konsequenzen aus einer unumstößlichen Forderung gezogen haben, deren Nichterfüllung bedeuten könnte, Frankreich mit in den Abgrund zu reißen, neigen die französischen Kolonialisten dazu, De Gaulle als einen Verräter oder einen >Ausverkäufer< anzusehen. In Wahrheit rettete der General noch einmal die kolonialistischen Interessen, indem er die »Communauté« in das Leben rief, die so beschaffen ist, daß sie der Metropole einen ungleichen Vorteil sichert und wichtige koloniale Strukturen aufrechterhält. Aus der Konstituierung autonomer Staaten geht der französische Kolonialismus geschwächt hervor. Aber, ohne die Intervention General de Gaulles wäre es in kürzester Frist zum Zusammenbruch des Imperiums gekommen. Offensichtlich Verräter an seinen Auftraggebern, ist General de Gaulle in Wirklichkeit der momentane Retter einer gewissen kolonialen Realität.
 

Quelle: Frantz Fanon, Für eine afrikanische Revolution, März-Verlag, Ffm 1972
Der Artikel erschien im Internet unter
http://www.sds.partisan.net/sds14801.html