ZUM JAHRESTAG DES 11. SEPTEMBER :
Algerien: Ein Fallbeispiel für Aufstieg und (relativen) Niedergang des Islamismus 

von
Bernhard Schmid (Paris)

Der politische Islamismus ist in aller Munde, seitdem transnational operierende und hoch technisierte Kleingruppen, die sich auf diese Ideologie beziehen, am 11. September 2001 die massenmörderischen Anschläge in den USA begingen. Nur selten aber wird schlüssig erklärt, was diese politische Bewegung genau ausmacht, und vor allem, was ihren (relativen) Erfolg in einer Reihe von Ländern erklärt. Eine Untersuchung am Fallbeispiel Algerien.

Einleitung

Am Ende war es ein “Nicht-Ereignis", wie man im Französischen sagt: Am 2.Juli dieses Jahres waren die beiden historischen Führungsfiguren der früheren islamistischen Massenpartei FIS, Abassi Madani und Ali Benhadj, nach zwölfjähriger Haft frei gelassen worden. Die beiden wichtigsten Chefs der “Islamischen Errettungsfront" (ZUR TERMINOLOGIE: Fußnote 1) waren imJuni 1991, nach dem erfolglosen Versuch einer (entfernt einem Aufstand ähnlichen) Machtübernahme von der Straße aus, inhaftiert und später vom Militärgericht in Blida zu 12 Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Ihre Partei, die bis dahin zwischen Putschismus ­ wie er im Juni 1991 kläglich scheiterte ­ und einer legalistischen, auf Wahlen orientierten Strategie hin und herschwankte, beschloss daraufhin ihre Teilnahme an den Parlamentswahlen im Dezember 1991 und Januar 1992. Nach einem relativen Sieg, der aber ­ aufgrund des Mehrheitswahlrechts ­ den Islamisten des FIS eine deutliche Mehrheit der Sitze garantiert hätte, wurden die Wahlen jedoch nach dem ersten Wahlgang abgebrochen. Der FIS wurde daraufhin im März 1992 verboten und für aufgelöst erklärt.

Doch die zwölfjährige Haft für den mittlerweile 72jährigen, im Altern begriffenen Abassi Madani und den wesentlich jüngeren Ali Benhadj (47) lief im Juli dieses Jahres aus. Vom rechtlichen Standpunkt her mussten die beiden prominenten Häftlinge daher entlassen werden; freilich können politische Erwägungen und Bedenken ja mitunter stärker wiegen als juristische Argumente. Denn diese Freilassung war doch mit erheblichen Befürchtungen seitens der Staates, aber auch vieler Beobachter verbunden: Würden nicht die Brandpredigten des “algerischen Savonarola", wie der schmallippige undbartlose “Tribun" Ali Benhadj (nach dem radikalen Büßerführer im Florenz des15. Jahrhunderts) auch genannt wurde, von neuem zahlreiche Menschen in ihren Bann ziehen? Auch wenn den beiden FIS-Führern politische Betätigung beim Verlassen der Haftanstalt verboten würde, selbst bei Androhung ernsthafter Sanktionen ­ käme es nicht dennoch zu einem unkontrollierbaren Prozess rund um die beiden Häupter der “Islamischen Rettungsfront", falls sie von einerWelle ­ bis dahin verheimtlichter ­ Sympathie getragen würden ? Zwei Monate später kennt man die Antwort: Nichts war es damit, ob man ein solches Aufwallen von Emotionen zugunsten der Chefs des verbotenen FIS nun befürchtet oder erhofft hatte. Beide hielten sich weitgehend an die Auflage, nicht unmittelbar politisch tätig zu sein ; und wenn sie die theoretisch eng gezogenen Grenzen doch mit offen politischen Äußerungen übertraten, dann waren diese oft eher überraschenden Inhalts. So, als Abassi Madani am 3. September dieses Jahres von der malaysischen Hauptstadt aus ­ er wird derzeit in Kuala Lumpur medizinisch behandelt ­ den französischen Präsidenten Jacques Chirac als “großen Gaullisten" lobte und im Nachhineindessen Staatsbesuch in Algerien, im März 2003, positiv bewertete. Darauf hätte man seitens eines algerischen Islamisten, gegenüber dem Oberhaupt der früheren Kolonialmacht, nun ja nicht eben gewartet.

Ansonsten war “Fehlzeige" zu verkünden, was Aufsehen erregende Auftritteoder eventuelle Anzeichen bisher (aufgrund von Repression und / oder der Abwesenheit von Madani und Benhadj aus der Öffentlichkeit) verborgener oder unterdrückter Massensympathie für die FIS-Führer betrifft. Damit beweisen die Wochen nach der erwarteten Freilassung des historischen FIS-Führungspersonals vor allem eins: Die Situation Algeriens gleicht heute nicht jener, die in den Jahren zwischen 1990 und 1992 vorherrschte. Nicht allein militärische Maßnahmen, wie sie in den Neunziger Jahren gegen den FIS und sein vermutetes gesellschaftliches Umfeld angewandt wurden, hindern die radikale Islamistenpartei heute an einer Rückkehr auf die politische Bühne. Die Haltung von Millionen Algeriern dürfte sich tatsächlich stark verändert haben.

Algerien nach dem Bürgerkrieg

Algerien war in den Jahren zwischen 1992 und 1998 von einem Bürgerkrieg besonderen Typs geprägt: Zwar standen in diesem Konflikt im Wesentlichen zwei Kampfparteien einander gegenüber ; doch wurde die Auseinandersetzung zumindest durch eine Partei im Wesentlichen in Form terroristischer Aktionen betrieben, die aus dem Verborgenen heraus durchgeführt und (im Unterschied etwa zum Vorgehen linker oder nationalistischer Guerillagruppen früherer Jahrzehnten) oftmals gegen die Bevölkerung als solche gerichtet waren. Die Zivilbevölkerung wurde zugleich von beiden Seiten her als Manövriermasse benutzt und in Mitleidenschaft gezogen.

Der oftmals schwer greifbare Charakter dieser Konfliktpartei, die (aufgrund ihrer Heterogenität) als “der Islamismus" nur unzureichend beschrieben wird,hat vor allem in manchen linksliberalen und sozialdemokratischen Kreisen in Westeuropa oftmals zu stark verschwörungstheoretisch unterlegten Darstellungen beigetragen. Manche Beobachter verstiegen sich dabei in den letzten 5 Jahren zu Behauptungen, die ein gehöriges Stück an Realitätsverleugnung beinhalten und im Kern darauf hinauslaufen, es gebe gar keinen islamistische Kampfpartei, die mit terroristischen Mitteln vorgehe. Vielmehr lasse sich der größte Teil der Konfliktformen und (terroristischen) Aktionen aus den Handlungen ein und derselben Konfliktpartei ­ jener des algerischen Staats- und Militärapparats ­ und ihren Manipulationsversuchen heraus ableiten ; die Gegenpartei existierte demnach nur in Form eines Schattenboxens dieses Akteurs mit sich selbst. Mit diesem Teile der Wirklichkeit ausblendenden, aber in bestimmten politischen Kreisen wirkungsvollen Diskurs wird sich im folgenden noch auseinander zu setzen sein (siehe unten) ; er kann aber nicht für sich beanspruchen, eine nach Wirklichkeitsbeschreibung und Analyse strebende “objektive" Form der Darstellung zu sein. Teilweise ist der Erfolg diesesDiskurses aus offenkundigem politischem Interesse, teilweise auch aus einem Bedürfnis nach vermeintlicher “Rationalisierung" und Vereinfachung desKonflikts (nicht in der Wirklichkeit, aber in seiner Wahrnehmung) abzuleiten.

Seit dem Abschluss der Hauptphase dieses Bürgerkriegs, der 1998/99 mit der definitiven Niederlage des Islamismus ­ jedenfalls als Anwärter auf die (alleinige) politische Machtausübung ­ endete, bleibt dennoch ein hoher "Pegel" an Gewalttaten in Algerien bestehen. Dabei handelt es sich allerdings jetzt nicht mehr um eine Konfrontation zwischen zwei Parteien, die um die Macht im Staat ringen - sondern allenfalls um das gegen die Bevölkerung gerichtete Racket- Vorgehen von Desparadogruppen, die keinerlei Aussicht (mehr) auf irgendeine Form von Machteroberung besitzen. Besonders die extrem brutalen, aber aus einer geringen Zahl von Personen bestehenden Überreste der GIA (Bewaffnete islamische Gruppen ­ französisch Groupes islamiques armés, oder arabisch El-Gamaa El-Islamija El-Mosalahane) machen noch durch blutigen Terror gegen die Bewohner i.d.R. entlegener Landesteile von sich reden. Bei ihnen handelt sich um eine Mischung aus Banditen- und, Wegelagerertum und extrem gewaltförmigem Sektenwesen. Daneben besteht eine Abspaltung der GIA weiter, der GSPC (Salafitische Gruppe für die Predigt und den Kampf), der mit dem Netzwerk Al-Quaida in Verbindung stehen soll. Es handelt sich um eine bewaffnet kämpfende Gruppe von wenigen hundert Mitgliedern unter Führung von Hassan Hattab. Deren Handeln gehorcht bisher in stärkerem Maße bspw. den Imperativen von (taktischer oder strategischer) Rationalität und Zweckdienlichkeit, als dies für die seit längerem blindwütig drauflos mordenden GIA gilt. Der GSPC versucht sich nicht in gleicher Weise die gesamte Bevölkerung zum Feind zu machen (von der er freilich auch materielle Unterstützung abpresst), sondern Gewalthandlungen vor allem gegen Repräsentanten des Staates zu lenken und sich Restympathien zu bewahren.

Angeblich sollen dem GSPC auch die Entführer jener 31 (u.a.) deutschen, österreichischen und schweizerischen Touristen angehören, deren 14 letzte vor wenigen Wochen in der Wüste des Nachbarlands Mali freigelassen wurden. Zweifel an dieser Version sind allerdings zulässig. Aufgrund der restriktiven Informationspolitik der algerischen Behörden - die Amtshilfeangebote aus Berlin und Bern höflich, aber bestimmt ausschlugen - muss unklar bleiben, ob die Entführer wirklich zum islamistischen GSPC gehören. Die Mehrzahl der Beobachter hielt dies anfänglich für wahrscheinlich. Doch das österreichische Nachrichtenmagazin " Profil " behauptete bereits Ende April / Anfang Mai - unter Berufung auf Sicherheitskreise des Landes -, es handele sich in Wirklichkeit um "unpolitische" Banditen, die in der Wüste Schmuggel betreiben und lediglich ein Lösegeld erpressen wollten. Ähnliche Töne verlauteten, interpretierte man ihren Sinn richtig, gegen Ende der Entführungsstory auch aus Berlin. Die Affäre und die darüber herrschenden Unklarheiten könnten in diesem Fall tatsächlich einem Kalkül der algerischen Führung dienen. Diese glaubt, nach den Anschlägen vom 11. September 2001 als zuverlässiger Partner im "Krieg gegen den Terror" die verstärkte Unterstützung der westlichen Führungsmächte gewinnen zu können. Die Al Quaida-Nähe des GSPC kommt da wie gerufen. Doch ist die islamistische Guerilla bzw. der islamistische Terrorismus in Algerien (der ursprünglich überwiegend aus den Städten kam und erst im Laufe der Jahr, mit dem Druck der Repression, auf¹s Land auswich) bisher nur im dichter besiedelten Norden aufgetreten. Von der Präsenz islamistischer Terroristen im weiten Süden des Landes, also der Sahara, hatte man noch nie etwas gehört. Dort würde ihnen das Überleben, mit ihren Racket- und Versorgungsmethoden, auch verdammt schwer bis unmöglich fallen, da diese Region extrem dünn besiedelt ist und sie sich Überfälle auf die wenigen Bewohnergruppen ­ die oft gut bewaffnet sind, da sie Handel und Schmuggel quer durch die Wüste betreiben ­ nicht häufig erlauben könnten. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass es sich in diesem präzisen Fall tatsächlich um nomadisch lebende Schmugglergruppen handelte, die schlicht und einfach Kohle erpressen wollten. Das erlaubt aber mitnichten, der - billigen ­ These Recht einzuräumen, wonach der islamistische Terrorismus insgesamt nur eine Art Fata Morgana, eine propagandistische Erfindung des Staates darstelle. Diese Darstellung ist in¹s Reich der ideologischen Fabeln zu verweisen.

(Post-)Koloniales Kollektivgedächtnis und Islamismus

Den Ausgangspunkt einer gründlicheren Analyse des islamistischen Phänomens kann ein Zitat besonders gut umreißen, das eine der zentralen Ursachen dafür beschreibt, warum aktuell dem Islamismus in vielen Ländern von Teilen der Gesellschaft eine Legitimität zuerkannt wird. Ende der Achziger Jahre schreiben Cheryl Bernard und Zalmay Khalizad in ihrem Buch über The Government of God. Iran¹s Islamic Republic folgende Sätze, die die Situation postkolonialer Gesellschaften skizzieren und mit einigen Abwandlungen auf eine Reihe von Ländern übertragbar sind : "Pseudo-moderne Eliten (...) sitzen an den Schalthebeln der Macht und arrangieren sich mit den Großmächten und dem internationalen System. Daneben aber existieren die traditionellen Eliten fort und behalten bedeutende Teile ihres Einflusses, sowohl materiell als auch kulturell und ideell. Während sie unter anderen Umständen als die Großgrundbesitzer, die rückständigen Traditionalisten und die privilegierten Eliten, die sie tatsächlich sind, bekämpft werden könnten, hat die Struktur der Nord-Süd-Beziehungen ihnen eine nationalistische und sogar revolutionäre Note verliehen. Heute streiten sie um die Restauration ihrer Macht und ihrer Privilegien, aber sie bedienen sich des Vokabulars der nationalen und kulturellen Befreiung und Selbstbehauptung und der entsprechenden Volksstimmung.² In unserem Beispiel Algerien freilich vermag diese Analyse, die auf eine Reihe von Ländern von Ägypten bis Pakistan näherungsweise zutrifft, die Situation nicht hinreichend darzustellen.Tatsächlich hat in Algerien seit langem ein Austausch der gesellschaftlichen Eliten stattgefunden, der es verbietet, den dortigen Islamismus einfach als Wiederkehr alter, feudaler Eliten mit aufgefrischter Legitimation zu interpretieren. Da waren zunächst die Ergebnisse des Kolonialismus, der auf Algerien ganz anders einwirkte als auf andere, durch die westlichen Großmächte unterworfene Länder. Denn Algerien wurde durch Frankreich, dessen Herrschaft verhältnismäßig lange andauerte - von 1830 bis 1962 -, als “Teil des Mutterlands"Œ (aufgeteilt indrei französische Départements) und Siedlungskolonie behandelt. Der größereTeil der alteingesessenen Eliten sah sich, etwa seines Landbesitzes, zugunsten europäischer Bewirtschafter enteignet.

Der größte Teil der Bewohner seinerseits wurde aus seinen vorherigen sozialen Rollen herausgerissen und in das umgeformt, was der linke algerische Historiker Mohammed Harbi - unter Anlehnung an einen Begriff aus dem antiken Rom - als "die Plebs² bezeichnet hat. Also eine mehr oder minder verarmte und (sub)proletarisierte "Masse² von Menschen, die aber weder als Arbeiter noch als Bauern eine dauerhafte gesellschaftliche Stellung einnimmt, sondern als Hilfskräfte für das Sozialsystem der Europäer (vom zeitweise beschäftigten Landarbeiter oder Tagelöhner bis zur Hausdienerin) vom Kolonialsystem irgendwie durchgefüttert wird.

Damit kein Missverständnis aufkommen kann: Das Bewirtschaften der bäuerlichen Scholle und das “Verhaftet-Sein" mit ihr ist beileibe keinidyllischer Zustand, dessen Bewahrung an sich erstrebenswert wäre. (Dieses sei angemerkt, da Autoren aus dem Dunstkreis der Sekte “Bahamas" ­ die gegenden Islamismus die “Verteidigung der westlichen Zivilisation" mit Bombenpropagiert - zu Anfang 2002 Analysen wie der voraus gegangenen, etwa in KONKRET, ein ideologisch gewolltes und inszeniertes Missverständnis unterschoben. Sie formulierten den Vorwurf, hinter solchen Analysen stehe die Ablehnung der Moderne an sich und eine Haltung, welche den Bruch mit der Scholle beklage. Davon kann freilich keine Rede sein.) Tatsächlich ist das Heraustreten aus der Abhängigkeit vom Boden und seinen Erträgen, vom Wetter usw. ein “an sich" progressives Moment in der Geschichte. Es kommt nur ganzdarauf an, in welcher Form dieses Heraustreten aus bäuerlichen Lebensformen und Sozialverhältnissen sich vollzieht. Geschieht es unter den Bedingungen kolonialer Enteignung und Vertreibung und anschließender Umformung der solcherart vom Boden “Befreiten" nicht in (lohnabhängige , aber durch ihreKonzentration in modernen Industrien zum Umsturz befähigte) Arbeiter, sondern in eine “Plebs" ohne definierten Platz in der Gesellschaft, dannbietet das gewiss nicht die besten Voraussetzungen für die Entfaltung von Klassenkampf mit dem Ziel sozialer Emanzipation. Denn eine solche objektive Lage ist der Entwicklung einer Form von Klassenbewusstsein nicht besonders dienlich.

Zur gleichen Zeit funktionierte die Gesellschaftsordnung im französischen Algerien auf der Basis eines Apartheidsystems (mit drei Klassen von Staatsangehörigen), das mit religiösen Kategorien operierte. Dadurch wurde die Frage der Konfessionszugehörigkeit , und nebenbei der Herkunft, zum zentralen gesellschaftlichen Identifikationskriterium erhoben, aus dem Rechtspositionen abgeleitet werden konnten. Hier findet sich bereits eine der Zutaten für den Diskurs, der später unter anderem den Erfolg des politischen Islamismus ausmachte - und in dem das Bekenntnis zum Islam einerseits und das Eintreten für die sozial Entrechteten andererseits als Quasi-Synonyme behandelt werden.

Dieses Element allein genügt aber noch nicht, um die Genese der islamistischen Massenbewegung zu verstehen, denn diese entstand keineswegs als spontane, direkte Reaktion auf den Kolonialismus. Im Gegenteil fanden sich die Protagonisten der reaktionärsten religiösen Kreise während des Befreiungskrieges gegen Frankreich von 1954 bis 1962 (der nach offiziellen Angaben 30.000 Tote auf französischer Seite und mindestens 1,5 Millionen Opfer auf algerischer Seite kostete) durch den Lauf der Dinge auf die Seite gedrängt. Denn die Ulama, die Versammlung der (konservativen) muslimischen Geistlichen, fürchtete nichts so sehr als eine weitere Erschütterung der herkömmlichen Sozialordnung, die ohnehin von außen durch den Druck des Kolonialismus angeknackst war, durch eine Mobilisierung der "Plebeijer², um mit Harbis Begriff zu sprechen. Sie setzte vielmehr auf Ruhe und Ordnung, wozu die "Erziehung² - im Sinne der Wiederentdeckung traditioneller "eigener Werte² - hinzukommen müsse. Innerhalb der algerischen Nationalbewegung gab es zwar Kräfte, die vor allem für "den Islam² kämpften - in der Regel verstanden sie darunter aber weitaus eher eine Selbstidentifikation des am schlechtesten gestellten Teils der algerischen Bevölkerung, als die Idee eines Gottesstaates. Man traf in den Reihen des FLN (Front de libération nationale) auf reaktionäre Protagonisten, die beispielsweise der Bevölkerung den Zwang auferlegten, weder Alkohol noch Tabak zu konsumieren. Zugleich aber kamen mit dem FLN auch die Teilnahme der Frauen am bewaffneten Kampf, und das schlicht un-islamistische Ringen um ein materiell besseres Leben in die Welt. Einige Kämpfer definierten sich vorrangig als Muslime, andere als Atheisten oder jedenfalls Sozialisten.

Von der Unabhängigkeit zum Aufstieg der islamistischen “Alternative"In den frühen Jahren nach der Unabhängigkeit war Algerien meilenweit von der Vorstellung eines Religionsstaats entfernt, auch wenn vom Islam durchaus viel die Rede war - doch anfangs eher im Sinne einer vage kulturellen Selbstzubeschreibung in Abgenzung vom kolonialen Erbe. Im Laufe der Jahre, und parallel zur Mutation der Nationalen Befreiungsbewegung FLN zur zunehmend konservativen und auf reinen Machterhalt ausgerichteten Staatspartei, änderten sich die Inhalte, mit denen die Begriffe gefüllt wurden.

Anfänglich eher eine bloße Hülle, die sehr materielle Vorstellungen von einer neuen Sozialordnung umgab, wandelten sich die Bezüge auf den Islam und das Arabertum - je mehr die greifbaren sozialen Versprechungen der neuen Staatsmacht an "ihre² Bevölkerung abnahmen - immer stärker zum eigentlichen Inhalt des Diskurses. Und die neue Opposition, wie sie ab den Achtziger Jahren vorherrschend war, suchte die herrschende Oligarchie noch auf diesem Gebiet zu übertrumpfen. Es trifft freilich auch zu, dass der Austausch einer ursprünglich links vom Regime stehenden Opposition durch den Islamismus (der sich anfangs aus konservativen Widerständen etwa gegen die Agrarreform von 1972 kristallisiert hatte) als stärkste Gegenmacht wohlwollend durch Teile des Regimes begleitet wurde.

Um die zwar illegale, aber (auch aus Rücksicht auf die verbündete UdSSR) tolerierte algerische KP, die Anfang der Siebziger Jahre noch stark war, und andere linke Strömungen aus den Universitäten zu verdrängen, ließen die Behörden islamistischen Gruppen ab circa 1975 quasi freien Lauf. Zugleich wurde die Islamisierung des offiziellen Diskurses selbst verstärkt. So ist das 1984 vom FLN verabschiedete Familiengesetz (der ŒCode de la famille¹)aus einem Rückgriff auf die Scharia abgeleitet, und erfüllt somit die Wünsche der Fundamentalisten. Jedenfalls auf zivilrechtlicher Ebene (was Fragen wie die Eheschließung und das Scheidungsrecht betrifft), während allerdings die in islamistischen Staaten wie Iran und Saudi-Arabien daneben bestehenden strafrechtlichen Sanktionen (wie körperliche Züchtigungen, Steinigung bei Ehebruch) nicht vorkommen. Deswegen ist es auch Demagogie, wenn ein Befürworter einer Einbeziehung der organisierten Islamisten in ein politisches Bündnis ­ als (späte) “politische Lösung" für die KonflikteAlgeriens in den Neunzigern ­ wie der frühere Linke und jetzige Politikberater-Experte Werner Ruf 2001 in den “Blättern des iz3w" behauptet,das geltende algerische Recht sei noch schlimmer als das in islamistischen Regimen. Ihm geht es dabei vorwiegend darum, das Projekt des politischen Islamismus zu verharmlosen, indem er unterstellt, die derzeitigen Verhältnissen seien etwa für algerische Frauen noch schlimmer als in einem islamistischen Staat. Das Gegenteil ist wahr, ohne einen Hauch von Zweifel. Dass letzlich beim Zusammenbruch des FLN-Systems der Islamismus als kollektiver Robin Hood der Armen und Gedemütigten erscheinen konnte, dazu trugen einige weitere Faktoren wesentlich bei. Da ist zum Einen das Scheitern des staatssozialistischen Entwicklungsmodells, das der FLN ab Ende der sechziger Jahre / Anfang der siebziger Jahre erprobt hatte. Zu den Gründen dazu zählen etwa das Zusammenspiel von westlichem Technikdiktat und Korruption innerhalb der staatlichen Nomenklatura (als Algerien etwa schlüsselfertige Fabriken mit veralteter Technologie angedreht wurden, die anschließend kaum funktionierten) und der Ölpreisverfall der Jahre um 1985.

Die ideologische Niederlage der Linken

Zum Anderen spielt die strategische Niederlage der Linken eine bedeutende Rolle. Am algerischen Beispiel lässt sich diese Niederlage exemplarisch und in verschiedenen aufeinander folgenden Phasen ablesen. Während der FIS, mit dem Beginn des Mehrparteiensystems 1988/89, rasch zur dynamischsten politischen Kraft wurde, versuchte die realsozialistische algerische KP, die damals PAGS (Parti de l¹avant-garde socialiste) hieß, sich zunächst noch in Opportunismus gegenüber dem neuen politischen Phänomen. Man entdeckte den "wissenschaftlichen Islam², der, im Gegensatz zur obskurantischen Ausgabe, akzeptabel sei.

Die absolut vernichtende Niederlage des PAGS bei den ersten freien Wahlen, den Kommunalwahlen im Juni 1990 (die Partei war sowohl unter die Trümmer der frisch zusammengebrochenen realsozialistischen Staaten des östlichen Europa, als auch unter jene des algerischen FLN-²Sozialismus² geraten, da beider Bilanz den Begriff des Sozialismus in ein unattraktives Licht rückte) läutete den radikalen Kurswechsel ein. Feststellend, dass es der FIS war, für den die ärmeren Schichten stimmten, und nicht - wie erhofft - die Postkommunisten, riss der PAGS das Ruder um 180 Grad herum. Die Anhänger der alten Linie, jene des "wissenschaftlichen Islam², verließen die Partei daraufhin.

Ab diesem Zeitpunkt wandte der PAGS sich gegen Wahlen überhaupt, weil das Land rückständig und für die Demokratie nicht reif sei. Er warnte lautstark vor der Gefahr des "religiösen Faschismus² und biederte sich den nunmehr von ihm entdeckten "aufgeklärten² Eliten an, dabei auch vor unzweideutiger Publikumsbeschimpfung gegenüber der gesamten Bevölkerung nicht zurückschreckend. Seit Anfang der Neunziger Jahre setzt die Partei, die mittlerweile in MDS (Mouvement démocratique et social) umbenannt ist und kaum noch reale Bedeutung besitzt, auf die Perspektive einer Modernisierungsdiktatur, die hin zu einem "normalen Kapitalismus² führen solle, der dann auf längere Frist hin eine bürgerliche Demokratie schon mit sich bringen werde.

Die Ex-Realsozialisten haben auf diese Weise (unter dem Vorwand, alle anderen Programmpunkte seien dem Aufhalten des Islamismus bedingungslos unterzuordnen) jegliches gesellschaftliche Projekt aufgegeben und müssen heute als Karikatur einer politischen Kraft erscheinen, da sie völlig im Schlepptau der regierenden Oligarchie liegen. Unterdessen haben andere Teile der Linken den exakt entgegengesetzten Fehler begangen und sich hemmungslos den Islamisten, als dynamischster gesellschaftlicher Kraft, angebiedert. Dies gilt in Algerien beispielsweise für den Parti des travailleurs (PT, Arbeiterpartei), eine kleine Organisation, die ursprünglich aus einer trotzkistischen Tradition kommt, aber heute ein weitgehend populistisches Profil hat. Zwar haben andere Teile der Linken, etwa der marxistisch-trotzkistische PST (Parti socialiste des travailleurs, Sozialistische Arbeiterpartei), sich ihre Unabhängigkeit sowohl gegenüber den Eliten als auch dem Islamismus bewahrt. Sie sind jedoch in der momentanen Situation erkennbar zu schwach, um eine breite gesellschaftliche Bewegung darzustellen. Auch wenn ihre Bedeutung mit der Revolte des Frühjahrs 2001 in der berbersprachigen Region (der Kabylei), die durch soziale Riots in anderen Landesteilen begleitet wurde, vorübergehend sprunghaft anwuchs.

Das Dilemma der algerischen Linken stellte sich zwar während der Jahre des Bürgerkriegs in zugespitzter Form dar. Es lässt sich aber in seiner Grundkonstellation auf die Linke anderer Länder der Region übertragen, und die meisten dortigen kommunistischen oder Linksparteien fanden sich auf einem der beiden Pole wieder : Entweder als jeglicher Vorstellung von sozialer Opposition beraubter Wurmfortsatz (vermeintlich) modernistischer Eliten, oder aber als faktische Hilfstruppe der Islamisten.

Äußere, weltpolitische Faktoren

Zwei Ursachen trugen konkret, als das Einparteienregime des FLN unter dem Eindruck der heftigen Jugendrevolte im Oktober 1988 implodierte, zum Durchbruch des Islamismus als politische Kraft bei: (Erstens) Die explosionsartige Zunahme des Rassismus im Frankreich der Achtziger Jahre und die Politik der Grenzschließung, die eines der wichtigsten Ventile verschloss, durch welche der algerische Staat bis dahin den Druck abgeleitet sah : die Möglichkeit der Emigration nach Frankreich. (Zweitens) Und die Erfahrung des Zweiten Golfkriegs Anfang 1991, der durch die algerischen Zuschauer - wie in anderen Ländern der sog. Dritten Welt - als feiges Zusammenbomben einer, muslimischen, Zivilbevölkerung aus der Höhe erlebt wurde. Der Kreis mit der eigenen kollektiven Erinnerung an den Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich und die Kolonialmassaker schien sich so zu schließen.

Eine ähnliche Rolle als "mobilisierender Mythos² (um mit Georges Sorel zu sprechen, einem Threoretiker des französischen Prä-faschismus im frühen 20. Jahrhundert) hatte im Übrigen in den Achtziger Jahren der islamistische Guerillakrieg gegen die sowjetische Armee in Afghanistan gespielt. Zwar wies die dortige Konstellation, analysiert man sie näher, bedeutende Unterschiede zu einer Kolonialsituation auf. Doch wesentlich für die Rezeption in den meisten arabischen und/ oder muslimischen Ländern waren die (und seien es oberflächlichen) Ähnlichkeiten zwischen ihrer kollektiven Erinnerung an die Kolonialkriege und der Form des sowjetischen Eingreifens, das eine brutale und autoritäre Intervention blieb und natürlich vorrangig aufgrund sowjetischer Staatsinteressen erfolgte - obwohl sie objektiv jene Kräfte stützte, die in Punkten wie der Beteiligung der Frauen am öffentlichen Leben weitaus moderner und aufgeklärter waren als die Parteien der islamistischen Opposition. Jenen Freunden der autoritären Linken oder Ex-Linken jedenfalls, die nunmehr meinen, nachträglich die Unterstützung des sowjetischen Militärs in Afghanistan mit der heutigen Situation rechtfertigen zu können, sei ins Stammbuch geschrieben, dass zehn Jahre sowjetische Präsenz jedenfalls Teil jener Geschichte sind, die zu der heutigen Kräftekonstellation beigetragen haben. Dieses Jahrzehnt hat das spätere Geschehen nicht nur nicht verhindert, sondern auf seine Weise mit dazu beigetragen, die - äußerst brutalen - islamistischen Guerillagruppen als vermeintliche Widerstandskämpfer gegen eine Besatzung und Unterdrückung zu legitimieren. Und dies nicht nur in Teilen der afghanischen Gesellschaft, sondern weit über die Grenzen Afghanistans hinaus. Dabei wurde die in diesen Gesellschaften, aus nachvollziehbaren Gründen, verbreitete antikoloniale Grundhaltung antisowjetisch und (das machte in den Augen der Massen oftmals keinen Unterschied) antikommunistisch aufgeladen. Auch dies ist ein Grund dafür, dass es nicht die Linke war, die in den Augen vieler zum Hoffnungsträger wurde.

Insgesamt wird die Zahl der Freiwilligen aus arabischen Ländern, die in Afghanistan gegen die Sowjets kämpften, auf 10.000 geschätzt ; eine ansehnliche Kraft, aber auch wieder keine alles mitreißende Massenbewegung. Von ihnen kamen zwischen 2.000 und 3.000 aus Algerien. Als im Jahr 1989 die sowjetische Armee schließlich abzog und in den darauffolgenden beiden Jahren erst die realsozialistischen Staaten in Ost- und Südosteuropa, dann auch die UdSSR selbst zusammenbrachen, glaubten viele der Ehemaligen, sie selbst hätten diesen "historischen Sieg² errungen. Eine gnadenlose Selbstüberschätzung, aber Kriege im Namen der Religion stehen nunmal selten im Zeichen vernünftiger, materialistischer Analyse. Dem politischen Islamismus in seiner härtesten Variante verlieh dieser "Triumph" einen aufrüttelnden Impuls.

Ein autoritäres Projekt

In Algerien wie auch in anderen Ländern der Region, und insbesondere Ägypten, bildeten die Rückkehrer aus Afghanistan das Rückgrat der militanten Strukturen des Islamismus, eine gewisse Brutalisierung und Enthemmung bereits aus der afghanischen Kriegserfahrung mitbringend. Zu Anfang der Neunziger Jahre bildeten sich am Rande und im Umfeld der islamistischen Massenbewegung, in Gestalt des FIS, eine Reihe mehr oder minder auf eigene Faust handelnder "islamischer Milizen² heraus, die sich zur Aufgabe setzten, das "Sittengesetz² notfalls gewaltsam durchzusetzen. Denn der innerste Kern des politischen Islamismus besteht aus dieser Idee : Das "natürliche Wesen² der islamischen Gesellschaft, das durch die modernen Formen des Zusammenlebens zur Disposition gestellt ist, soll notfalls durch Druck und Zwang wieder hergestellt werden. Die Wirkung der relativen (durch die materiellen Verhältnisse, etwa extremen Wohnraummangel, begrenzten) Emanzipation von Frauen und Jugend, nämlich das Aufbrechen die traditionellen Sozialstrukturen, wird durch die Islamisten ausschließlich im Lichte der Erfahrung äußerer Aggression interpretiert, und also als Folge des "westlichen (bzw. chirstlich-jüdischen) Angriffs" bewertet. Im Regelfall bedeutet das : Gegebenenfalls soll unter Einschluss körperlicher Züchtigungsstrafen der “moralische Zustand" wiederherbeigeführt werden. Denn das Abkommen von diesem positiven Urzustand habe die islamischen Gesellschaften erst in die Krise gestürzt. Sämtliche Umwälzungs- und Verwerfungserscheinungen in der Gesellschaft, von der Massenarmut bis zur Frauenemanzipation, werden so über einen Kamm geschoren und als Ausdruck einer Art "Überfremdung² aufgefasst. In den Jahren 1990/91 - parallel zum Aufstieg des FIS als Wahlpartei - häuften sich so die Angriffe mal mehr, mal weniger eigenständiger "Tugendwächter²-Milizen, die etwa der Prostitution verdächtigte Frauen oft tätlich angriffen. Zugleich war der Islamismus jedoch in Algerien, dessen Bevölkerung zu bedeutenden Teilen die Vorzüge des europäischen Lebens kennt (dank allgegenwärtigen französischen Fernsehens, der Präsenz einer bedeutenden Œcommunity¹ in der Emigration in Frankreich und aufgrund dervielverfältigen Verflechtungen beider Gesellschaften) niemals völlig hegemonial.

Ein nur relativer Sieg

Anlässlich der Parlamentswahlen, die im Januar 1992 zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang abgebrochen wurden, erhielt der FIS insgesamt 3 Millionen Stimmen, bei 13 Millionen Wahlberechtigten. Das bedeutet die Zustimmung von nur rund einem Viertel der algerischen Bevölkerung in den Wahlurnen zum FIS. Die Frage möglichen Wahlbetrugs ist dabei so zu beantworten, dass sich dessen Auswirkungen wahrscheinlich in beide Richtungen entfalteten und so gegenseitig neutralisierten: Einerseits mag es Betrugsversuche bspw. seitens des Innenministeriums gegeben haben. Andererseits wurden die Wahlvorgänge durch die Rathäuser organisiert, und die wurden seit den Kommunalwahlen am 12. Juni 1990 in deutlicher Mehrheit (vor allem in den Großstädten und Ballungsräumen) vom FIS regiert. Damit dürften sich die Betrugseffekte weitgehend gegenseitig neutralisiert haben. Übrigens: Zwischen den Kommunalwahlen vom Juni 1990 (bei denen der FIS 4 Millionen Stimmen gewonnen hatte) und den Parlamentswahlen vom Dezember 1991 verlor der FIS rund eine Million Stimmen. Und das, obwohl in der Zwischenzeit zwischen einer und zwei Millionen Jungwähler, von denen eine überdurchschnitliche Zustimmung zum “radikalen Herausforderer der altenMacht" erwartet worden war, neu zu den Wahlberechtigten hinzu gekommen waren. Namentlich die klientelistische Verwaltung in vielen FIS-Kommunen hatte bereits zu Abnutzungserscheinungen der Partei und Stimmenverlust geführt. Der FIS hatte zwar aufgrund des gesellschaftlichen Krisenprozesses einen gewissen Rückenwind, er konnte diesen Krisenprozess aber weder lenken noch eindeutig zu seinen eigenen Gunsten kanalisieren. Dennoch muss man ihn zu jenem Zeitpunkt als reaktionär-totalitäre Partei mit Massenanhang bezeichnen.

Aufgrund des Mehrheitswahlrechts hätte die Islamistenpartei, die im ersten Durchgang 47 Prozent der gültigen Stimmen erhalten hatte (gut 40 Prozent der Wahlberechtigten waren den Urnen fern geblieben, hinzu kamen viele ungültige Stimmen), freilich eine klare Mehrheit der Parlamentssitze erreicht. Und viele der FIS-Wähler stimmten zwar für die - in ihren Augen - einzige radikale Alternative zu den regierenden mafiösen Eliten, die von der Plünderung und beginnenden Privatisierung der (durch sie heruntergewirtschafteten) ehemals staatssozialistischen Ökonomie profitierten, nicht aber für die reaktionäre Utopie einer "gesundeten islamischen Gesellschaft². Freilich existierte auch ein ideologisch fundierter "harter Kern² der Bewegung.

Die Rolle der Repression

Mit dem Abbruch der Parlamentswahlen im Januar, und der gesetzlichen Auflösung des FIS im März 1992 begann eine Ära der Repression gegen die Aktivisten der islamistischen Bewegung. Eine kurzatmige, ein politisches Problem mit rein polizeilich-militärischen Mitteln lösende wollende Politik des (selbst tief in der Krise steckenden) Staatsapparats rief jedoch zunächst eher die gegenteilige als die beabsichtigte Wirkung hervor. Die Verhaftung der den Sicherheitskräften bekannten Kader der Islamisten sorgte, in Verbindung mit einer "Dampfwalze² der Repression gegen die pauschal der Sympathie verdächtigten Armenviertel (die ihre Solidarisierungseffekte nicht verfehlte) objektiv dafür, dass die Bewegung immer unkontrollierbarer wurde. Anstatt der politisch-ideologisch motivierten und strategisch handelnden Kader, deren "Korsett"funktion für die Bewegung wegfiel, nahmen nunmehr aufgeheizte junge Anhänger aus den subproletarischen Wohnbezirken den Kampf in die Hand. Ab Anfang 1993 brach somit die Ära der selbsternannten "Emire² (islamische Befehlshaber) an, die über Mikroterritorien herrschten: Oft sozial deklassierte Zonen, die der Staatsapparat vorübergehend ihrem Schicksal überließ, um sich auf die Verteidigung der Wohngebiete der Eliten zu konzentrieren. Diese Akteure begannen, einen "Heiligen Krieg² auf eigene Faust zu führen. Oft genug war dieser stark von Triebkräften wie dem Wunsch nach rascher Selbstbereicherung, die nur oberflächlich ideologisch übertüncht waren, (mit-)bestimmt.

Zwei nicht unbedingt total entgegengesetzte, aber doch auseinanderstrebende Logiken prägten ab 1993/94 die islamistische Gewalt, die das Land mit Blut zu überziehen begann. Auf der einen Seite stand die Strategie einer dem FIS entsprungene Guerilla, deren wichtigste Vertretung die "Islamische Rettungsarmee² AIS bildete, und die an vorderster Stelle das Ziel einer politischen Machteroberung verfolgte. Auf der anderen Seite fand man eine Anzahl selbständig operiender Guerillagrüppchen, deren wichtigste alsbald die "Bewaffneten Islamischen Gruppen² GIA waren und die sich oftmals um Afghanistan-Rückkehrer herum bildeten. Diese Gruppen wiesen einen Doppelcharakter auf. Einerseits handelte es sich um eine extrem gewalttätige religiöse Sekte (deren Diskurs die gesamte Bevölkerung, sofern sie diese Terrorgrüppchen nicht materiell unterstützte, für "ungläubig² bzw. "vom rechten Glauben abgewichen" und todeswürdig erklärte) und andererseits um eine, in brutaler Form, direkte Aneignung betreibende Form des kriminellen Bandenwesens. Die selbst vorgenommene Legitimierung durch die "heilige Sache², die kraft Berufung auf göttlichen Willen keinerlei Widerspruch dulden konnte, wurde somit zum Deckmantel der Rechtfertigung einer Raub-, Plünderungs- und Aneignungsökonomie, die (im Kontext einer Anfang der Neunziger Jahre zusammenbrechenden Ökonomie) den Rücksichtslosesten oder Motiviertesten das Überleben auf Kosten des Rests sichern sollte. Vor allem das Vorgehen der zweitgenannten Gruppen führte binnen weniger Jahre dazu, dass die islamistischen Guerillabewegungen den allergrößten Teil der zuvor genossenen Unterstützung (denn anfangs sahen Teile der Bevölkerung in ihnen eine Art kollektiven Robin Hood, einen Rächer der Entrechteten) bis 1995/96 verloren hatten. Die großen Kollektivmassaker des Sommers 1997 sind die logische Konsequenz dieses Prozesses : Die materielle Basis ihres Kampfes zunehmend einbüßend, entschieden sich vor allem die GIA, die mittlerweile den größten Teil der autonom operierenden Terrorgruppen aufgesogen hatten, für eine blutige Flucht nach vorn.

Damit brachten sie aber auch die bisherige islamistische Massenbasis gegen sich auf. Dort, wo von religiösem Glauben und / oder Resten islamistischer Ideologie geprägte Menschen nicht zu einem bewussten ideologischen Bruch in der Lage waren, gaben sie dem Abbruch der Unterstützung eine andere Begründung, um ihn für sich zu “rationalisieren". So kamen im Zuge derKollektivmassaker des Hochsommers 1997 massenweise Gerüchte auf, wonach Gruppen ihr Unwesen trieben, die erklärtermaßen von Gott abgefallen (und gar mit dem Teufel im Bunde) seien. Einige wollten bärtige Männer gesehen haben, die sich den Zeigefinger abgeschnitten hätten, da mit diesem Finger normalerweise auf Gott gezeigt würde. Andere wollten wissen, dass die Terrorgruppen sich dem Slogan "Allah akfar" (statt “Allah akbar", Gott istgroß ; “akfar" ist die Superlativ- Steigerungsform von “kafer", also“ungläubgig") verschrieben hätten. “Gott ist der größe Ungläubige" zu rufen,zeichnet nun aber im Kollektivbewusstsein nicht gerade Islamisten ausŠ Eshandelte sich freilich lediglich um eine Form von Rationalisierung, von Verarbeitung des Wahrgenommenen, also des Umkippens vormals ideologisch motivierter Gruppen in Killertrupps, die Massenmorde an der Zivilbevölkerungverübten. Die bis dahin noch in höherem Maße im Sinne einer politischen Logik operierenden Gruppen gaben teilweise auf ; so schloss die AIS im Frühherbst 1997 einen Waffenstillstand mit dem Staat. Das bedeutet nicht, dass letztere Gruppen keinen Anteil an dem Blutbad der Neunziger Jahren trügen. Einerseits hatte der, in der Illegalität operierende FIS-Apparat seinerseits sich mitunter der GIA bedient, wenn es seinen Interessen diente. So im August 1994 : Damals hatte die Staatsführung einen Teil der inhaftierten FIS-Direktion freigelassen und eine Verhandlungsphase eröffnet. Der oberste FIS-Chef Ali Benhadj wurde aus der Haft in eine offizielle Residenz unter Überwachung verlegt. Doch sechs Wochen später fand man bei dem getöten GIA-Führer Cherif Gousmi einen Brief von Ali Benhadj, in dem es hieß, die Gruppen sollten auf jeden Fall "den Druck aufrechterhalten². Das könnte ein Manöver gewesen sein. Doch seitens des FIS wurde die Echtheit des Dokuments nie bestritten. Im Oktober 1994 war die Gesprächsphase beendet. Zum anderen hat auch die parteinahe AIS, wenngleich sie weniger flächendeckend Zivilisten mordete als etwa die GIA, ihrerseits in den von ihr kontrollierten Zonen hinreichend bewiesen, dass sie der Bevölkerung nichts als rigide, ideologisch motivierte Verbotsmaßnahmen zu bringen hatte, aber auf keinen Fall ihr Leben zu bessern versprach.

Die Erfahrung mit beiden Varianten des bewaffneten Islamismus hat jedenfalls zur Abwendung der Bevölkerung geführt. Das Ziel einer Machtübernahme in gewaltsamer Form ist auf unabsehbare Zeit hin gescheitert (auch wenn eine Reihe kriminell-islamistischer Banden nach wie vor aktiv sind). Das bedeutet jedoch nicht, dass der politische Islamismus die Auseinandersetzung schon heute und für immer verloren hätte. Denn erstens bleibt der gesellschaftliche Nährboden, auf dem die Zustimmung zur islamistischen "Alternative² gedeihen konnte, unangetastet : Armut und Perspektivlosigkeit sind in den letzten beiden Jahren eher eskaliert, als dass sie abgenommen hätten. Zum Zweiten verfolgt die regierenden Oligarchie eher das Ziel der Einbindung von Teilen des politischen Islamismus in das offizielle Politikgeschäft, jedenfalls soweit sie auf revolutionäre Demagogie verzichten, als das Ziehen eines klaren Trennungsstrichs. Und zum Dritten bleibt die Möglichkeit einer anderen, einer linken, sozialen Alternative bisher noch in weiter Ferne, auch wenn ihre Möglichkeit mit den (für den Augenblick stecken gebliebenen) Revolten des Jahres 2001 erstmals wieder aufgeschienen ist.

Verschwörungstheoretische und materialistische Deutungen Bereits während bzw. kurz nach der Saison der großen Massaker an der Zivilbevölkerung, dem Spätsommer 1997, begannen einige Intellektuelle vor allem in Frankreich die offizielle Version (also die Täterschaft der bewaffneten Islamisten) in Frage zu stellen. Manchmal kamen die Begründungen für die Behauptung, in Wirklichkeit begingen die Staatsorgane die Schlächtereien, um sie den Fundamentamisten im Anschluss in die Schuhe zu schieben, recht kurios daher.

Beispielsweise erklärte der französische "Islam-Experte² Bruno Etienne bereits Ende August 1997 in einem französischen Zeitungsinterview (in “LeFigaro"), "75 Prozent ² der kollektiven Tötungsaktionen würden durch den algerischen Staat begangen und den Islamisten nur in die Schuhe geschoben. Und zum Beweis dafür, dass in Wirklichkeit die Militärs hinter den GIA (Bewaffnete Islamische Gruppen, die sich zu den Kollektivmassakern bekannten) bzw. ihrem “Nebelvorhang" stünden, führte Etienne folgendes aus :"Die Tatsache, dass die meisten jungen Leute dieser Kommandos in den Gefängnissen ermordet werden, nachdem sie gestanden haben, ist ein untrügliches Zeichen.² Nun mag die Idee ausgesprochen seltsam erscheinen, dass die behauptete Tötung der GIA-Terroristen dafür spreche, dass die Armee sich hinter diesen Gruppen verberge. Würden damit doch die Militärs ihre eigenen Leute eliminieren, was bestimmt nicht ohne größere Reibungen in deren Reihen ablaufen würde. Aber was kümmert den "Experten² die Logik. Seit dem Jahreswechsel 2000/01 sind zwei Buchtitel im Pariser Verlag La Découverte erschienen, die belegen sollen, dass die größten Terrorakte durch die algerischen Staatsorgane begangen und zu Unrecht den radikalen Islamisten zur Last gelegt würden. Im Februar 2001 kam La sale guerre (Der schmutzige Krieg) auf den Markt, das die Autobiographie des Ex-Offiziers Habib Souaïdia darstellt, aber in Wirklichkeit durch zwei aufeinanderfolgende Ghostwriter (den Algerier Mohammed Sifaoui, und später den Verleger François Gèze selbst) mit entgegengesetzen politischen Absichten verfasst bzw. umgeschrieben wurde. Mutmaßlich hat Souaidia dabei nur seinen Kopf hingehalten und ein paar Rohinformationen, in Form erlebter oder auch vom Hörensagen her bekannte Begebenheiten, geliefert, während der Verleger die eigentliche politische Operation steuerte. Mutmaßlich war Souaidia in Wirklichkeit wegen illegalen Autohandels auf seinem Posten als Unteroffizier inhaftiert worden.

Bereits im Oktober 2000 war im selben Verlagshaus und unter aktiver Mitwirkung desselben Verlegers, François Gèze, ein weiterer Titel erschienen. Auch er ließ viel Tinte fließen und verspricht seinerseits den Nachweis für die umstrittene These zu liefern : Qui a tué à Bentalha ? (Wer hat in Bentalha getötet ?). Sein Autor heißt Nesroulah Yous und ist ein Überlebender eines der größeren Massaker an der Zivilbevölkerung, das am 22. September 1997 in Bentalha, einer Trabantenstadt von Algier, stattfand. Schriftstellerisch unter die Arme gegriffen wurde ihm durch die in Berlin lebende, aus Algerien stammende Journalistin Salima Mellah, der man ohne größeres Risiko eine pro-islamistische Schlagseite in ihrer Sichtweise des algerischen Bürgerkriegs nachsagen kann. (Die Islamisten erscheinen bei ihr vorwiegend als Opfer der Repression eines, vorrangig zu denunzierenden, übermächtigen Staates. Dabei ist der algerische Staat zwar ohne Zweifel oligarisch und repressiv, aber keineswegs so allmächtig und den Krisenprozess so überlegen steuernd, wie Mellah und andere das oftmals darstellen.)

Damit glauben die Verfechter der zitierten These, sich hinreichend in ihrer Beweisführung abgesichert zu haben. Verfügen sie doch dem Anschein nach damit über je einen Zeugen von der Seite der (Massaker-)Opfer und von der Seite der Armee (und damit aus dem Lager der vorgeblichen Allein-Täter), die beide zugunsten der These von der Vortäuschung islamistischer Gewalt durch die Militärs plädieren.

Tatsächlich präsentiert sich das Buch von Nesroulah Yous weitaus seriöser als jenes, das Habib Souaïdia zugeschrieben wird. Letzteres besteht bei näherem Hinsehen aus einem inhaltlich inkohärenten, zusammengestoppelten Nebeneinander von widersprüchlichen politischen Aussagen, die mutmaßlich von verschiedenen Autoren stammen. Hingegen ist bei Yous ein kohärenter Erzählungsfluss vorhanden. Und (egal, wie man nun zu der Grundthese stehen mag, derentwegen der Verlag das Buch herausgebracht und mit viel Aufwand beworben hat) viele der Ausführungen des Autors bleiben nachvollziehbar. Dies gilt vor allem für den ersten Teil des Buches, der die Entwicklung des gesellschaftlichen Mikrokosmos in den Trabantenstädten Baraki und Bentalha während der fünf Jahre vor dem Gemetzel schildert.

Qui a tué à Bentalha ? besteht tatsächlich aus drei Teilen. Die ersten 150 Seiten sind La sale guerre au quotidien (Der schmutzige Krieg im Alltag) überschrieben, wobei der Titel wahrscheinlich bereits das nächste Buch ankündigt. Also jenes von Habib Souaïdia, “La sale guerre", das FrançoisGèze bei Erscheinen des Yous-Textes gerade zu Ende schrieb. Die kommenden rund 75 Seiten schildern das Erlebnis des Massakers und der Periode kurz davor und danach. Im Anschluss liefern François Gèze und Salima Mellah (unter ihren eigenen Namen) auf 65 Seiten, unter der programmatischen Überschrift "Verbrechen gegen die Menschlichkeit², globale politisch-ideologische Schlussfolgerungen aus dem Dargelegten. Diese laufen auf die Forderung hinaus, eine internationale Untersuchungskommission und die internationale Gerichtsbarkeit über die Chefs der algerischen Militärs urteilen zu lassen; letztere erscheinen als alleinige Hauptschuldige der Gewalt, die in den Neunziger Jahren Algerien erschütterte. Die erste Hälfte des Buches, bis circa Seite 200, schildert auf meist nachvollziehbare und realistische Weise, wie sich der Klimawandel in den südöstlichen Vororten der Hauptstadt Algier in den Jahren von 1991/92 bis 1997 vollzieht. Auch wenn bisweilen isolierte Einsprengsel im Sinne der Komplott-Theorie (im Sinne von: Die Armee verbirgt sich hinter den Islamisten) in den Text eingestreut sind, so schildert der Autor doch die Gesamtentwicklung des Konflikts in einer Weise, die eine andere Logik als jene der Komplotttheorie erkennbar werden lässt. Am Ausgang steht der Aufstieg der Islamistenpartei FIS (Islamische Rettungsfront), die für Teile der pauperisierten Bevölkerung in den geschilderten Quartieren zum Hoffnungsträger wird, und der Abbruch der Parlamentswahl im Januar 1992 infolge des Wahlsieges des FIS.

Nicht unmittelbar darauf, aber doch in der Folgezeit erscheinen in den Quartieren die ersten bewaffneten Gruppen. Am Anfang treffen diese auf eine recht verbreitete Sympathie der Bevölkerung, da diese (nach Art eines Robin Hood) gegen ein verhasstes Regime kämpfen und das Bekenntnis zum Islam im Grundsatz durch die meisten Leute geteilt wird. Am Anfang finden sich bekannte örtliche Figuren des FIS unter den Mitgliedern der bewaffneten Kleingruppen. Alsbald aber werden diese, einige sind vermutlich durch die Repression ausgeschaltet, durch junge Leute von außerhalb ersetzt. Die Gruppen, die sich in dieser Phase in den Quartieren auf offener Straße frei bewegen, verhängen eine Reihe von Ge- und Verboten über die Bevölkerung. Die Leute sollen nicht rauchen, keinen Alkohol trinken, kein Fernsehen gucken, nicht ins Café gehen und kein Domino spielen.

Am Anfang bleibt es bei simplen Ratschlägen, doch in einer nächsten Phase werden die Verbote aller "gottlosen² Vergnügungen durch immer rigorosere Strafen sanktioniert. Junge Wehrpflichtige der Armee und Mitarbeiter von Staatsunternehmen und öffentlichen Ämtern werden zur Zielscheibe, da die Gruppen verboten haben, für den "gottlosen Tyrannen² zu arbeiten. Das stößt deren Familien ab. Auf wenig Gegenliebe stößt wenig später die Vorschrift, die Frauen dürften nicht arbeiten. Übrigens nicht unbedingt, weil die männlichen Bewohner der Quartiere besondere Verfechter der beruflichen Emanzipation ihrer Frauen wären; aber die ärmeren Familien benötigen schlicht und einfach das Einkommen aller ihrer Mitglieder im Erwachsenenalter. Auch dies kühlt das Verhältnis zu den, selbstbewusst Vorschriften und Verbote erteilenden Aktivisten der islamistischen Gruppen ab.

Die Sympathien der Bewohner werden immer geringer und zunehmend durch Angst und pure Tyrannei ersetzt. In einer darauf folgenden Phase verlangen die Gruppen von den Bewohnern, ihnen Identitätspapiere und Autos zur Verfügung zu stellen, damit ihre Mitglieder sich ungehindert fortbewegen und Anschläge begehen können. Wer sich weigert, wird, so besagen jedenfalls Gerüchte aus anderen Vorstädten von Algier, von Islamisten zu Tode gepeitscht. Damit geraten immer mehr Leute zwischen Hammer und Amboss, da jene, die sich beugen, gleichzeitig als "Komplizen² ins Visier der Repression der Militärs und Sonderkommandos geraten. Denn diese schlägt ihrerseits oft blind in diesen ärmeren Vierteln zu, deren Bewohner pauschal als "potenzielle Terroristen² verdächtigt werden.

Schließlich verhängen die Gruppen für abends und nachts ein Beleuchtungsverbot über die Armenviertel. Der Staatsapparat beschränkt sich unterdessen zu Anfang darauf, die "verseuchten² Bezirke und Armenquartiere von außen mit hermetischen Kontrollriegeln zu umgeben, während ihre Bewohner im Inneren ihrem Schicksal überlassen werden. (Die algerische Tageszeitung “Liberté" zitierte in den späten Neunzigern das zynische, obgleich wohllängerfristig strategisch erfolgreiche, Räsonnement eines algerischen Militäts: “Sollen Sie doch ein wenig Hokm-al Scharia (die Herrschaft derScharia) kosten", nach dem Motto, die Leute würden schon sehen, was sie davon hätten. Möglicherweise erklärt das auch mit, dass manche Militärs eine gewisse Passivität anlässlich der von Islamisten verübten Kollektivmassaker im Sommer 1997 an den Tag legten: um nämlich die Abwendung der Bevölkerung von diesen noch zu beschleunigen. Aber ob es wirklich so war, das kann derzeit nicht wirklich geklärt werden. In einigen Fällen hat es auch Versuche des Eingreifens durch Soldaten gegeben, die dabei grausam zu Tode kamen.)

Diese Schilderungen decken sich soweit etwa mit den Analysen, die man auch in einem der am saubersten argumentierenden Bücher zum algerischen Bürgerkrieg findet, dessen Autor (im Gegensatz zu den zuvor zitierten) nicht eine sensationelle Verschwörungsthese zu belegen, sondern die materiellen Grundlagen des Konflikts zu untersuchen unternimmt. In La guerre civile en Algérie (Karthala, Paris, 1998) hat Luis Martinez längere Passagen seiner gut 400 Seiten der "islamistischen Kriegsökonomie² gewidmet. Diese könnte man am treffendsten als eine Art Raubökonomie beschreiben, im Kontext einer zusammenbrechenden Nationalökonomie, an deren Entwicklungsmodell längst nicht mehr alle Bewohner partizipieren können. Die historisch-ideologische Matrize, auf der sich der Kampf der bewaffneten Gruppen abspielt, ist für Martinez der Befreiungskrieg gegen die Kolonialmacht Frankreich bzw. die verzerrte Vorstellung davon, die in den Köpfen vieler Jugendlichen spukt. Mit Anbruch der Unabhängigkeit 1962 gab es zwei verschiedene Logiken zur Verteilung der Güter, die die Kolonisatoren und Siedler zurückgelassen hatten. Einerseits gab es etwa eine Bewegung zur kollektiven Aufteilung und Bewirtschaftung des durch die europäischen Besitzer zurückgelassenen Großgrundbesitzes, zur Selbstverwaltung in der Produktion. Zum anderen gab es aber eine Logik seitens des Armeeapparats, der die "Beute² unter den Angehörigen seiner Hierarchie und deren Klientelgruppen aufteilte. Zweitere Logik hat sich schließlich durchgesetzt, die Selbstverwaltung wurde zwischen 1962 und 1965 auf autoritäre Weise gestoppt. Die nach dem Krieg aufgewachsenen Jugendlichen sahen sich mit einer Kaste konfrontiert, die ihren immensen, oft mafiös erworbenen Reichtum mit ihrer (reellen oder behaupteten) Teilnahme am Unabhängigkeitskrieg rechtfertigte. Diese jungen Leute träumten nun davon, dasselbe zu erreichen : Sich durch ihre Teilnahme an einem vermeintlich gerechten, durch die Bevölkerung unterstützten Krieg (in ihrem Fall jetzt gegen ein "gottloses Regime²) schnell und außerordentlich zu bereichern. So entwickelte sich eine Art parasitärer Raubökonomie, die, im Kontext einer kollabierenden Dritte-Welt-Ökonomie, auf der Bevölkerung lastete. Diese wandte sich logischerweise alsbald von deren Protagonisten ab. Die Militärs ihrerseits setzten lange Zeit darauf, die Lage in den islamistisch beherrschten Zonen "verkommen zu lassen², im Sinne der oben zitierten Logik: Die Leute werden schon sehen, was sie davon haben.

Doch nochmals zurück zu Yous: Dieser schildert seinerseits diesen Prozess der fortschreitenden Abwendung der Bevölkerung von den bewaffneten Gruppen, deren Druck zunehmend bleischwer auf ihr lastet. Ab 1996/97 führt dieser Prozess zur Bildung von "Selbstverteidigungs²-Gruppen und autonomen Milizen, die Waffen von den Militärs erhalten. Die bewaffneten islamistischen Gruppen werden in ihrem Vorgehen immer brutaler, sehen aber ihre Einflusszonen immer mehr schwinden. In dieser Situation kommt es zu den großen Massakern an der Zivilbevölkerung im Spätsommer 1997 : Beni-Messous, Raïs, Benthala... Nach dem, was Yous selbst bis dahin detailliert geschildert hat, müsste sich dies logisch als Resultat us dem vorangegangenen Prozess erklären lassen, nachdem die Terrorgruppen mehr und mehr in die Enge getrieben wurden. Doch an dieser Stelle entscheidet sich Yous (oder seine Co-Autorin Salimah Mellah) dafür, in die Schilderung des Massakers immer wieder Anspielungen einzustreuen, die zu verstehen geben, dass er nicht die GIA-Islamisten für die Täter hält, sondern Angehörige der Armee. Natürlich ist in der Dunkelheit und im Angesicht des drohenden Todes eine Identifizierung der mehreren hundert Angreifer nicht möglich. Meist operiert Yous daher mit eingestreuten Vermutungen und Unterstellungen. Sein Hauptvorwurf an die Armee nährt sich daraus, die Militärs hätten in geringer Entfernung in einer Kaserne gelegen, aber nicht eingegriffen. Algerische Journalisten hatten allerdings unmittelbar nach dem Massaker geschrieben, die Soldaten hätten einzugreifen versucht, aber Verluste erlitten, da alle Zufahrtswege vermint worden seien. Ferner will Yous einige Vorab-Anzeichen kurz vor dem Massaker ausgemacht haben : Angehörige der "Patrioten² (eine lokale Miliz, die Waffen vom Staat erhält) sollen die Schlächterei hämisch angekündigt haben. Ein weiterer Hinweis sei, dass man die Friedhofsverwaltung von Baraki am Vortag 30 Gräber ausheben habe lassen. Der Einwand sei freilich erlaubt, dass (die Existenz eines diabolischen Plans der Armee-Hierarchie vorausgesetzt, um ein Massaker anzurichten und es der Gegenseite im Bürgerkrieg anzuhängen) diese wohl weder eine simple Dorfschützer-Miliz noch einen Friedhofswächter vorab in ihre Pläne einweihen würde. Für so blöde sollte man auch algerische Offiziere nicht halten.

Fest steht jedenfalls, dass andere Überlebende des Massakers von Benthalha in der zentralen Frage der Tätervermutung Yous klipp und klar widersprochen haben, beispielsweise im Dezember 2000 in dem französischen Wochenmagazin Marianne. (Die einzeln zitierten Gesprächspartner der Zeitschrift waren in Yous¹ Buch namentlich als Einwohner von Bentalha erwähnt worden.) Ihnen zufolge sind die Angreifer als Islamisten bekannt, und mehrere unter ihnen, die aus der Gegend stammten, seien namentlich identifizierten worden. Andere Überlebende forderten im Februar 2001 eine Gegenüberstellung mit Yous auf einer Podiumsdiskussion in Paris, was dieser jedoch verweigerte. Was sind die Beweggründe, die Yous dazu bewegen, diese These zu verteidigen, die seine Co-Autorin Salima Mellah aus offensichtlichen ideologischen Erwägungen vorträgt ? Dazu kann man nur spekulieren. Erstens bleibt Yous¹ eigene Rolle im Dunkeln. Er selbst schildert sich stets nur in positivem Licht, will selbstlos gegenüber seinen Mitbürgern gehandelt und im Vorfeld aktiv auf kollektive Selbstverteidigung gedrungen haben. Algerische Zeitzeugen haben jedoch Zweifel. So schildert Yous in seinem Buch mehrfach, als Bauunternehmer für militärische Einrichtungen gearbeitet zu haben, so für die Kaserne in Meftah. Kenner der Örtlichkeiten schildern diese jedoch als festungsähnlichen Sitz der Speizalkommandos der Armee, der deutschen GSG 9 entfernt ähnelnd. Und gehen davon aus, Yous hätte kaum unbehelligt in der GIA-Hochburg Bentalha leben können, falls er nicht Kontakte und eventuell eine Informanten-Rolle (wahrscheinlich zu beiden Seiten) unterhalten habe. Dies könnte erklären, warum er selbst das Massaker überlebte, da keineswegs wahllos alle Bewohner niedergemetzelt wurden, sondern die Häuser der Getöteten vorher bezeichnet worden waren. In dieser Grauzone wird man wohl keine genauere Antwort erhoffen können.

Zum zweiten schwebt in Algerien selbst ein nicht unwesentlicher Teil der Bevölkerung im Unklaren angesichts eines intensiven Propagandakriegs, der den Konflikt der Neunziger Jahre von beiden Seiten her begleitete. So schilderten nach vielen Massakern Überlebende (mitunter Angehörige von Familien, die auf Seiten der bewaffneten Islamisten standen und daher nicht angetastet wurden), dass die Täter Gott verflucht hätten und aus Armeeflugzeugen abgesprungen seien, auch wenn dies nachweislich falsch war. Bewaffnete Islamisten bedienten sich an Straßensperren gestohlener Armeekleidung, um ihre Opfer ins Vertrauen zu locken, während es umgekehrt wohl auch einzelne Fälle gegeben hat, in denen Militärs mit falschen Bärten als "Islamisten² operierten. Im Gegensatz zu Habib Souaïdia und anderen sollte man aber nicht versuchen, den algerischen Konflikt allein durch die Ausage des letzten Halbsatzes (weitgehend) als Komplott “erklären" zuwollen.

Die Lobby der Islamisten-Verharmlosung

Und drittens ist die Bedeutung der Lobby in Medien und Politik gerade in Frankreich nicht zu unterschätzen, welche den Diskurs des "Man weiß nicht, wer in Algerien tötet² (oder auch "Die Armee allein tötet²) aktiv unterstützt. Manche wohlmeinenden Linken oder eher Linksliberalen gehör dazu, die glauben, es gehe wie in den 1970er Jahren in Chile und Argentinien allein darum, eine pro-westliche Militärdiktatur zu bekämpfen. Aber auch weit weniger wohlmeinende Kräfte.

So unterstützt die europäische, und vor allem französische, Sozialdemokratie aktiv jene algerischen Kräfte, die auf eine "politische Lösung² unter Einbezug der Islamisten setzen oder noch in jüngerer Vergangenheit setzten. Der algerische FFS (Front des forces socialistes, “Front der sozialistischenKräfte") spielt dabei eine gewisse Rolle. Es handelt sich um eine regionale Lobbypartei der führenden Schichten in der berbersprachigen Region Kabylei, die über eine gewisse (vorwiegend aus Regional- oder Dorfzugehörigkeit resultierende) soziale Basis in diesem Landesteil verfügt.

Der FFS baut in seiner Strategie seit Mitte der Neunziger Jahre auf vermehrten internationalen und vor allem europäischen Druck, um sich durch ihn einen Platz am Tisch der politisch zählenden Kräfte (neben den Militärs) herauszuschinden. Der FFS ist zugleich Mitgliedspartei der sozialdemokratisch ausgerichteten “Sozialistischen Internationale". Diepolitische Instrumentalisierung läuft dabei in beiden Richtungen: Der FFS wünscht eine vermehrte Einbeziehung der Europäischen Union und der USA in die algerische Krise, um so für sich selbst mehr herauszuholen. Denn FFS-Chef Hocine Ait Ahmed, der seinen ständigen Wohnsitz im schweizerischen Lausanne hat, spielt in den europäischen und westlichen Hauptstädten eine wesentlich wichtigere Rolle als in Algerien selbst. Vor allem in vielen sozialdemokratischen Kreisen oder in der Presse (die Pariser “Libération"etwa übernimmt zu Algerien alle FFS-Darstellungen hundertprozentig, ohne einen Hauch von Zweifel an den oft schiefen Sichtweisen aufkommen zu lassen) wird der FFS als “die demokratische Alternative" gehandelt. Umgekehrt istdiese, so umgängliche Partei natürlich für westeuropäische Kreise ein wichtiger Hebel, um in Algerien Einfluss zu nehmen. Just der FFS aber versuchte in Algerien einige Jahre lang, als “Mittler"zwischen der islamistischen Konfliktpartei und der Staatsmacht aufzutreten. FFS-Chef Hocine Ait Ahmed ist etwa, neben hochkarätigen FIS-Vertretern, Unterzeichner des “Vertrags von Rom", der am 14. Januar 1995 in derKirchegemeine San¹Egidio unterzeichnet wurde. Gegenstand des quasi-diplomatischen Abkommens ist eine angebliche “politische Lösung" durchdas Zusammenbasteln einer institutionellen Allianz unter Einschluss von Militärs und Islamisten, die in der damaligen Situation dem FIS sehr willkommen gewesen wäre. In manchen Medien werden die Verfechter dieser Option als “demokratische Opposition" bezeichnet. 

Mit “demokratischen" Ansätzen aber haben die Verfechter dieser Lösung, die auf eine machtpolitische Prothese unter Stützung auf die Islamisten hinaus laufen sollte, nichts zu tun. Finden sich doch neben der Unterschrift von FFS- und FIS-Führungsmitgliedern auch jene wichtiger Vertreter der zu dem Zeitpunkt reichlich abgehalfterten Staatspartei FLN (wie Ahmed Mehri) unter dem “Vertrag von Rom". Damals machte sich innerhalb des FLN eine Strömung breit,die für einen Einschluss der Islamisten in eine institutionelle Lösung votierte ; mittlerweile hat sich dieses Thema für den FLN, der seit 1999 wieder regiert, aber erledigt. Lediglich ein (führender) Teil der Militärs wollte von der römischen Lösung nichts wissen. Der Armee war zwar eine weitere Machtbeteiligung auch in San¹Egidio zugesagt worden, doch der Ton angebende Flügel wollte sie lieber nicht teilen, erst recht nicht mit den Islamisten.

Aufgrund dieses Bündnisgeflechts war es für den FFS lange Jahre hindurch wichtig, die Verantwortung von Akteuren aus dem islamistischen Lager für das Blutvergießen in Algerien zu leugnen oder herunterzuspielen. Denn der taktische Hauptstoß musste damals gegen den Ton angebenden Flügel der Armee geführt werden, der sich nicht auf solche Bündnisangebote und ­vorstellungen einlassen wollte. Der FFS stritt daher in den späten Neunziger Jahren oft systematisch ab, dass Islamisten eine wichtige Rolle beim Blutvergießen spielten (in der karikaturhaften Version: “alles verkleidete Militärs").Vom FFS wurde dieser Version durch viele seiner Bündnispartner übernommen, etwa manche sozialdemokratische Politiker, linksliberale Verlage (La Découverte) und Medien (wie “Libération") usw.Neben den internationalen Allianzen des FFS spielt auch der Frontverlauf in der innerfranzösischen Auseinandersetzung eine Rolle. Ab 1992 standen sich, grob gesprochen, zwei große Lager gegenüber, die jeweils eine realpolitische Option vom Standpunkt des französischen (und europäischen) Imperialismus aus verfochten. Auf der einen Seite standen die “éradicateurs" (Ausrotter): Daswar jener Teil der konservativen Rechten, der auf eine Strategie der Härte und der rein repressiven “Lösung" durch militärisches Ausschalten oderNiederhalten der Islamisten mitsamt ihrer Basis setzte.

Diese Option war vorwiegend innenpolitisch motiviert: Sie sollte dazu dienen, auch innerhalb Frankreichs eine Politik des mehr oder weniger permanenten Ausnahmezustands zu legitimieren, im Namen des “Kampfs gegen denTerrorismus". Begründet wurde dies mit einer Gefahr des Herüberschwappens des algerischen Konflikts über das Mittelmeer, bei dem auch Frankreich (als Stütze des amtierenden Regimes in Algier) getroffen werden können. Eine solche Politik verfolgte besonders der autoritär-rechtsgaullistische Innenminister Charles Pasqua (März 1993 ­ März 1995), im Namen der angeblichen permanenten islamistischen Bedrohung Frankreichs. Die gab es zumindest zu dem Zeitpunkt nicht; erst nach dem Abgang Pasquas gab es für einige Wochen lang, im Sommer und Herbst 1995, tatsächlich islamistische Terroranschläge auf französischem Boden, die von Kleinstgruppen aus den französischen Banlieues (wahrscheinlich mit loser Verbindung zu den GIA) ausgingen.

Die andere Option war vorwiegend außenpolitisch begründet. Es war jene des Mehrheitsflügels der französischen Sozialdemokratie unter Einschluss von Staatspräsident François Mitterrand (während eine Minderheit der Sozialisten eher den o.g. “éradicateurs" zuneigte). Präsident Mitterrand ging damals,1991/92, davon aus, dass nur stabile staatliche Verhältnisse in Algerien einkehren könnten, wenn man den FIS an der Macht zulasse oder zumindest beteilige. Das ließ er auch wissen, zum ziemlichen Missfallen einiger algerischen Militärs.

Diese Fraktion wird jene der “réconciliateurs" (Versöhnler) genannt. Auchnach Abbruch der Wahlen und dem FIS-Verbot 1992 sprachen sie einer Rehabilitierung des FIS und seiner Einbindung in eine institutionelle “Lösung" das Wort. Neben einem bedeutenden Teil der französischenSozialdemokratie gehören ihr auch die Grünen (die oftmals aus naiv-pazifistischem Verständnis für eine “Versöhung" durch ein Abkommenzwischen Militärs und Islamisten eintreten) und ein Minderheitsblock innerhalb der bürgerlich-konservativen Rechten an. So plädierte 1996/97 vor allem ein Teil des liberal-konservativen Parteienbündnisses UDF, um Ex-Präsident Valéry Giscard d¹Estaing, für eine solche Strategie der Einbindung der Islamisten.

Ein Diskurs der Leugnung oder Herunterspielung des islamistischen Anteils an Verbrechen und Gewalt in Algerien, im Sinne des “Die Armee manipuliert die(vorgeblich) islamistischen Terroristen", passt in der Regel in die Strategie dieser “réconciliateurs". Daher erfreut er sich auch in ihremUmfeld, also in linksliberalen Kreisen und rund um Sozialdemokraten und Grüne, der höchsten Beliebtheit. Aber er reicht daneben auch bis tief in die radikalere Linke hinein, da ein Teil von ihr für eine billige und simple Anklage nach dem Motto "Die algerische Armee ist an allem (allein) schuld" als vermeintlicher Herrschafskritik empfänglich ist. Zum Glück ist diese billige Agitation allerdings bisher in der radikalen Linken nicht hegemonial.

Eine kritische Linke müsste es sich zur Aufgabe machen, erst einmal die zahlreichen, über Algerien verbreiteten ideologischen Mystifizierungen und Verwirrungen zur Seite zu schieben. Ferner müsste sie sich von allen “Lösungs"ansätzen verabschieden, die vom französischen oder europäischenherrschenden Interesse, dem an staatlicher Stabilisierung (gleich welchen Regimes) zwecks Kontrolle über Algerien gelegen ist, ausgehend angelegt sind. Die algerische Bevölkerung wird (potenziell) sowohl durch die Islamisten als auch durch die Militärs unterdrückt. Eine linke, emanzipatorische Option kann also nicht in einem irgend gearteten “Kompromiss" in der Mitte zwischen den beiden liegen (wie bürgerlichePazifisten und regierungskompatible Grüne dies glauben mögen). Viel mehr muss die Zukunft nicht in einem “Sowohl (Militärs) ­ als auch (Islamisten)"gesucht werden, sondern in einem “Weder ­ Noch".

Anmerkungen

FUSSNOTE 1: 

Zur Terminologie:  Im Deutschen hat sich mitunter die Bezeichnung des FIS als “IslamischeHeilsfront" eingebürgert. Diese, vom Sinn her falsche Namensgebung beruht auf einer falschen Übersetzung aus dem Französischen. Zwar bedeutet der Begriff “salut" (in: Front islamique du salut), losgelöst genommen,tatsächlich “Heil". Allerdings auch im Sinne von “Rettung vor einemdrohenden Unteil". Im politischen Kontext wird der Begriff meist auch so benutzt.
Im Falle des FIS geht aus seiner arabischen Bezeichnung klar hervor, dass eine “Rettungsfront" gemeint ist, die das Land vorgeblich (aus seinemNiedergang) errettet. Die Ideologie der reaktionär-totalitären Partei ist zwar auf einer religiösen Grundlage entstanden, doch ist ihr Projekt kein religiöses, sondern ein politisches. Daher ist ihr Name auch nicht wie jener einer religiösen Sekte, sondern als der einer angeblich “das Land rettenden"Partei zu verstehen. Eine ähnliche Falschübersetzung liegt übrigens ­ historisch älter ­ auch bereits der deutschsprachigen Namensgebung des Comité de salut public (der Jahre 1793/94) mit “Wohlfahrtsausschuss" zugrunde. An dieser Stelle liegtein enormes Missverständnis vor. Das betreffende Komitee hieß nämlich keineswegs “Ausschuss für das öffentliche Heil", etwa im Sinne allgemeinerWohlfahrt o.ä. In Wirklichkeit verstand es sich vielmehr als “Ausschuss zurRettung des Staates", da das Öffentliche (die res publica) in dem Falle der Staat war. Das Comité de salut public, der so genannte “Wohlfahrtsausschuss", war während jener Jahre das Kriegsministerium. Zudiese Zeit lag Frankreich mit den meisten europäischen Monarchien im Krieg, und das proklamierte Ziel bestand darin, den jungen bürgerlichen Staat zu retten. Während der Phase der “revolutionären Diktatur" 1793/94 regiertenfaktisch das Kriegsministerium (Comité de salut public) und das Polizei- und Innenministerium (Comité de sûreté générale) gemeinsam.

Editorische Anmerkungen

Bernhard Schmid  war zuletzt im August/ September 2001 und im September 1999 in Algerien tätig. Den 11. September erlebte er in der algerischen Küstenstadt Annaba.

Der Autor stellte uns seinen Artikel in der vorliegenden Fassung am 10.9.2003 zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe zur Verfügung.