Der Nahe Osten und das antisemitische Syndrom

von Robert Kurz

Im Prozess der Barbarisierung und Selbstzerstörung des herrschenden Weltsystems gibt es einen Brennpunkt, in dem sich die destruktive kapitalistische Globalisierung, die Geschichte und die Ideologiebildung der modernen Welt an ihren historischen Systemgrenzen auf besondere Weise bündeln - und das ist der Nahe Osten mit Israel und dem sogenannten Palästinakonflikt im Zentrum. Vordergründig scheint es hier zunächst um das wichtigste Feld des westlichen Öl-Imperialismus zu gehen. Und im Hinblick auf das krude Interesse der kapitalistischen Verbrennungskultur ist das na­türlich auch völlig richtig. Aber darin geht dieser Konflikt bei weitem nicht auf; er enthält noch eine ganz andere, wesentliche Dimension: nämlich die Logik des Antisemitismus als zentraler kapitalistischer Krisenideologie und die damit verbundene Konstitution des Staates Israel, der eben deswegen kein Staat wie andere Staaten ist.

Kapitalistische Verbrennungsreligion und Ölregimes

Dennoch wäre das Bild unvollständig und falsch, würde man im Hinblick auf den Nahost-Konflikt vom Interessen-Hintergrund des westlichen Öl-Imperialismus völ­lig absehen. Da der Nahe Osten aus natürlich-geografischen Gründen der Lagerstät­ten die Hauptquelle des Treibstoffs für die kapitalistische Weltmaschine ist und bleibt, muss sich hier auch der weltpolizeiliche Zugriff des „ideellen Gesamtimperialisten" konzentrieren. Das ist ein nicht unwesentlicher Aspekt der kulturalistischen Feindde­finition gegen den Islam; denn gerade an den geheiligten Quellen der kapitalistischen Verbrennungsreligion, in der sich der irrationale Selbstzweck der „Verwertung des Werts" gewissermaßen energetisch materialisiert, müssen die islamistischen Barbarisierungsprodukte der Globalisierung natürlich als besonders „störend" und gefähr­lich empfunden werden (weitaus mehr als etwa in Pakistan oder Indonesien).

Wie in jeder anderen Hinsicht verwickelt sich der „ideelle Gesamtimperialismus" aber auch und gerade auf diesem spezifischen Terrain von Globalisierung und weltpolizeilichem Zugriff in unauflösliche Widersprüche, die hinter der praktischen Zweck-rationalität den objektivierten Wahn des Systems und seiner Macher aufscheinen las­sen.

Dies betrifft zunächst die Art und Weise der Positionierung gegenüber der ara­bisch-moslemischen Welt selbst. Die offene westliche Militärdiktatur über den ge­samten Raum der zentralen Ölförderung wäre ein kaum dauerhaft durchzuhaltender Notstand mit wahrscheinlich katastrophalen Rückwirkungen auf das fragile Babel-Gebäude des abgehobenen transnationalen Finanzkapitals. Deshalb muss die gesamtimperiale Weltpolizei nach durchaus traditionellem Muster unbedingt darauf setzen, autochthone Regimes der Region an sich zu binden und sie als legitimatorische Subsouveräne, „Flugzeugträger" und militärische Hilfssheriffs zu benutzen.

Im brodelnden Hexenkessel eines Raums, in dem hunderte Millionen von Men­schen leben und Jahr für Jahr mehr von ihnen unter dem Juggernaut-Rad der kapita­listischen Globalisierung sozial zermalmt werden, kann eine derartige weltpolizeili­che Strategie letzten Endes nur schiefgehen. Der Ölreichtum, aufgrund seines beson­deren Status im Gefüge des Weltsystems ein materialisierter spekulativer Gegenstand mit deshalb wild schwankendem Preisniveau, hat extrem ausschließenden Charakter:

Die überwältigende Mehrzahl der Araber wird auf ein Armuts- und Elendsniveau gedrückt, während sich die winzige Oberschicht des energetischen Krisenreichtums mit einer selbst für Dritte-Welt-Verhältnisse außergewöhnlichen Obszönität darstellt. Die binnenökonomischen „Entwicklungsprojekte" der diversen arabischen Öl-Re­gimes, besonders derjenigen in der Golf-Region mit den bei weitem größten Förder­mengen und Reserven, sind trotz der immensen Kapitalkraft großenteils verbal und kosmetisch geblieben; die „Petro-Dollars" wurden und werden in ihrer Masse post­wendend in die transnationalen Finanzmärkte gepumpt statt in Realinvestitionen an­gelegt und bilden ein Segment des globalen „fiktiven Kapitals" im spekulativen Fi­nanzüberbau der dritten industriellen Revolution.

Insgesamt zerfallen die nahöstlichen Öl-Regimes der arabischen Länder und des Iran allerdings in zwei auch heute noch abgeschwächt sichtbare unterschiedliche For­men, die auf ursprünglich ganz entgegengesetzte Ausgangspunkte verweisen. Zum einen handelt es sich um typische ehemalige Regimes nachholender Modernisierung mit inzwischen durch die Bank gescheiterten, aber in der Vergangenheit ernst ge­meinten Industrialisierungsprojekten, mit republikanischer Staatsform und diktatori­schem „Führerkult", wie ihn etwa Saddam Hussein oder Ghaddafi repräsentieren. Zum ändern haben wir es mit der Form nach archaischen Monarchien zu tun, die ein klerikal-feudales Schreckensregiment ausüben und einer Hollywood-Version des „fins­teren Mittelalters" oder der pubertären Phantasie eines Karl May entsprungen sein könnten. Waren die republikanisch-diktatorischen Modernisierungsregimes wie in Ägypten, dem Irak, Algerien usw. in der Regel laizistisch, so stellten die (durchwegs sunnitischen) Monarchien, Sultanate, Emirate etc. und ihre bizarren Prinzengarden von Anfang an synthetische „Gottesherrschaften" mit einer erzreaktionären islamistischen Legitimation dar, deren religiöser Ausdruck in keiner Weise auf den vormoder­nen Islam zurückgeht, sondern ganz im Gegenteil ein Resultat der absurden, in sich widersprüchlichen Einbindung in kapitalistische Moderne und Weltmarkt ist.

Das gilt ganz besonders für das saudische Wüstenregime, das in seiner jetzigen staatlichen Gestalt überhaupt erst im 20. Jahrhundert entstand. Die Dynastie der Saudis gründet sich auf die sunnitische religiöse Bewegung der Wahhabiten, die Ende des 18. Jahrhunderts von dem Sektenführer Abd al-Wahhab gegründet wurde und den Wüstenscheich Ibn Saud für sich gewann. Den Wahhabiten ging es von Anfang an um die reaktionäre Wendung zu einer phantasmatischen „ursprünglichen Form" des Islam, verstanden als rohe Buchstäblichkeit und verbunden mit besonders rigiden rituellen Äußerlichkeiten, drakonischer Henkersherrschaft und extremer Unterdrü­ckung der Frauen. In Gestalt der saudischen Monarchie hat dieses religiöse Wahnge­bilde, eine frühe moslemische Version der heute im postmodernen Zerfallsprozess global und massenhaft sich ausbreitenden quasipolitisch-religiösen Sektenbewegun­gen, die äußere Form eines modernen Staatswesens angenommen und sich mit dem kapitalistisch vermittelten Ölreichtum aufgeblasen.

Eine Zwischenstellung zwischen den gescheiterten laizistischen Modernisierungs­regimes und den monarchisch-reaktionären Gottesherrschaften, die von vornherein nur religionspolitische Nischenformen und gleichzeitig ein unselbständiges Segment des globalen Finanzkapitalismus bildeten, nimmt das Regime des schiitischen Islam­ismus im Iran ein, das aus dem gewaltsamen Sturz der Schah-Monarchie (1979) her­vorgegangen ist: Hier überschneiden sich Modernisierungsversuche im Hinblick auf Industrieprojekte und rückwärtsgewandte Gottesherrschaft, republikanische Form und quasi-religiöse Konstitution, sodass sich (abgesehen von der mehr religiösen als politischen Ikonisierung der Figur Khomeini) kein „Führerprinzip" wie in den laizisti­schen Diktaturen herausbilden konnte.

Im Krisenprozess der Globalisierung sind nun inzwischen die eigenständigen Modernisierungsversuche auch im Nahen Osten derart vollständig ruiniert und auf­gerieben worden, dass ein Verwilderungs- und Konversionsprozess sämtlicher Re­gimes eingesetzt hat. Die letzten Dinosaurier-Diktatoren der gescheiterten Industria­lisierung, die gleichzeitig nicht mehr wie im Kalten Krieg zwischen den Supermäch­ten lavieren können, werden unberechenbar und neigen zu herostratischen Abenteu­ern wie etwa Saddam Hussein; unter den bröckelnden Fassaden der Staatsformen macht sich wie auch sonst in der Welt eine bewaffnete Clan- und Bandenherrschaft breit; und das ideologische Moment der gesellschaftlichen Allgemeinheit verlagert sich mehr und mehr auf die Form des militanten pseudoreligiösen Wahns.

Die Religion kann dabei auf der Basis von kapitalistischer Warenproduktion und Weltmarkt weder zur reproduktiven Konstitution der Gesellschaft wie in den vormo­dernen agrarischen Zivilisationen zurückkehren noch kann sie an die Stelle der modernen Politik treten; sie wird vielmehr im Nahen Osten so extrem wie nirgendwo sonst zur destruktiven und mörderischen Krisenideologie, die das unhaltbare Regime kapitalistischer Konkurrenzverhältnisse nicht überwindet, sondern in einer phantasmatischen Gestalt zuspitzt und dem Todestrieb der modernen Vernunft in ihrem welt­lichen Scheitern Ausdruck verleiht. Weil der Nahe Osten in vieler Hinsicht einen Brennpunkt der aktuellen weltkapitalistischen Widersprüche bildet, nimmt der mani­feste Todestrieb dort auch besonders drastische gesellschaftliche Ausmaße an. In die­sem Sinne gehen sämtliche moslemischen Länder des Nahen Ostens, auch die bislang laizistischen, in einen islamistischen Zersetzungsprozess über und laden sich mit scheinreligiösen Hassideen auf.

Es ist bezeichnend, dass der gesamtwestliche Öl- und Sicherheitsimperialismus unter Ägide der USA seine Herrschaft über diesen zentralen strategischen Raum von Anfang an in erster Linie vermittels der reaktionären monarchischen Gottesherrschaften zu festigen suchte. Nicht die vordergründig der westlichen Lebensweise eigentlich viel näher stehenden laizistischen Modemisierungsregimes wurden als autochthone Sub-Repräsentanten bevorzugt, sondern die im Sinne der Modernisierung bloß dysfunktionalen, klerikal-politischen Alptraumregimes der saudischen Monarchie, der Sultanate, Emirate und Folter-Königreiche; und nicht obwohl, sondern gerade weil sie ihrem Wesen nach sich als besonders finster und gleichzeitig ökonomisch wie militärisch absolut unselbständig darstellen. Keineswegs zufällig waren es andererseits Staaten wie der Irak, Libyen und die schiitisch-islamistische Republik des Iran, die zu „Schurkenstaaten" erklärt wurden, obwohl dort zum Beispiel die Position der Frauen auch heute noch erwiesenermaßen relativ besser ist als in den reaktionären Gottesmonarchien.

Der „ideelle Gesamtimperialismus" hat sich zielsicher die instabilsten, absurdes­ten, wie einem blutigen Märchen entsprungenen Wahn- und Terror-Regimes der zen­tralen Ölregion als „befreundete Mächte" ausgesucht. Indirekt und unfreiwillig ist es ein doppeltes Eingeständnis: nämlich erstens, dass der westliche Herrschaftsanspruch seinem Wesen nach selber bösartig und irrational ist; und zweitens, dass „Entwick­lung" und „Modernisierung" gerade für die wichtigste Region der Ölförderung trotz gegenteiliger offizieller Ideologie in Wirklichkeit niemals vorgesehen waren. Es be­durfte der Teufelspakte mit den schlimmsten, reaktionärsten, von Anfang an durch islamische Bigotterie und Terrorherrschaft der (archaisch interpretierten) „Scharia" gekennzeichneten Feudalmonster, um den schnöden und scheinrationalen Interessen-Materialismus der kapitalistischen Verbrennungskultur in der zentralen Ölregion ab­zusichern. Je mehr „Schurkenstaaten" der Westen definiert, desto mehr sehen seine eigenen Freunde und Helfer in den Krisenregionen wie Hollywood-Schurken oder wie von Hieronymus Bosch erfundene Figuren aus.

Die Nemesis einer derartigen Ausgeburt imperialer Legitimation ließ nicht auf sich warten. In den Brüchen und Erschütterungen der Globalisierung, von denen die sozialökonomische Grundlage sämtlicher Regimes des Nahen Ostens ins Wanken gebracht oder schon hinweggefegt wurde, bilden gerade die mit dem Westen befreun­deten klerikal-feudalen Regimes den Schoß, der die Dämonen des „antiwestlichen" Islamismus ohne jede emanzipatorische Lebensperspektive gebiert. Wie auch sonst in der Welt und wie in seinem eigenen Inneren sind es auch hier und vor allem hier die eigenen Kreaturen des „ideellen Gesamtimperialismus", die in der neuen Qualität gesellschaftlicher Zersetzungsprozesse aus seinen politisch-strategischen Labors ent­fliehen und mit besonderer Intensität als „Störfaktoren" eines blind zuschlagenden Terrors durch das Ölimperium irren.

Keineswegs zufällig ist es gerade die wahhabitische Version einer besonders pri­mitiven und brutalen islamistischen Sektenreligion, wie sie gleichzeitig die saudische Staatsreligion bildet, die zum Quellgrund eines Großteils des islamischen terroristi­schen Untergrunds und seiner Strömungen geworden ist. Die Fürsten des Terrors mit dem zu trauriger Berühmtheit gelangten Osama bin Laden an der Spitze, ihre Ideolo­gen, Organisatoren und Helfershelfer sind zu neunzig Prozent Abkömmlinge der feu­dal-klerikalen Clans, auf die sich der Westen stützt, weil ihre Schreckensgestalt sei­nem eigenen imperialen Herrschaftsanspruch am besten entspricht. In der immer weniger beherrschbaren sozialökonomischen Krise werden jedoch die selbstgezüch­teten Dämonen viel unberechenbarer und gefährlicher als die übrig gebliebenen Di­nosaurier der gescheiterten Modernisierungs-Regimes. Der Westen bekommt mit den wahhabitischen und verwandten geheimen Terrorgesellschaften nicht nur, was er ver­dient, sondern auch, was er selbst gepäppelt und herangezogen hat.

Der Antiimperialismus und die antisemitische Krisenideologie

Weil die völlig anachronistischen klerikal-feudalen und gleichzeitig finanzkapitalisti­schen Ölregimes immer schon eine viel zu unsichere Stütze waren, bedurfte es allerdings einer zweiten, anders gearteten Sicherungsmacht in der zentralen Ölregion; und es ist kein Geheimnis, dass der Staat Israel weitgehend, wenn auch nicht widerspruchsfrei diese Funktion eines Knüppels des westlichen „ideellen Gesamtimperialismus" gegen die von antiwestlichen Ressentiments in ihren Ländern bedrohten, unsicheren Kanto­nisten der arabischen Regimes als bitteren Preis für seine Existenz ausüben muss. Nur deshalb wurde Israel von den USA protegiert, mit modernsten Hightech-Waffensystemen üppig aufgerüstet und von den westlichen Staaten massiv alimentiert. Aus eigener Kraft wäre Israel bis heute ökonomisch nicht lebensfähig, jedenfalls nicht auf dem jet­zigen Lebensniveau, das sich mit seinen westlich-hochentwickelten Standards (allerdings mit demselben internen Gefälle von Reichtum und Armut wie inzwischen auch im Westen) krass von den umliegenden arabischen Ländern abhebt.

Diese ökonomischen und politisch-militärischen Tatsachen wurden und werden immer wieder von traditionell linken „antiimperialistischen" Positionen gegen Israel mit wütender Aggressivität geltend gemacht; eine Feindbestimmung, die dem Kon­text des selber längst gescheiterten Paradigmas „nationaler Befreiung" als einer Form nachholender Modernisierung in der südlichen Peripherie des Weltmarkts entstammt. Bis heute gilt Israel in der gesamten Dritten Welt als imperialistischer Scherge und „Unrechtsstaat", den es eigentlich gar nicht geben dürfte. Die eigenen Interessen, die Israel dabei vertritt, werden allein als subimperialer oder quasi-kolonialer Anspruch wahrgenommen; der israelische Nationalismus und Expansionismus qua Siedlungs­bewegungen und militärischer Eroberung geradezu als Inbegriff des Nationalismus schlechthin und die ethno-religiöse Selbstdefinition des israelischen Staates (die offi­zielle und juristische Diskriminierung nichtjüdischer Staatsbürger eingeschlossen) als Inbegriff des Rassismus schlechthin verstanden.

Die sowjetische Gegenweltmacht der historischen Nachzügler an der Peripherie des Weltmarkts mit „marxistischer" Legitimationsideologie hatte sich stets um ein Bündnis mit den laizistischen arabischen Modernisierungs-Regimes bemüht und un­ter dem Begriff des „Zionismus" ein antiisraelisches Feindbild aufgebaut, in dem sich das Bündnis Israels mit dem westlichen Kapitalismus und Imperialismus reflektierte - „Israel war während des Kalten Krieges ein geschätzter militärischer Verbündeter (der USA), sein Militär testete Waffensysteme, sein Geheimdienst stand für Operati­onen zur Verfügung, die die CIA nicht ausführen konnte" (Birnbaum 2002). In der Epoche des Kalten Krieges übernahm der größere Teil der politischen Linken in der ganzen Welt unter dem Titel des „Antizionismus" dieses Feindbild. Israel wurde gänz­lich unter die damals vorherrschende Konfliktkonstellation der „nationalrevolutionä­ren" antiimperialistischen Bewegungen der Dritten Welt gegen das westliche Imperi­um der Pax Americana subsumiert. Der Preis, den Israel für seine Existenz an den Imperialismus zahlen musste, wurde in ein „antiimperialistisches" Argument gegen diese Existenz umgemünzt.

Damit mussten jedoch ein ganz anderer Aspekt und eine viel wesentlichere Di­mension der weltkapitalistischen Entwicklung ausgeblendet bleiben, die der traditio­nelle Antiimperialismus aus seiner verkürzten Perspektive nicht wahrnehmen konnte und wollte. Dieser Sichtweise entging nämlich die entscheidende Rolle des Antise­mitismus in der bürgerlichen Ideologiebildung und damit eine zentrale Widerspruchsebene des Imperialismus selbst. Zwar hatte die Linke stets Auschwitz und den Holo­caust als großes Verbrechen der Nazis gebrandmarkt, aber dennoch die Rolle des Antisemitismus eher heruntergespielt und jedenfalls nicht als wesentlich oder konstitutiv für den Nationalsozialismus im besonderen und den Kapitalismus im allgemei­nen begreifen wollen.

Diese spezifische Begriffslosigkeit lässt sich letzten Endes wiederum aus dem all­gemeinen Defizit erklären, dass die marxistische, arbeiterbewegte und antiimperialistische Linke im Zentrum wie in der Peripherie auf die gesellschaftlichen Kategori­en des Kapitalverhältnisses (des modernen warenproduzierenden Systems) beschränkt blieb: also eben auf jene Option einer juristisch-politischen staatsbürgerlichen Gleich­stellung, Beteiligung und Mitregierung der „Arbeiterklasse" und ihrer Institutionen einerseits; und auf die Option jener nachholenden Modernisierung und eigenständi­gen Teilnahme am Weltmarkt als nationalökonomisches und nationalstaatliches Sub­jekt andererseits. Aus dieser Perspektive, in der (bei den Sozialdemokraten wie bei den Leninisten) eine objektive Grenze und Krise der kapitalistischen Gesellschafts­kategorien als undenkbar erschien, musste sich die Aufmerksamkeit auf den sozial­ökonomischen und politischen, scheinbar rationalen Interessengehalt und Interessen­horizont der Ideologiebildungen konzentrieren. Mit anderen Worten: Die Ideologie wurde dem Interesseninhalt von Subjekten des warenproduzierenden Systems zugeordnet - „Arbeiterklasse" gegen „Kapitalistenklasse", „nationale Befreiung" gegen „Imperialismus".

Der moderne Antisemitismus konnte so bestenfalls als eine Art sekundäres ideolo­gisches Täuschungsmanöver der „herrschenden Klasse" oder als spezifische konkur­rierende Interessen-Ideologie des „Kleinbürgertums" verstanden werden, womit die „Arbeiterklasse" oder die „unterdrückten Völker" von ihren eigentlichen Interessen abgelenkt werden sollten (Manipulationstheorie). Völlig ausgeblendet blieb dabei wiederum die ideologische Dimension des gemeinsamen, die Klassen und Nationen übergreifenden und historisch objektivierten gesellschaftlichen Formzusammenhangs von abstrakter Arbeit, Wert, Warenform, Geld, betriebswirtschaftlicher Produktion, Markt (Weltmarkt) und Staat. Dieser Formzusammenhang erschien vielmehr prak­tisch wie theoretisch als unüberschreitbare ontologische Grundlage von Gesellschaft­lichkeit überhaupt.

So musste Unbegriffen bleiben, dass das moderne warenproduzierende System nicht nur vordergründig und oberflächlich divergierende „Interessen" innerhalb dieser Form ideologisch ver- und einkleidet, sondern aus den Widersprüchen und Krisen der ge­meinsamen, alle sozialen Kategorien umfassenden modernen Form-Konstitution auch gemeinsame, klassen-übergreifende Ideologiebildungen aufsteigen, die viel wesent­licher und gefährlicher sind als die durchsichtige und oberflächliche Legitimation von kapitalistisch geformten „Interessen" der diversen Klassen, sozialen Schichten und Funktionsträger. Alle Momente von „Weltanschauung", Erklärungsmustern und handlungsleitenden Ideen, die nicht klassen-soziologisch ableitbar schienen, wurden so in ihrer Tragweite missverstanden und eben als bloße Täuschungsmanöver abgetan.

Die arbeiterbewegte und marxistische Linke, auch und gerade die radikale Linke (und die anarchistische Linke nicht weniger) bemerkte so nicht einmal, dass sie sei ber wesentliche Bestandteile der bürgerlichen Ideologie positiv aufgenommen hatte als „Erbe" der protestantischen und aufklärerischen Ideologie- und Geistesgeschichte in der Herausbildung des warenproduzierenden Systems. Dazu gehörte insbesondere die Heiligsprechung des Abstraktums „Arbeit", das in seinem Charakter als repressi­ver Selbstzweck direkt aus den Ideen des Protestantismus und der so genannten Auf­klärung des 18. Jahrhunderts in die Ideologie der Arbeiterbewegung übergegangen war. Indem ausgerechnet die „Arbeit" als zentraler Bezugspunkt vermeintlich dem Kapital gegenüber geltend gemacht wurde, spielte die Linke lediglich einen Aggre­gatzustand des Kapitals gegen den anderen aus. „Arbeit" erschien so nicht als das, was sie ist, nämlich die spezifisch kapitalistische Tätigkeitsform („abstrakte Arbeit" bei Marx), also ein ganz und gar dem Kapital angehöriger Begriff und ein entspre­chendes reales Verhältnis, sondern als ontologische Menschheitskategorie.

Aus dieser zentralen ideologischen Gemeinsamkeit mit dem bloß äußerlich und soziologisch verkürzt als Gegner definierten Kapital mussten zwangsläufig weitere, uneingestandene Gemeinsamkeiten einerseits und jene völlige Unterschätzung der klassen-übergreifenden Krisen- und Vernichtungsideologien von Rassismus und An­tisemitismus andererseits erwachsen. Weil die westliche Arbeiterbewegung, die östli­chen Regimes nachholender Modernisierung und die südlichen „nationalen Befrei­ungsbewegungen" nur innerhalb der gemeinsamen gesellschaftlichen Formen des Kapitals agierten und mit der „Arbeit" die kapitalistische Tätigkeitsform affirmierten, konnten sie auch nur eine verkürzte Kritik des Kapitalverhältnisses formulieren, die weit hinter die Marxsche Begrifflichkeit des Kapitals als eines irrationalen Fe­tisch-Verhältnisses zurückfiel. Teils wurde nur die mangelnde staatliche Regulationsfähigkeit des warenproduzierenden Systems durch dessen bürgerliche Repräsentanz beklagt, teils die Unterordnung der „produktiven Arbeit" unter das „Finanzkapital" kritisiert, ohne den inneren, vermittelten (und auf wachsender Stufenleiter krisenhaften) Zusammenhang von „produktiver Arbeit" und „Finanzkapital" (zinstragendem und spekulativem Geldkapital) zu erkennen.

Diese notorisch verkürzte Kapitalismuskritik wies stets Berührungspunkte mit der antisemitischen Ideologie auf. Denn der Antisemitismus konnte gerade dadurch zur mächtigen Krisenideologie der Moderne aufsteigen, dass er die inneren Widersprü­che der kapitalistisch konstituierten Gesellschaft und aller ihrer Subjekte veräußer­lichte und sozial-biologistisch naturalisierte: „Die Juden" wurden zur negativen Re­präsentanz des „unproduktiven" Finanzkapitalismus und zur Inkarnation aller des­truktiven Erscheinungen der modernen warenproduzierenden Gesellschaft erklärt, anknüpfend an einschlägige Zuschreibungen schon seit dem Mittelalter und der frü­hen Neuzeit (etwa bei den antisemitischen Hetztiraden eines Martin Luther). Demgegenüber sollten die „ehrliche Arbeit" und das „produktive Kapital" als positi­ver Gegenpol gesetzt werden; bei den Nazis bekanntlich als ideologische Gegenüber­stellung von „raffendem" („jüdischen") Kapital und „schaffendem" („deutschen" oder „nationalen") Kapital. An die Stelle einer Kritik der realen, klassen-übergreifenden Formen des warenproduzierenden Systems trat so die bösartige, auf eine besondere, „rassisch" definierte Gruppe von Subjekten bezogene Zuschreibung nach der Devise: Arbeit", Wert, Ware, Geld und Kapitalform wären wunderbar und segensreich, wenn bloß die Juden nicht wären. Diese Zuordnung, die den an sich irrationalen Systemzusammenhang in einer zusätzlichen Dimension sekundärer Irrationalität zu „erklären" vorgab, stieg zur mordideologischen Welterklärung schlechthin auf.

Die Ideologie von Arbeiterbewegung und antikolonialer „nationaler Befreiungsbe­wegung" grenzte sich zwar stets von den offen antisemitischen Strömungen ab, indem sie sich statt auf den phantasmatischen „Rassengegensatz" auf den sozialen Klassenge­gensatz und den nationalen Interessengegensatz von kolonialen bzw. postkolonialen Nationalökonomien/Nationalstaaten und westlichem Imperialismus berief.

Aber erstens blieb auch diese rationaler anmutende soziale „Befreiungsideologie" ähnlich wie der Antisemitismus auf der subjektiven Ebene von schieren Willens- und Machtverhältnissen stehen, ohne die Ebene der Konstitution dieser Subjekte (also deren Geformtheit durch die Kategorien des warenproduzierenden Systems) zu be­rühren. Nicht die Negativität des gemeinsamen Formzusammenhangs, also auch der eigenen Subjektform, rückte ins Visier der Kritik, sondern allein die negative „Macht" der „Gegensubjekte": bei den Antisemiten die zugeschriebene subjektive Macht und Bosheit der „jüdischen Gegenrasse", bei der Arbeiterbewegung die subjektive Macht und vermeintliche „Verfügungsgewalt" der „sozialen Gegenklasse", bei den „natio­nalen Befreiungsbewegungen" die subjektive Macht und globale Eingriffsgewalt der imperialen Zentralmächte.

Weil sie auf derselben logischen Ebene von bloß „gesetzter", nicht aus dem gesell­schaftlichen Formzusammenhang hergeleiteter Willens-Subjektivität stehen blieben wie der Antisemitismus, resultierend aus einer ähnlich (wenngleich nicht identisch) verkürzten Kapitalismuskritik, konnten Arbeiterbewegung, „nationale Befreiungsbe­wegung" und radikale Linke sich ihrer impliziten Berührungspunkte mit dem Antise­mitismus nicht bewusst werden. Dies galt erst recht für die Ontologisierung und An­betung der „produktiven Arbeit", die sie ebenfalls mit den Antisemiten teilten.

Damit musste jedoch zweitens auch die klassen-übergreifende Gefährlichkeit der antisemitischen Ideologie Unbegriffen bleiben. Die Verkürzung auf den klassensoziologischen Horizont der kapitalistisch konstituierten Form des Interesses und die über­historische Ontologie der „Arbeit" ließen die Illusion entstehen, als wären „Arbeiter­klasse" und „unterdrückte Völker" qua ihrer kapitalistisch vorgegebenen Interessen und ihrer existentiellen Ontologie bereits „an sich" (unabhängig von ihrem wirkli­chen Bewusstsein) transzendierende Kräfte, deren angeblich „objektive" system-über-windende Potenz nur abgerufen zu werden brauchte qua sozialer „Kämpfe". Die ihrer konstituierten Subjektform inhärente Form der Konkurrenz schien eine bloß äußer­lich von der subjektiven „Gegenmacht" aufgedrungene, „uneigentliche", im Grunde fremde Verhaltensweise zu sein; somit auch der Antisemitismus eine „klassenfremde", bloß irrtümlich oder manipulativ aufoktroyierte Ideologie.

Diesem Denken musste völlig entgehen, dass die soziale Emanzipation vom Kapi­tal Verhältnis zwar prinzipiell möglich ist, jedoch keineswegs „an sich" durch die „ob­jektive" Stellung bestimmter Klassen oder anderer moderner Subjekte im Gefüge des warenproduzierenden Systems bereits angelegt; eine objektivistische Illusion, wie sie auch noch Marx im Gegensatz zu seiner eigenen kritischen Theorie der Moderne als eines gesellschaftlichen Fetisch-Verhältnisses formuliert hatte. Vielmehr sind alle Subjekte dieses Systems ohne Ausnahme, also auch die „Arbeiterklasse", die „unter­drückten Völker" usw. qua ihrer eigenen, vom System konstituierten Form (Reproduktions- und Subjektform) gleich weit entfernt vom Übergang zur Emanzipation von dieser negativen gesellschaftlichen Form. Die Entstehung von radikal kritischem Bewusstsein gegen diese Form (ein Bewusstsein, an das die radikale Linke bis heute nicht herangekommen ist, geschweige denn die sozialen Bewegungen) ist möglich; aber allein aus der negativen Verarbeitung der Erfahrungen von Leid und Zumutung in dieser Form, nicht aus einem positiven ontologischen Grund. Es gibt keine ontologische Bestimmung, die „außerhalb" oder „unterhalb" des Systems angesiedelt wäre (etwa in der Form der Arbeit) und somit als objektiver Hebel angesetzt werden könn­te, um das repressive und destruktive gesellschaftliche Verhältnis zu kippen.

Deshalb sind soziale und andere „Kämpfe" nicht per se schon emanzipatorisch, auch nicht die „Kämpfe" von Arbeiterklasse, unterdrückten Gruppen, Minderheiten usw. Vielmehr ist der „Kampf in der Form der Konkurrenz die allgemeine Bewe­gungsform des kapitalistischen Systems selbst. Dies gilt auch für die verschiedenen Formen der Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln, besonders der unmit­telbaren Gewalt.

Über die Form der Konkurrenz, also auch über die eigene Subjektform hinauszu­kommen, erfordert ein - wie Marx sich einmal ausgedrückt hat - „enormes Bewusst­sein", das keineswegs von den Verhältnissen selbst nahe gelegt wird. Was sich viel­mehr spontan entwickelt, ist die Konkurrenz bis aufs Messer innerhalb der konstitu­ierten gemeinsamen Subjektform. Dabei bildet die Konkurrenz zwischen Lohnarbei­tern und Repräsentanzen des Kapitals (Management, Unternehmerverbänden etc.) nur eine Ebene in den vielschichtigen Verlaufsformen der Konkurrenz. Dazu gehört selbstverständlich die Konkurrenz zwischen den einzelnen Kapitalien selbst, zwi­schen den verschiedenen Branchen, zwischen den Fraktionen und Gruppierungen der Lohnarbeiter, zwischen den Nationalökonomien/Nationalstaaten usw.; aber auch die „ethnische", rassistische Besetzung der Konkurrenzverhältnisse und schließlich (als äußerste Reaktion) deren antisemitische Schein-Transzendierung.

Genau dieser Zusammenhang eines komplexen Netzes von vielfältigen Linien der Konkurrenz ist keineswegs subjektiv-manipulativ, sondern objektiv begründet durch die allgemeine Subjektform des warenproduzierenden Systems qua Arbeit, Geld und Staat, während der emanzipatorische Ausbruch aus dem „eisernen Gehäuse" dieser Form überhaupt nicht objektiv im Sinne einer Determination des Verhaltens begründet sein kann. Das warenproduzierende System und seine abstrakt-irrationale Tätig­keitsform als unüberwindbare ontologische Bestimmung vorausgesetzt, kann es sehr wohl im „objektiven" Interesse von Lohnarbeitern liegen, die Konkurrenz nationalis­tisch, rassistisch usw. zu besetzen oder sich ihr qua antisemitischer Ideologie phantasmatisch entziehen zu wollen.

Sicherlich gab es in der Geschichte der Arbeiterbewegung auch so etwas wie eine transzendierende Sehnsucht nach Befreiung vom Joch der Konkurrenz, nach einer solidarischen Gesellschaft jenseits des modernen Systems. Diese überschießenden Momente mussten jedoch unabgegolten bleiben, eben weil sich die bisherigen sozia­len Bewegungen der Moderne nicht zu einem Begriff dieser Transzendenz und daher auch nicht zu einem entsprechenden Handeln aufschwingen konnten.

Die verkürzte Kapitalismuskritik innerhalb der Formen des Kapitals selbst blieb notwendigerweise auch in den Verlaufsformen der Konkurrenz stecken. Das gegen­seitige Abschlachten der Lohnarbeiter in den Weltkriegen war daher kein Verrat und kein Verhalten gegen ihre ontologische Natur, sondern die Konsequenz ihrer affirmierten statt kritisierten Subjektform selbst. Weder die politischen Arbeiterparteien noch die Gewerkschaften (allein dieses Auseinanderfallen in eine politische und eine soziale Repräsentanz verweist schon auf die bürgerliche Form-Konstituiertheit der Arbeiterbewegung) konnten jemals eine solidarische Kraft über die Konkurrenzver­hältnisse hinaus entwickeln. Die Aufhebung der Konkurrenz blieb partiell und auf das Motiv der bürgerlichen Gleichstellung beschränkt, die Einbettung in die Konkur­renzverhältnisse als solche dagegen universell.

Wie schon im alltäglichen, institutionell regulierten Interessenkampf die sozialen Bewegungen von der Logik der Konkurrenz durchdrungen wurden, so auch in der Gewaltexplosion der Weltkriege zwischen den nationalimperialen Mächten. Dabei wurde das soziale Risiko der universellen Konkurrenz unmittelbar als Todesrisiko manifest und damit die letzte Konsequenz der modernen allgemeinen Subjektform sichtbar. Dasselbe kann über die Macht des Antisemitismus und die Niederlage der europäischen Arbeiterbewegung gegen Faschismus und Nationalsozialismus gesagt werden. Auch diese Katastrophe war eine Folge der Involvierung in das System der universellen Konkurrenz. Es besteht sogar ein direkter Zusammenhang zwischen der Fortsetzung der Konkurrenz durch die Weltkriege und durch das Aufkommen des Antisemitismus in allen Klassen und Schichten. Gewerkschaften, marxistische Parteien und selbst die radikale Linke waren nur gemacht für die Austragung des vermeintlich „rationalen" Interessengegensatzes in der Formhülle des warenproduzierenden Systems. Selbst die militante Zuspitzung des Kampfes verließ nie diesen Raum bürgerlicher Rationalität. Die Linke verschloss sich dem an sich irrationalen Charakter des Systems, und deshalb wurde sie auch in den Krisen regelmäßig vom machtvollen Ausbruch dieser Irrationalität überrollt. Während die Linke auch noch bei den schwersten Krisenbrüchen das gar nicht mehr realisierbare „rationale Interesse" in der bürgerlichen Form trotz des temporären ob­jektiven Zusammenbruchs dieser Form aufrecht erhalten wollte, machte der Antise­mitismus die Irrationalität des Interesses selbst als Ausgrenzungs- und Vernichtungs­willen geltend und gewann gerade dadurch machtvolle gesellschaftliche Wirkung.

Der Antisemitismus ist (im Unterschied zum gewöhnlichen Rassismus) nicht eine Besetzung der Konkurrenz neben anderen, sondern die ultima ratio der Konkurrenz in einer Situation, in der die immanent-scheinrationale Austragung der Konkurrenz ausweglos wird. In einer solchen Situation droht die allgemeine bürgerliche Subjekt­form selbst zu zerbrechen. Der Antisemitismus verspricht einen Ausweg, ohne diese gemeinsame Subjektform des Systems in Frage zu stellen, indem er das Problem irrational und mörderisch veräußerlicht. So kann er trotz und gerade wegen seiner intellektuellen Primitivität eine klassen-übergreifende Anziehungskraft auf eine gro­ße Masse von kapitalistisch konstituierten Individuen ausüben, vom Arbeitslosen bis zum Manager, vom landlosen Bauern der Dritten Welt bis zum Ölprinzen, vom Ma­schinenschlosser bis zum Investment-Banker, von der alleinerziehenden Mutter bis zum Model, vom Sonderschüler bis zum akademisch gebildeten Intellektuellen.

Mit anderen Worten: Das antisemitische Syndrom bildet die letzte und äußerste krisen-ideologische Reserve des modernen warenproduzierenden Systems. Der Anti­semitismus lauert in der allgemeinen bürgerlichen Subjektform selbst; er wird regel­mäßig in den Einbrüchen der Krise abgerufen, und zwar umso massiver, je heftiger die Krise sich äußert. So war die Epoche der Weltkriege und der großen Weltwirt­schaftskrise mit einer beispiellosen Welle des Antisemitismus verbunden. In Deutsch­land, das in der spezifischen Geschichte seiner kapitalistischen Nationsbildung eine besonders aggressive, eliminatorische Version des antisemitischen Syndroms mit be­sonderer sozialer Tiefenwirkung ausgebrütet hatte, überflutete diese Welle die staatli­chen Institutionen selbst: Der Antisemitismus wurde hier in der Situation der Welt­wirtschaftskrise nicht bloß als Ventil für die angestaute soziale Aggressivität der Kon­kurrenzverhältnisse genutzt, sondern zur Staatsdoktrin erhoben und als Menschheits­verbrechen des Holocaust realisiert.

Keineswegs zufällig bildete der deutsche Nationalsozialismus gleichzeitig eine gesellschaftliche Formierung, in der sich der Todestrieb aus der leeren Form kapita­listischer Subjektivität heraus in einem bis dahin beispiellosen Ausmaß manifestierte. Denn die Logik des Antisemitismus und der inhärente Todes- und Vernichtungstrieb kapitalistischer Subjektivität liegen dicht beieinander; der latente irrationale Drang nach Weltvernichtung im metaphysischen Vakuum des Werts und seiner selbstzweckhaften Verwertungsbewegung drückt sich in der äußersten Zuspitzung als Vernich­tungswunsch gegen die Juden und gleichzeitig als Selbstvernichtungswunsch, als Wunsch nach der Vernichtung von physischer Existenz überhaupt aus.

Rein äußerlich, militärisch und machtpolitisch, haben die Nazis den Zweiten Welt­krieg verloren; aber in der bislang weitestgehenden Realisierung des im Innersten des Kapitals lauernden Weltvernichtungswunsches waren sie enorm erfolgreich in der Identität von fabrikmäßiger Judenvernichtung und organisierter Selbstvernichtung. Die auf oberflächliche bürgerliche Rationalität vergatterte Linke, die nicht an die Kritik der basalen kapitalistischen Formen herankam und daher auch nicht an die Kritik und Abschüttelung ihrer eigenen kapitalistisch konstituierten Subjektform, musste so notwendig auch die Leere dieser Form, die darin liegende dämonische Potenz der schieren Irrationalität und deren Vernichtungskonsequenz verfehlen, also auch das Wesen des modernen Antisemitismus.

Die Kehrseite dieses katastrophalen Defizits war nach dem Zweiten Weltkrieg der ebenso defizitäre frischfröhliche Antizionismus der Linken, der den Judenstaat nicht in seiner welthistorischen, weltkapitalistischen Dimension als Konsequenz des mo­dernen Antisemitismus erkennen wollte, sondern Israel unter das antiimperialistische Paradigma der nationalrevolutionären Bewegungen der Dritten Welt subsumierte, deren Kapitalismuskritik noch weitaus stärker verkürzt war als diejenige der westlichen Arbeiterbewegung.

Der Staat Israel und sein paradoxer weltkapitalistischer Status

Gewiss lassen sich dem Staat Israel, der selbstverständlich Bestandteil der kapitalisti-1 sehen Weltökonomie ist, der Form nach alle negativen Attribute moderner Staatlichkeit und des modernen warenproduzierenden Systems zuweisen. Aber aufgrund sei­nes besonderen Charakters, weil er letzten Endes ein unfreiwilliges Produkt der Nazis und der Vernichtungslogik kapitalistischer Subjektivität in ihrer äußersten Zuspit­zung ist, enthält dieser Staat als erster, letzter und einziger ein entscheidendes Mo­ment der Rechtfertigung, das übrigens sämtlichen nationalrevolutionären Staatsbil­dungen der Dritten Welt (die ja auch samt und sonders sehr bald eine hässliche Fratze anzunehmen begannen) von vornherein abging. Es ist ein kapitalistischer Staat und somit ein Ausdruck kapitalistischer Subjektform, der aber gleichzeitig in paradoxer Verschränkung die äußerste Notdurft und Notwehr gegen die Konsequenz dieser Sub­jektform selbst darstellt.

Und natürlich lässt sich gegen den Zionismus, der ja ideell ein Produkt der europäischen nationalistischen Formierung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war, grund­sätzlich dieselbe Kritik vorbringen wie gegen den modernen Nationalismus überhaupt; allerdings nur, wenn man den spezifischen Kontext seiner Entstehungsgeschichte ig­noriert und ihn ganz abstrakt und isoliert als Nationalismus neben anderen Nationa­lismen betrachtet. Aber der Zionismus lag eben nicht auf derselben Ebene wie die übrigen Nationalismen. Er war vielmehr gerade ein sekundäres Produkt der leidvol­len jüdischen Erfahrung, dass die europäischen Nationen, und mit besonderem Nachdruck der Ausgrenzung Deutschland und Österreich, nicht zur Integration der Juden willens und fähig waren, sondern vielmehr den Antisemitismus als das Konstrukt des „Anderen" (der Alterität) benötigten, um sich selbst als positive nationale Identität setzen zu können.

Diese Setzung der Alterität nahm auch andere Ausdrucksformen an, so den kolo­nialen Rassismus und die kulturalistische Abgrenzung der europäischen Nationen untereinander; aber der Antisemitismus bildete die extremste Ausprägung. Was für den jüdischen Staat als Staat gilt, trifft somit auch für den zionistischen Nationalis­mus als Nationalismus zu: als Notwehr gegen den primordialen europäischen Natio­nalismus selbst und dessen antisemitische Setzung der Alterität kann er das, was er ist, nur in paradoxer Verschränkung mit seiner eigenen Negation sein.

Dasselbe gilt für die unzureichenden, das moderne warenproduzierende System nicht entscheidend transzendierenden sozialistischen Bestandteile des Zionismus. Diese blieben natürlich ebenso verkürzt und in ein nationalstaatliches Bezugssystem einge­bunden wie die Kapitalismuskritik der westlichen Arbeiterbewegung (aus deren Ge­dankenwelt die sozialistischen Elemente des Zionismus ja auch entlehnt waren) und erst recht der nationalen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. In der Verbin­dung mit Staatsapparat und nationalem Pathos musste sich der zionistische Sozialis­mus wie die Arbeiterparteien der übrigen Welt an jene die europäische Nationalisie­rung begleitende sozialregulative Tendenz annähern, wie sie vom späten 19. Jahrhun­dert bis zum Zweiten Weltkrieg die allgemeine Entwicklungsgeschichte der kapita­listischen Zentren bestimmte; etwa in Gestalt des Bismarckschen Sozialstaats und später sozialdemokratischer Regierungsbeteiligungen, allgemein in der Herausbildung von Arbeits- und Sozialbürokratien, des Weifare-Staates usw. - eine Entwicklung, die bekanntlich in Proto-Formen fordistischer Regulation auch Faschismus und Natio­nalsozialismus kennzeichnete. Eine perfide Verdrehung ist es jedoch, dem Zionismus seinen Anteil an einer allgemeinen, übergreifenden Strukturentwicklung spezifisch anzukreiden und das verkürzte sozialistische Moment dabei in Verbindung zu brin­gen mit dem nationalen Sozialismus der Nazi-Mörder.

Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus. Hinsichtlich der sozialistischen Qualität des Zionismus (genauer: des so genannten Arbeiter-Zionismus) lässt sich sogar empi­risch ein besonderer emanzipativer Aspekt feststellen: In Gestalt der Kibbuzim nahm dieses Moment in Israel nämlich gerade nicht wie sonst überall eine repressiv-staats-kapitalistische, sondern eine selbstverwaltet-genossenschaftliche Form an, die nirgendwo auf der Welt eine ähnliche Bedeutung erlangen konnte. Selbstverständlich war auch diese Form noch an das warenproduzierende System gefesselt; sie enthielt jedoch im Anspruch der nicht-warenförmigen Binnenbeziehung, in ihren Aspekten der Reproduktion jenseits von Geld und Staat, ein darüber hinausweisendes Moment; wenn auch mit einer in vieler Hinsicht engstirnigen Gemeinschaftsideologie verbunden.

Alles, was sich gegen den Nationalismus im allgemeinen sagen lässt, trifft somit für den Zionismus nur bedingt und in paradoxaler Verschränkung mit seinem Gegen­teil zu. Israel ist trotz seiner quasi kolonialen Beziehungen und Verhältnisse in der nahöstlichen Weltregion kein wesentlich koloniales Projekt, wie es im selber längst bankrotten nationalrevolutionären Diskurs der Dritte-Welt-Bewegungen immer wieder bezeichnet worden ist, sondern es ist wesentlich ein Not- und Rettungsprojekt ange­sichts des mit der modernen Subjektform verbundenen antisemitischen Syndroms.

Deshalb kann von einem emanzipatorischen Standpunkt aus Israel auch nicht der Prozess gemacht werden, weil es faktisch seine Gründung wie seine Weiterexistenz und militärische Absicherung dem westlichen Ölimperialismus verdankt. Genau umgekehrt muss gesagt werden, wie beschämend und bedrückend es ist, dass das Existenzrecht Israels keine andere Garantie hat als diese niederträchtige; beschämend gerade für die Linke in aller Welt, die nie imstande war, diesem Existenzrecht eine bessere Garantie oder auch nur Hilfestellung zu geben, ja dieses Existenzrecht nicht einmal selber grundsätzlich anerkennen wollte. Die verkürzte, bloß oberflächliche, unreflektiert in der kapitalistischen Subjekt- und Interessenform agierende Kapitalis­muskritik von Arbeiterbewegung, nationaler Befreiungsbewegung und bisherigem Linksradikalismus ist historisch selber eine Bedingung dafür, dass Israel notgedrun­gen sein Existenzrecht nicht anders erlangen konnte als in der Anlehnung an den westlichen Ölimperialismus.

Genau diese Art der Garantie ist jedoch äußerst widersprüchlich und damit unsi­cher. Der „ideelle Gesamtimperialismus" des Westens stützt die Existenz Israels nicht aus einem Bewusstsein über den wirklichen Zusammenhang von Antisemitismus und Zionismus heraus, der ihm vielmehr völlig gleichgültig ist. Mehr noch: Weil gleich­zeitig der Antisemitismus die letzte ideologische Reserve des Systems bildet, fallen das öl-imperialistische Motiv einerseits und das Motiv der ideologischen „Krisenbe­wältigung" qua Duldung oder sogar Entfesselung des antisemitischen Syndroms als nicht zu vermittelnder Widerspruch auseinander.

In einer zugespitzten Weltsituation ist es durchaus nicht undenkbar (wenn auch keineswegs aktuell abzusehen), dass der „ideelle Gesamtimperialismus" Israel fallen lässt und im Hinblick auf seine inneren Widersprüche das antisemitische Ventil öff­net. In demselben Maße übrigens, wie das westliche Augenmerk sich auf die kaspischen Ölreserven richtet, droht auch auf dieser Ebene des vulgären Interesses die prekäre Garantie für das Existenzrecht Israels zu verfallen. Eine weitere Variante der Abkehr von Israel könnte darin bestehen, dass der Westen im Falle einer den Weltka­pitalismus existentiell bedrohenden Ölkrise (etwa durch akute Destabilisierung und drohenden Umsturz in den Ölmonarchien) Israel den arabischen finanzkapitalisti­schen Feudalmonstern zum Fraß vorwirft, um seine Weltwirtschaft zu retten.

Das Ende der „nationalen Befreiungsbewegungen" und der Spuk der palästinensischen Staatsgründung

Die linke, antiimperialistische Kritik des Zionismus (der Begriff der Kritik ist hier eigentlich unpassend; eher handelt es sich um einen schwelenden Hass, der sich vielleicht gerade auch aus einer Ahnung vom zweifelhaften Charakter der eigenen Motive speist) musste so an der wahren Natur des Problems völlig vorbeigehen. Al­les, was die nationalrevolutionären sogenannten Befreiungsbewegungen der Dritten Welt gegen den Zionismus vorbringen konnten, galt erstens in potenzierter Form für sie selbst; und zweitens ermangelten sie gänzlich jener tieferen Dimension der Recht­fertigung, wie sie dem Zionismus aus der weltkapitalistischen antisemitischen Potenz und speziell aus dem deutschen Menschheitsverbrechen zuwachsen musste. Die im übrigen, wie sich längst herausgestellt hat, illusionäre Legitimierung einer eigenstän­digen nationalökonomisch-nationalstaatlichen Teilhabe als Subjekt des Weltmarkts war nicht nur viel schwächer als die zionistische, sondern auch von Anfang an überall in der Dritten Welt (und egal in welcher ideologischen Einfärbung) mit repressiven staatskapitalistischen Zwangsverhältnissen und jenen Ausgeburten eines zutiefst anti-emanzipatorischen „Führer"-Kults verbunden.

Nachdem unter den Bedingungen von dritter industrieller Revolution und Globa­lisierung das Paradigma antiimperialistischer „nationaler Befreiung" gegenstandslos geworden ist und die entsprechenden Regimes oder Bewegungen selber längst in barbarische Zersetzungsprozesse übergegangen sind, hat sich auch der dazugehörige linke und marxistische Diskurs erledigt, oder er nimmt in Bezug auf den Zionismus und auf die Kapitalismuskritik offen antisemitischen Züge an und entfernt sich gänz­lich von den ursprünglichen emanzipatorischen Intentionen: eine Entwicklung, wie sie allerdings schon immer latent im kategorial verkürzten und schlecht immanenten Verständnis des antiimperialistischen und sozialistischen Denkens angelegt war und jetzt in seinem Scheitern manifest wird.

Das jämmerliche Ende des antiimperialistisch-nationalrevolutionären Paradigmas in der Globalisierung zeigt sich an vielfältigen Erscheinungsformen der moralischen Verwahrlosung und Barbarisierung der am Weltmarkt gescheiterten Entwicklungsre­gimes, an der Verwandlung von übrig gebliebenen Führern der ehemals linken Gue­rilla in gewöhnliche Warlords der Plünderungsökonomie, in Drogenbarone, Löse­geld-Erpresser usw. Dort, wo der Anspruch einer nationalrevolutionären Staatsbil­dung uneingelöst geblieben ist, aber dennoch aufrecht erhalten wird, obwohl die welt­kapitalistische Entwicklung längst darüber hinausgegangen ist, nimmt die Verwilde­rung und Verwahrlosung des absurd gewordenen Anspruchs besonders drastische und hässliche Formen an.

Das gilt wiederum ganz unabhängig von den jeweiligen staatlichen Besonderhei­ten oder kulturellen Differenzen, zum Beispiel für die Bewegung der Kurden ebenso wie für die tschetschenischen Aufständischen oder die tamilischen Separatisten, um nur einige zu nennen. Die barbarische Repression durch selber völlig instabile, vom Weltmarkt überrollte ex-imperiale Großstaaten wie die Türkei und Russland oder durch ein Ethno-Regime wie das singhalesische in Sri Lanka lässt sich dadurch ebenso wenig rechtfertigen wie die nicht minder barbarischen Zugriffe der neuen gesamtimperialen Weltpolizei. Aber die „nationalen Befreiungsbewegungen" bilden unter den veränderten Weltverhältnissen keine Alternative mehr, nicht einmal eine illusorische; was eben nur heißt, dass keine „Modernisierung" mehr mit emanzipatorischem An­spruch besetzt werden kann, weil es auf dem Boden des modernen warenproduzie­renden Systems und seiner Ausgeburt der Nationalstaatlichkeit keine Entwicklung mehr gibt, sondern nur noch gesellschaftliche Desintegration und Barbarei.

Diese veränderte historische Situation wird an keinem der unverwirklicht geblic­henen, dem Überhang der alten Epoche zugehörigen nationalrevolutionären Projekte so deutlich wie gerade dem palästinensischen, das mit Israel in feindlicher Intimität auf paradoxe Art verbunden ist. Sind schon die realisierten Staatsgründungen der einstmals mit mehr bürgerlich-aufklärerischen als kommunistischen Idealen aufgela­denen Trikont-Bewegungen inzwischen am Weltmarkt und damit an ihrer eigenen bürgerlichen Verfasstheit und Subjektform gescheitert, so nimmt das irreal geworde­ne palästinensische Projekt jenseits dieses Realisierungs-Horizonts geradezu schau­erliche Züge an. Es ist das Zombie-Projekt einer toten Epoche, das kein überschie­ßendes emanzipatorisches Moment mehr besitzt, sondern nur noch als bösartiger Wiedergänger spukt.

Der Spuk der PLO, verkörpert in Jassir Arafat als der tragischen Figur eines histo­rischen Untoten, verweist allerdings auf den an sich immer schon negativen Charak­ter vermeintlich emanzipatorischer nachholender moderner Staatsbildungen. Nach­dem im Zuge der kapitalistischen Globalisierung diese Illusion endgültig verflogen ist, wird auch empirisch deutlich, dass das „Recht auf einen eigenen Staat" oder das „Recht auf Staatsgründung" das genaue Gegenteil von sozialer Befreiung darstellt. Unter den Bedingungen des beginnenden 21. Jahrhunderts könnte sich diese Parole nur als das „Recht" entpuppen, „autonom" vor den Gesetzen der globalen kapitalisti­schen Verwertungslogik kapitulieren und den Prozess der sozialen Degradation ei­genständig vollstrecken zu „dürfen". Genauso gut könnte man das „Recht auf einen eigenen Konkursverwalter" oder das „Recht auf einen eigenen Folterknecht" von eigenem Ethno-Fleisch und Blut fordern.

Insofern bildet die Staatsvision der PLO tatsächlich einen der letzten Ausläufer der bürgerlichen Aufklärungsideologie, die sich zur Kenntlichkeit ihres zutiefst repressi­ven und destruktiven Gehalts entpuppt hat. Was die Palästinenser brauchen, ist kein „eigener Staat", sondern der autonome Zugang zu materiellen, sozialen und kulturel­len Ressourcen, die heute durch die Form „Staat" gerade im Namen des globalisier­ten ökonomischen Terrors mit ebenso harten wie sinnlosen Restriktionen belegt werden. Das Beharren auf der längst obsoleten nationalstaatlichen Option, bei den Be­wohnern Palästinas das späteste und daher in seiner Irrationalität am leichtesten historisch durchschaubare ideologische Konstrukt einer institutionellen und kultu­rellen Einkleidung des warenproduzierenden Systems, nimmt zutiefst pathologi­sche Züge an.

Der palästinensische Phantom-Staat ist folgerichtig der erste, der schon vor seiner offiziellen Gründung in den Prozess der Zersetzung und Verwesung übergegangen ist. Staatsbildung und Entstaatlichung fallen hier unmittelbar zusammen, ein histori­sches Paradoxon. Noch bevor sich ein übergreifender Staatsapparat mit eigener Legi­timation und Geschichte herausbilden konnte, treten Clan-Strukturen, Warlords und Mafia-Strukturen an dessen Stelle.

Gleichzeitig wird der palästinensische säkulare Staat schon vor seiner Gründung von der pseudo-religiösen Islamisierung überrollt. Als Überrest der laizistischen Modernisierungsimpulse steht die PLO auf verlorenem Posten. Die islamistischen Bewegungen von Hamas und Dschihad beginnen, ihr den Rang abzulaufen, und in­dem sie in diese Richtung zu Zugeständnissen gezwungen ist, verliert das Staatsgrün­dungsprojekt der PLO zusehends seine modernisierungs-politische Legitimation.

Was übrig bleibt, ist die blanke Irrationalität des blinden Hasses ohne jede gesell­schaftspolitische Perspektive. Das ideologische moderne Konstrukt des ethnopolitisch formierten „Volkes" erlebt in der palästinensischen Version seine grauenhafte Realdekonstruktion: Indem dieses konstruierte „Volk" sich in den abstrakten Univer­salismus des Religionskrieges flüchtet und indem es seine eigenen Kinder auf „Selbst­mordakademien" schickt, gibt es faktisch zu, dass es keine Hoffnung auf Zukunft mehr hat; dass es schon kein potentielles „Staatsvolk" mehr ist, sondern nur noch eine dumpfe Masse von ziellos Verzweifelten.

Auch diese palästinensische Version einer postmodernen Zerfallsgesellschaft, die schon keine Gesellschaft mehr ist, wird durchzogen von den Strukturen entgrenzter männlicher Gewalttätigkeit und der ,,Verwilderung des Patriarchats". Zwar stellt es einen Gipfel postmoderner „Chancen"-Individualisierung dar, dass inzwischen ver­einzelt auch halbwüchsige Palästinenserinnen ihr ungelebtes Leben als Selbstmordattentäterinnen wegwerfen (und es ist ein Gipfel in der Verwilderung des Patriarchats, dass sie von bärtigen Männern dazu ausgebildet werden). Aber dennoch bleibt auch die palästinensische Identität von Vernichtung und Selbstvernichtung im wesentli­chen diejenige männlicher Konkurrenz-Subjektivität.

In diesem Klima der absoluten Ziel- und Zukunftslosigkeit jenseits einer denkba­ren Nationsbildung ist auch der Antisemitismus, mit dem sich der palästinensische Hass längst aufgeladen hat (Nazi-Traktate aller Art zirkulieren im palästinensischen „Bildungswesen" ebenso wie die unsägliche Hetzschrift und primitive Fälschung der sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion" usw.), von anderer Natur als der euro­päisch-deutsche. Im Prozess der nationalen Konstitution, der besonders beim historischen Nachzügler Deutschland seit dem frühen 19. Jahrhundert mit einer ethno-kul-turalistischen und biologistischen, auf Herder und Fichte zurückgehenden Ideologie des „Völkischen" einherging, bildete der (in Deutschland und Österreich eliminatorische) Antisemitismus das Ferment dieser „völkischen" Formierung des Nationalstaats indem er die Juden als negative Alterität konstruierte.

Aber in der palästinensischen Version kann dieses Ferment gar nicht mehr wirken auch nicht mit einer anderen kulturellen Konnotation, weil die staatliche Entbindung des palästinensischen Nationalkonstrukts im Zeitalter von Globalisierung und Kri­senkapitalismus nur eine Totgeburt sein kann. Die „völkische" Formierung zerfällt schon in ihre postnationalen (in diesem Fall islamistischen) Zersetzungsprodukte, bevor sie überhaupt institutionell greifen konnte. Der Antisemitismus in der aktuellen palästinensisch-arabischen Version, der keine gesellschaftlich formierende Kraft mehr besitzt, wird direkt und damit weitaus offener als bei den Nazis zum Moment des Todestriebs völlig desorientierter kapitalistischer Subjektivität; er erscheint deshalb auch unmittelbar als die Wahnidee von Selbstmordattentätern.

Die physische Zerstörung der ohnehin dürftigen palästinensischen Infrastruktur durch die Kriegführung Scharons mag zur Legendenbildung eines „heroischen Kamp­fes" beitragen; allerdings bedurfte es nicht erst der Kriegsverbrechen der israelischen Armee und der gehässigen israelischen Zerstückelungspolitik in Bezug auf das po­tentielle palästinensische Territorium, um den Palästina-Staat bereits vor seiner Grün­dung vollständig zu ruinieren. An sich schon ist ein palästinensischer Staat aus eige­ner Kraft (sprich: Fähigkeit zur Teilnahme am Weltmarkt, nichts anderes zählt mehr) noch viel weniger lebensfähig als der israelische; noch nicht einmal auf gemeinarabi­schem Armutsniveau. Mangels realer Entwicklungsmöglichkeiten war der PLO-Ap-parat von Anfang an auf den Status eines Almosen-Empfängers der arabischen Liga (vor allem natürlich der Ölprinzen), der EU, der USA usw. (ungefähr in dieser Rei­henfolge) reduziert und ist als solcher nach zahllosen Zeugnissen von Korruption völlig ausgehöhlt. Vor der jüngsten Intifada waren bereits Schießereien und Auftrags­morde zwischen rivalisierenden Gruppen so alltäglich wie in anderen Zusammenbruchsregionen auch. Die innerpalästinensischen „Abrechnungen" der eigenen Barbarisierungsprodukte stehen der israelischen Repression kaum nach und sind erst durch die Kriegspolitik Scharons vorübergehend in den Hintergrund gerückt.

Dass nicht nur die Palästinenser selbst, sondern auch die EU, die USA und der westliche „ideelle Gesamtimperialismus", ja sogar teilweise die israelische Politik an der völlig obsoleten Staatsgründungs-Option für die Palästinenser festhalten, zeigt den Grad an Desorientierung und Wirklichkeitsfremdheit des gesamten offiziellen „Realismus" an. Niemand will wahrhaben, dass die alten, bürgerlich-aufklärerischen Formeln von Emanzipation, „Entwicklung", Demokratie usw. vollständig entwertet und ungültig geworden sind. Solange sich nicht eine qualitativ neue, radikal antikapi­talistische und ihrem Selbstverständnis nach von vornherein transnationale, poststaatliche soziale Oppositionsbewegung herausbildet, kann das Verhängnis der gesellschaft­lichen Auflösungs- und Selbstzerstörungsprozesse nur weiter seinen Lauf nehmen; in Palästina so buchstäblich selbstmörderisch und perspektivlos wie nirgendwo sonst. Die erschreckend hilflosen und begriffslosen Äußerungen der wenigen verbliebenen Vertreter kritischer Intelligenz im palästinensischen und gesamtarabischen Raum kön­nen daran nichts ändern, weil sie nur Ausdruck der Tatsache sind, dass bis jetzt nicht einmal die äußerste Not das Denken dazu bewegen kann, sich von den obsoleten Paradigmen des vergangenen Zeitalters zu lösen.

Israel als „Alien" der kapitalistischen Welt und der arabische Neo-Antisemitismus

Von dieser bitteren Diagnose ist allerdings Israel keineswegs auszunehmen. Das ist gerade deshalb umso tragischer, weil Israel eben nicht bloß ein Staat unter Staaten und ein Konkurrent des virtuellen palästinensischen Staates ist, sondern gleichzeitig ein auf die ganze Welt bezogenes Paradigma gegen den mit kapitalistischen Repro­duktionsformen untrennbar verbundenen Antisemitismus - und damit trotz seiner Involviertheit in das westlich-imperiale Gefüge gleichzeitig ein Widerstandspotential gegen die letzte krisenideologische Reserve des Weltkapitals. Die schiere Existenz Israels bildet eine Art Garantie dafür, dass sich der Marsch des warenproduzierenden Weltsystems in die Barbarei noch nicht vollenden kann; nicht weil dem Staat Israel an sich eine besondere metaphysische Qualität innewohnt, sondern genau umgekehrt deswegen, weil die israelische Realexistenz mit den letzten Konsequenzen der kapi­talistischen Realmetaphysik unvereinbar ist.

Insofern verlangt die (unfreiwillige) Bedeutung Israels im Hinblick auf die kapita­listische Weltkrise auch eine viel genauere Analyse, als sie etwa der palästinensischen oder jeder anderen Krisengesellschaft der Peripherie zukommt; denn es handelt sich bei der israelischen Entwicklung zwar um einen analogen Krisenprozess, der jedoch mit einer zusätzlichen, direkt das Schicksal der ganzen Welt mitentscheidenden Be­deutung aufgeladen ist.

Israel kann freilich als das, was es in seiner modernen staatlichen Existenz ist, überhaupt nur existieren, solange es selbst kein Bewusstsein über das weltgeschicht­liche Wesen dieser Existenz hat. Die Paradoxie dieser Existenz ist im kapitalistischen Dasein der jüdischen Menschen überhaupt angelegt: So unreflektiert wie alle anderen Alltagsmenschen (oder auf dem Gebiet des begrifflichen Denkens: so verkürzt wie alle anderen modernen Theoretiker) auch wollen sie in ihrer falschen Unmittelbarkeit zunächst nichts anderes als „arbeiten", ihr „Geld verdienen", „Wissenschaftler sein" usw. und sich irgendwie eine stinknormale kapitalistische Identität bilden. Der tief in der Moderne wurzelnde, mit der kapitalistischen Subjektform als solcher verwachsene Antisemitismus jedoch lässt dies nicht zu. Je normaler die jüdischen Individuen sein wollen, desto grausamer tritt ihnen die Fremddefinition entgegen, die sie als schlechthinnige Alterität bestimmt. Ihr schierer Wille zur Normalität fällt in eins mit der schieren Abnormität oder Monstrosität des Kapitalverhältnisses.

Der jüdische Konformismus, auch in seiner Staat gewordenen Form als Mitglied der scheinheiligen „Völkergemeinschaft" (sprich: der Konkurrenz- und Mordgemein­schaft von National- und Staatsungeheuern), ist immer schon damit konfrontiert, in all seiner sogar überdeterminierten Anpassungsleistung gleichzeitig apriori als „Alien" gesetzt zu sein. Diese Verungeheuerlichung des Jüdischen, wie sie dämonisch 'den zerreißenden Selbstwiderspruch kapitalistischer Subjektivität darstellt, geht weit über alle „normalen" Konkurrenzverhältnisse, Rivalitäten, Rassismen und auch die kolonialistische kulturelle „Exotisierung" hinaus.

In allen diesen Negativbeziehungen und Setzungen von Alterität erkennt sich doch die kapitalistisch formierte Menschheit in ihrem bürgerlichen, negativen Menschsein durch alle Auseinandersetzungen hindurch wieder. Der Antisemitismus jedoch ist das Andere der Konkurrenz selbst: Er setzt eine absolute Fremdheit, die nichts anderes ist als die gesellschaftliche Selbstentfremdung des warenproduzierenden Wesens, das als metaphysisches Subjekt der leeren Wertform nicht von dieser Welt und doch in dieser Welt ist; und er veräußerlicht diese absolute Selbstentfremdung in Gestalt des Juden als des schlechthin Anderen und unversöhnbar Fremden, also auch des nicht mehr politisch Vermittelbaren und Befriedbaren.

Das gilt auch für den Staat Israel als Staat. So können die Israelis nur Staatsvolk und Staat unter Staaten sein, indem sie gleichzeitig für alle anderen das absolut Ande­re als abstrakte Negativität darstellen, ob sie wollen oder nicht. Dieser Zusammen­hang ist von jüdischen Autoren innerhalb wie außerhalb Israels immer wieder in aller Schärfe benannt worden, so von Nathan Glazer 1975: „Juden haben meistens so sein wollen wie alle anderen. Sogar die Gründung des Staates Israel erfolgte ironischer­weise in dem Bestreben, Juden so sein zu lassen wie alle anderen auch: Sie würden nun einen Staat haben, wären nicht mehr länger ein sonderbares, heimatloses Volk, sondern ein Volk wie alle anderen. Aber es ist anders gekommen. Israel hat den be­sonderen Status der Juden verstärkt, nicht vermindert. Kein anderer Staat weiß so sehr, dass ein verlorener Krieg seine Zerstörung und sein Verschwinden bedeuten würde" (zit. nach: Eisenstadt 1987/1985, 576).

Dabei muss allerdings unterschieden werden zwischen dem „besonderen Status" der Juden im Sinne der welthistorischen und weltpolitischen Stellung des Staates Israel im Kontext des modernen Antisemitismus und seiner gesellschaftlichen Funk­tion einerseits, und dem spezifischen, unmittelbar feindlichen Konkurrenz-Verhältnis zu sämtlichen arabischen Nachbarn andererseits, das keineswegs von vornherein mit dem modernen (primär westlichen) Antisemitismus verbunden war. Deshalb ist die arabische Feindschaft gegen Israel zumindest in ihren Anfängen nicht unmittelbar gleichzusetzen mit dem weltgesellschaftlichen „besonderen Status" der Juden oder gar dem eliminatorischen Antisemitismus der Nazis.

Ursprünglich bezieht sich die Nichtanerkennung Israels bei den Arabern (gerade dort, wo sie offiziell ist) nur auf die staatliche Existenz, nicht auf die physische oder soziale Existenz der Menschen. Mit anderen Worten: Den Juden in Palästina wird (in LJmkehrung des palästinensischen Problems) das „Recht auf einen eigenen Staat" aberkannt, nicht das Lebensrecht. Sie sollen als Bürger eines phantasierten palästi­nensisch-arabischen Staates leben, der Intention nach ebenso subaltern und in „Home-lands" eingepfercht wie jetzt umgekehrt die Palästinenser unter israelischer Staats­herrschaft. Was natürlich bedeuten würde, dass es kein Israel als Zufluchtsort für die Verfolgten des globalen Antisemitismus mehr gäbe. Aber diese Seite des Problems hat die palästinensisch-arabische Seite sowieso nie interessiert. Die palästinensischen Vertreter sprechen bestenfalls von sich als den „Opfern der Opfer", ohne den Kontext der kapitalistischen Weltgesellschaft und ihrer destruktiven Widersprüche reflektie­ren zu wollen.

Aber diese Haltung ist eben zunächst noch nicht dasselbe wie der eliminatorische Antisemitismus der Nazis oder überhaupt der westliche Antisemitismus. Die Juden sind im arabisch-islamischen Raum ursprünglich nicht als die absolute Alterität im Nations-, Staatsbildungs- und Modernisierungsprozess gesetzt. Bis heute gibt es in den meisten nahöstlichen Ländern jüdische Gemeinden mit Synagogen und relativ unbehelligten Existenzmöglichkeiten, auch in der islamistischen Republik des Iran. Der natürlich vorhandene Migrationsdruck in Richtung Israel ist nicht großen Verfol­gungswellen geschuldet, sondern entstammt anderen (kulturellen und vor allem sozi­alen) Motiven. Selbst beim gegenwärtigen Stand der Hass-Eskalation würde eine militärische Niederlage Israels wahrscheinlich außer zum Verlust seiner staatlichen Existenz zwar auch zu traditionellen Rache-Gemetzeln, Plünderungen und Vertrei­bungen führen, was grauenhaft genug wäre, nicht aber zum fabrikmäßigen Juden­mord nach dem Muster der Nazis, der eben nicht das Resultat eines typischen moder­nen Interessenkonflikts an der Reibungsfläche realer Gegensätze war, sondern direkt aus dem Inneren der allgemeinen kapitalistischen Subjekt-Metaphysik kam - also auf einer ganz anderen Abstraktionsebene sich vollzog, und der gerade deswegen so ex­trem und leidenschaftslos durchgeführt wurde. Die Singularität von Auschwitz wird durch die arabische Judenfeindschaft nicht aufgehoben.

Wenn sich das palästinensisch-arabische Hasspotential gegen Israel inzwischen tatsächlich mit Momenten des importierten europäisch-westlichen Antisemitismus und dessen gesellschaftlicher Funktion als Krisenideologie auflädt, etwa in der Hetze palästinensischer Medien und im „Bildungswesen" der Autonomiebehörde, so ist dies weniger dem realen Gegensatz der hautnahen Interessen-Auseinandersetzung um Land. Wasser usw. geschuldet, sondern vielmehr dem negativen Aufgehen beider Konflikt­parteien im destruktiven Prozess der kapitalistischen Globalisierung, der die interessenmäßige Realität des Konflikts irreal oder surreal und die Subjektform sämtlicher Interessen obsolet macht.

Aber sogar beim modernen Antisemitismus kommen die Araber als Bestandteil der kapitalistischen Welt gewissermaßen zu spät. Sie können diese krisenideologi­sche Reserve nicht mehr wie die Nazis als gesellschaftlichen Formierungsprozess mobilisieren. Die antisemitische irrationale Welt- und Krisenerklärung kann unter den Bedingungen der Globalisierung nirgendwo mehr eine staatliche Form als orga­nisiertes Vernichtungsprogramm im gesellschaftlichen Maßstab annehmen, schon gar nicht in Palästina. Eben deswegen ist der eliminatorische Impuls dabei gleichzeitig unmittelbar auto-aggressiv (Selbstmordattentäter); er vermischt sich praktisch mit den elementaren kapitalistischen Konkurrenzverhältnissen der materiellen Reproduktion vor Ort und ideologisch mit den religionspolitischen Zerfallsprodukten von Staatlich­keit: auch dies ein Unterschied zu den Nazis; ganz abgesehen von der Differenz zwi­schen Erster und Dritter Welt, die auch im formell homogenen Raum der Globalisie­rung erscheint und die ideologischen Muster färbt.

Vom Zionismus zur Herrschaft der Ultras: Die innere Krise der israelischen Gesellschaft

Israel seinerseits wird als kapitalistischer Staat unter kapitalistischen Staaten nicht nur die absolute Alterität nicht los, sondern durchläuft gleichzeitig im planetarischen kapitalistischen Raum dieselben Krisenprozesse wie alle anderen Staaten auch; und aufgrund seiner prekären, alimentierten ökonomischen Existenz mit im Vergleich zum Westen besonderen Gefährdungspotentialen. Da Israel jedoch, um kapitalistischer Staat sein zu können, seine wahre Legitimation selber nicht wissen darf oder nur in einer ganz äußerlichen Weise (zwar positiv als Zufluchtsort für die vom Antisemitismus verfolgten Juden, aber nur mit einem selber äußerlichen, verkürzten Verständnis von der Natur dieses Antisemitismus), muss es ebenso regressiv und bösartig auf die Kri­se reagieren wie alle anderen, von denen es als die absolute Andersheit definiert wird: Der jüdische Drang nach bürgerlicher Normalität reproduziert sich auch in der nega­tiven Form. Das als Alterität gesetzte Israel kann zwar natürlich nicht den Antisemi­tismus als letzte innere Reserve bürgerlicher Subjektivität mobilisieren, aber es ist in Wahrheit dennoch in dieser Welt und von dieser Welt, integraler Bestandteil ihrer Entwicklung und damit auch ihrer Entwicklung zur Barbarei.

Die aufgezwungene Alterität macht Israel nicht zur positiven historisch-gesell­schaftlichen Alternative und seine Menschen nicht zu anderen Menschen. Bleibt der antiarabische Rassismus im Westen eine rassistische Äußerung neben anderen und ist nicht dafür geeignet, in der drohenden Selbstzerstörung des bürgerlichen Subjekts als Projektion der Selbstentfremdung auf ein äußeres Objekt zu dienen, so muss er in Israel als Notbehelf und Ersatz für die dort nicht mögliche antisemitische Krisenform kapitalistischer Subjektivität dienen. Insofern geht Israel seinen eigenen Weg in die Barbarei, der sich allerdings in seinen Erscheinungsformen von dem der arabischen feindlichen Nachbarn kaum unterscheidet.

Wie überall in der Welt erweist sich auch in Israel die reaktionäre religionspoliti­sche Mobilisierung als genuines Zersetzungsprodukt kapitalistischer Subjektivität und Staatlichkeit; hier eben mit antiarabischen Projektionen aufgeladen. Und auch in Is­rael hat der dem Globalisierungsprozess folgende Barbarisierungsprozess eine Vor­geschichte; genauer gesagt: Es werden alte und in der Vergangenheit scheinbar ver-blasste innere Gegensätze neu besetzt und gerade in diesem speziellen Fall aggressiv mit den äußeren amalgamiert. Der führende israelische Soziologe und Historiker Shmuel N. Eisenstadt (Hebräische Universität Jerusalem) hat Mitte der 80er Jahre eine umfassende Untersuchung über „Die Transformation der israelischen Gesellschaft" (Eisenstadt 1987/1985) vorgelegt, die in dieser Hinsicht als äußerst aufschlussreich gelten kann.

Entscheidend ist dabei der Umstand, dass der säkulare Arbeiter-Zionismus von Anfang an in den jüdischen Gemeinden sowohl der verschiedenen Weltregionen als auch innerhalb des Staates Israel auf den erbitterten Widerstand der orthodoxen und ultra-orthodoxen Religiösen stieß. Tatsächlich haben die Ultra-Orthodoxen (die sogenannten Haredim), in Israel keineswegs eine kleine Minderheit, den jüdischen Staat bis heute so wenig anerkannt wie die militantesten Palästinensergruppen und islami­schen Staaten. Dieser innerjüdische Konflikt geht weit zurück; er speiste sich stets aus dem Affekt der klerikalen Reaktionäre gegen die moderne Verweltlichung und innerkapitalistische Interessenpolitik - gewissermaßen die jüdische Version der „mo­dernen Antimoderne", also der bloß regressiven und autoritären bürgerlichen Gegen­aufklärung ohne jedes Moment emanzipatorischer Kritik.

Im Unterschied zur westlichen Welt gingen diese reaktionär-autoritären Kräfte je­doch in Israel nicht einfach als rechtsradikale Strömung in der bürgerlichen Politik auf. Sie bildeten zwar Parteien und nahmen an der Politik teil, jedoch auf eine ganz äußerliche und rein taktische Weise, während sie im Prinzip antistaatlich blieben. Antistaatlich jedoch natürlich nicht in irgendeinem Sinne anarchischer Emanzipati­on, sondern einzig und allein als Programm einer direkten Unterordnung des Lebens unter den spezifisch religiösen Fetischismus mit einer quasi-religionspolitischen Mobilisierung.

Wie aus der Untersuchung Eisenstadts hervorgeht, wurden die Ultra-Orthodoxen im Laufe der israelischen Entwicklung zunächst als eine Art Dinosaurier des Juden­tums betrachtet, die irgendwann aussterben würden. Unter dem Eindruck des Holo­caust erhielten sie als Einwanderer weitreichende institutionelle Zugeständnisse, da­mit sie trotz ihrer Ablehnung des Staates Israel in diesem Staat leben konnten. Das alles musste nicht als schwerwiegend und verhängnisvoll erscheinen, solange sich listen sich auch mit der ethnopolitischen „Orientalisierung" zu verbinden begann: ein Gebräu von religiösem Fundamentalismus, extremistischem Nationalismus und Ethnopolitik in einer einzigen Mixtur; geradezu ein Musterbeispiel von zerstörerischer Barbarisierungspolitik in Krisenzeiten.

Mindestens ebenso problematisch ist die Anreicherung der israelischen Gesell­schaft mit einem zweiten, anders motivierten rassistischen Potential; nämlich durch die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geradezu lawinenartige Immigration aus Russland und den GUS-Staaten: „Tagtäglich kann man auf dem Ben-Gurion-Flughafen eine Aeroflot- oder eine Transaero-Maschine sehen, die eine Ladung Im­migranten aus den untersten Schichten der ehemaligen Sowjetunion abliefern" (Kampf­ner 2002). Der „jüdische" Charakter, ohnehin wie alle anderen Ethno-Definitionen ein historisches Konstrukt und wie der Staat Israel selbst nur durch den weltweiten Antisemitismus legitimiert, ist bei vielen dieser Immigranten eher zweifelhaft; sind doch die Zustände in der ex-sowjetischen Zusammenbruchsgesellschaft vielerorts derart grauenhaft, dass selbst die Migration in das bedrohte Israel als sozialer Ausweg erscheint. Gemäß dem israelischen Rückkehrgesetz müssen die Immigranten „bele­gen, dass sie einen jüdischen Großelternteil haben. Entsprechende Papiere kann man sich in den meisten exsowjetischen Städten jederzeit gegen Geld beschaffen" (Kampfner 2002). Ähnlich wie bei der Migration der sogenannten deutschstämmigen Russen in die BRD zeigt sich hier die Zweifelhaftigkeit und Doppelbödigkeit „ethnischer" Kriterien überhaupt; diese sind stets nach zwei Seiten hin rassistisch besetzbar, so­wohl im einschließenden als auch im ausschließenden Sinne.

Die immigrierten Russen wirklicher oder gefälschter jüdischer Herkunft, meistens aus der russischen Unterschicht der sogenannten „Sows" stammend, haben das Profil der israelischen Gesellschaft weiter verändert: „Heute stellen sie ein Sechstel der Gesamtbevölkerung. Über Generationen geprägt durch die sowjetische Diktatur und entsprechend mental konditioniert, wissen diese Sows über Israel nur wenig und über die Araber überhaupt nichts. Während sie früher die .Schwarzen' aus den mittelasia­tischen oder transkaukasischen südlichen Sowjetrepubliken hassten, richten sie ihren Hass nunmehr auf die Palästinenser und auf die muslimischen Länder, die Israel um­geben.. . Die einzigen Sows, die regelmäßig Kontakt mit den Palästinensern pflegen, sind die organisierten Kriminellen, die so lukrativen Tätigkeiten nachgehen wie der Hehlerei mit gestohlenen Autos oder Waffenschmuggel ins Westjordanland und in den Gaza-Streifen. Die Waffen bekommen sie von israelischen Soldaten, die damit ihren Drogenkonsum finanzieren" (Kampfner 2002).

Praktisch alle der immigrierten „Sows" sind konsequent säkular ausgerichtet und haben mit dem religiösen Wahn der Ultra-Orthodoxen nichts am Hut. Aber sie haben den säkularen Teil der Israelis eben nicht im emanzipatorischen Sinne verändert. Denn was sie mitbringen und neu orientieren, ist der ganz gewöhnliche säkulare Rassismus kapitalistischer Unterschichten, der mit dem religiös motivierten widersprüchlich verschmilzt: „Es ist nicht die Religion, die sie antreibt. Die meisten Sows haben kei­ne. Sie bilden mit anderen Gruppen der israelischen Gesellschaft eine zufällige und unheilige Allianz, die die politische Landschaft stark verändert hat" (Kampfner 2002).

Zusätzlich verschärfend musste wirken, dass Israel als integraler Bestandteil der kapitalistischen Weltgesellschaft gleichzeitig natürlich deren ökonomischer und ide­ologischer Mainstream-Tendenz unterworfen ist. Unter der globalen Ägide des Neo­liberalismus mit den grundsätzlichen Vorgaben von Privatisierung, Deregulierung und Globalisierung mussten alle sozialistischen Momente des Zionismus ihre Bindekraft einbüßen. Insbesondere die Idee der Kibbuzim wurde weder intellektuell noch prak­tisch zeitgemäß erneuert, sondern erlebte einen quantitativen und substantiellen Ver­fall. An die Stelle der engen Gemeinschaftsideologie trat keine weitergehende Kritik der kapitalistischen Subjektform, sondern wie überall in der Welt die schrittweise Kapitulation vor den beiden eng miteinander verbundenen postmodernen Erschei­nungen von abstrakter Individualisierung qua Markt- und Konkurrenzzwang einerseits und militantem Religions- bzw. Ethno-Kulturalismus andererseits.

In vordergründig politischer Hinsicht führten alle diese Entwicklungen schon bald zu einer völligen Verschiebung der israelischen Machtverhältnisse: Der säkulare Ar­beiter-Zionismus wurde mehr und mehr an die Wand gedrückt; es kam zu einem ,,anfangs langsamen, aber kontinuierlichen Aufstieg von Gachal, dem späteren Li-kud-Block" (Eisenstadt, a.a.O., 526), der politischen Mitte der reaktionär-barbarisie-renden Tendenz mit einem ganzen Kometenschwarm von ultra-religiösen, ultranationalistischen und ethno-politischen Parteien, Splittergruppen, Sekten und fanatischen Kampforganisationen, die heute mindestens das Zünglein an der Waage für Regie­rungsbildungen sind: „Die Likud-Regierung von Ariel Scharon stützt sich auf sowje­tische Einwanderer, sephardische Juden und Ultraorthodoxe" (Kampfner 2002).

Diese Tatsachen der gesellschaftspolitischen Entwicklung Israels werfen erst recht ein grelles Licht auf die unheimliche Ignoranz des traditionellen linken „Antiimperi­alismus": Während dieser weiterhin seine „antizionistischen" (immer schon und heu­te bis zur Kenntlichkeit antisemitisch aufgeladenen) Parolen brüllt, ist der säkulare Arbeiter-Zionismus in Wahrheit von den antizionistischen reaktionären und postmodern-antizivilisatorischen Kräften Israels selbst längst überrollt worden. Auch in die­ser Hinsicht ist der „nationalrevolutionäre" Antiimperialismus nur noch anachronis­tisch. Der Aufstieg des Likud-Blocks ging mit einer systematischen Delegitimierung des ursprünglichen zionistischen Denkens einher und war nahezu identisch mit ei­nem doppelten, sowohl nach außen wie nach innen gerichteten Zersetzungsprozess der israelischen Gesellschaft.

In der Orientierung nach außen verwandelte sich die defensive Haltung gegenüber den Arabern in militante Feindseligkeit, kulturalistische Arroganz und aggressive Eroberungsideen. Diese ideologische Ausrichtung der rapide an Einfluss gewinnen­den Ultras schlug sich praktisch in einem neuen, rechtsextremistisch formierten Siedlungsprogramm nieder. Die 1974 gegründete Gush Emunim („Block der Gläubigen") predigte ein neues, nicht mehr sozialistisches, sondern religiös-nationalistisches „Pionier"-Ideal mit dem Ziel, die arabischen Einwohner zu vertreiben und letzten Endes die besetzten Gebiete Israel einzuverleiben: „Die Siedlungspolitik in Judäa und Samarien schlug tatsächlich neue Richtungen ein, nachdem die Likud-Regierung an die Macht gekommen war... Der Siedlungsprozess unter den Likud-Regierungen wies einige typische Merkmale auf. Das erste davon war sein enormes Ausmaß. Während in der Zeit von 1967 bis 1977 rund vierzig neue Siedlungen gegründet worden waren, entstanden von 1976 bis 1983 fast doppelt so viele... Das zweite Merkmal des Sied­lungsprozesses unter den Likud-Regierungen betraf die Lage der neuen Siedlungen. Während der Zeit des Arbeiterblocks hatte man Siedlungen in Gebieten errichtet, die keine oder nur sehr wenige arabische Einwohner aufwiesen... Die Ortswahl für neue Siedlungen veränderte sich dann weitgehend unter den Likud-Regierungen. Ziel war es nun, ein Maximum an jüdischer Präsenz in allen Teilen der Westbank zu schaffen. Statt Gebiete mit dichter arabischer Bevölkerung auszusparen, bevorzugte man gera­de diese Bezirke für Siedlungsneugründungen und errichtete sogar Siedlungskerne in den großen arabischen Städten wie Nablus, Ramallah und Hebron. Die genaue Lage der neuen Siedlungen richtete sich nach der Identifizierung einer bestimmten Stätte mit einer biblischen Siedlung..." (Eisenstadt, a.a.O., 754 f.).

Diese Besiedelung folgte keinem universellen Ideal mehr wie der Arbeiter-Zionis­mus, also auch nicht einem impliziten Anspruch, dass Platz für alle Verfolgten sein soll und sich darüber hinaus alle Menschen überall niederlassen können, sofern dies nicht auf Kosten anderer geht. Ganz im Gegenteil repräsentiert Gush Emunim eine ethno-politische „Säuberungs"- und Enteignungspolitik mit einer völlig irrationalen (biblischen) Legitimationsgrundlage. Dabei machte der heutige israelische Regierungs­chef schon in den frühen 80er Jahren von sich reden: „Die allgemeine Siedlungspoli­tik ... stand unter der dynamischen Leitung von Ariel Scharon..." (Eisenstadt, a.a.O., 757). Es war deshalb kein Zufall, dass unter Scharons Führung als Verteidigungsmi­nister 1982 der erstmals rein aggressive, nicht von außen aufgezwungene Libanon-Feldzug geführt wurde, der in dem berüchtigten Massaker von Sabra und Schatila bei Beirut gipfelte: Dort ermordeten mit Israel verbündete christliche Milizen unter den Augen der israelischen Armee und mit offenbar stillschweigender Billigung von Scha-ron mehr als 800 palästinensische Zivilisten.

Nach innen ging die Rechtswende der israelischen Gesellschaft wie auch sonst in der Welt mit einem steigenden Grad von Korruptionsfällen und vor allem mit einer unversöhnlichen Spaltung einher, die bereits in den 80er Jahren zu einer immer ag­gressiveren rechten Gewaltrhetorik gegen die israelische Linke führte: „Diese Spal­tungstendenzen verbanden sich mit einem erheblichen Maß an zumindest verbaler Gewalt und Gesetzlosigkeit auf vielen Ebenen, die ... in zahlreichen Lebensberei­chen auch später anhielten. Dies zeigte sich im Alltagsverhalten, im Straßenverkehr und in der hohen Unfallrate. In engem Zusammenhang mit dieser Gewalt stand die zunehmende Intoleranz gegenüber Gegnern, einschließlich der Neigung, sie mit ex­trem abwertenden Bezeichnungen zu belegen... Diese Gefühle der Zwietracht und Feindseligkeit, die heftig zum Ausdruck gebracht wurden, fanden sich vor allem bei den Gruppen, die dem Likud nahe standen" (Eisenstadt, a.a.O., 745 f.).

Die Delegitimierung des Arbeiter-Zionismus ließ keinen Aspekt aus, weder die Kibbuzim noch der Gewerkschaftsverband Histadrut blieben verschont: „Von beson­derer Wichtigkeit waren die plötzlich ausbrechenden Hetztiraden ... gegen die Kib­buzim, dieses zentrale Symbol des zionistischen Modells..." (Eisenstadt, a.a.O., 735). Wie die Kibbuzim litt auch die Gewerkschaftsbewegung unter dem doppelten Druck von kapitalistischer Krise und neoliberaler Globalisierung einerseits und rechtsradi­kal-religionspolitischer Hetze andererseits: „Generell verlor die Histadrut mehr und mehr ihre Stellung als Partner der Regierung bei der Formulierung ihrer Wirtschafts­politik. Sie wurde oft ins Abseits gedrängt..." (Eisenstadt, a.a.O., 771). Nicht einmal die historische Rolle der zionistischen Hagana, des militärischen Kerns der israeli­schen Staatsgründung, wurde von diesem Prozess der Delegitimierung ausgenom­men: „Sogar die Geschichte des Kampfes gegen die Briten und für die Unabhängig­keit wurde umgeschrieben - vor allem mit dem Ziel, die Rolle der Hagana bei all diesen Vorgängen herunterzuspielen" (Eisenstadt, a.a.O., 767).

Am Ende seiner Untersuchung gibt Eisenstadt der Hoffnung Ausdruck, dass Israel trotz dieser Entwicklung zu einem neuen „dynamischen Gleichgewicht" finden und die selbst zerstörerischen Tendenzen überwinden könnte. Leider haben die 90er Jahre das genaue Gegenteil bewiesen. Die Ermordung von Ministerpräsident Jitzhak Rabin im November 1995 durch einen jungen religiös-nationalistischenjüdischen Fanatiker bildet nur die Spitze eines Eisbergs, an dem Israel durch seine eigene fundamentalis­tische Barbarisierung zu scheitern droht. In dieser Hinsicht liest sich die Untersu­chung von Michael Karpin und Ina Friedman, „Der Tod des Jitzhak Rabin" (1998), im Original unter dem Titel „Murder in the Name of God" erschienen, wie eine un­heilvolle Fortsetzung der Analyse von Eisenstadt. Karpin und Friedman, die zu den bekanntesten israelischen Journalisten zählen, zeigen in über weite Strecken scho­nungsloser Offenheit, wie weit die religiös-fundamentalistische und rechtsradikal­nationalistische Zersetzung der israelischen Gesellschaft inzwischen fortgeschritten ist, und zwar wiederum nach außen wie nach innen. Dass mit Rabin noch einmal eine zionistisch-säkulare Regierung ins Amt gekommen war, konnte zwar dem Willen der israelischen Mehrheit nach Frieden und Ausgleich zugeschrieben werden; aber das blutige Ende dieser bloß Episode bleibenden Politik verweist auf die bereits herangereifte Macht der fundamentalistischen Tendenz.

Sowohl vor als auch nach der Ermordung Rabins war eine bis heute anhaltende Forcierung der militanten Siedlungs- und Enteignungspolitik gegen die arabische Bevölkerung zu beobachten, deren Ausmaß selbst US-amerikanische Unterhändler regelmäßig erschreckte. Schon Eisenstadt wies im letzten Teil seiner Untersuchung auf den rassistischen Charakter der Siedlungsideologie und ihrer Unterstützung in den Spitzen der israelischen Gesellschaft hin; wie er schreibt, „rechtfertigten auch manche religiöse Gruppen ein extrem xenophobisches Verhalten, das sich auf die biblischen Beschuldigungen gegen Amaiek berief (Eisenstadt, a.a.O., 787). Der Li-kud-Ministerpräsident Begin hatte die Palästinenser öffentlich als „zweibeinige Tie­re" entmenschlicht; und in demselben Maße, wie die Mehrheit der orthodoxen Rabbi­ner in Israel immer offener den jüdischen „Gottesstaat" propagierte, wurde auch die­ser Rassismus lauter. Der Rabbiner Jitzhak Ginzburg, einer der extremistischen Hard-liner, verfasste ein Dekret, „wonach Jüdisches Blut und nichtjüdisches Blut nicht dasselbe' seien" (Karpin/Friedman 1998, 18). Und der berüchtigte Rabbi Meir Kaha-ne, einer der Ideologen der fundamentalistischen Rechten, der 1990 selber bei einem Auftritt in New York ermordet wurde, „bezeichnete ... alle Araber als eine ,Epide­mie... Bakterien, die uns vergiften'..." (Karpin/Friedman, a.a.O., 69).

Solche Leute waren schon vor mehr als einem Jahrzehnt in Israel ungefähr so „marginalisiert" wie etwa ein Jörg Haider in Österreich; zu Kahanes Begräbnis in Jerusalem „kamen etwa 15.000 Trauergäste, und kein Geringerer als der Oberrabbi­ner von Israel, Mordechai Eliyahu, hielt die Totenrede... Zu denen, die gekommen waren, um Kahane die letzte Ehre zu erweisen, gehörten auch zwei Minister und eine Reihe von Knessetabgeordneten der Rechten" (Karpin/Friedman, a.a.O., 70).

Das rassistische Motiv wurde zum Treibsatz für eine nicht abreißende Serie von Gewalttaten israelischer Siedler. So stürmte, um nur ein frühes Beispiel zu nennen, im Sommer 1983 eine Gruppe maskierter Extremisten in die Universität von Hebron, tötete mit Gewehr- und Granatfeuer drei Palästinenser und verwundete zahlreiche weitere. In der Folgezeit wurden reihenweise Bombenanschläge auf arabische Bür­germeister verübt. Herostratische Groß-Anschläge auf die Al-Aksa-Moschee in Jeru­salem und andere moslemische Symbole wurden geplant, wenn auch rechtzeitig ver­hindert. Selbst bekannte politische Führer der Rechten beteiligten sich persönlich an Gewalttaten, so das Mitglied der rechten „Aktionszentrale" gegen Rabin, Gadi Ben-Zimra. Im Alltag terrorisierten gerade die exponiertesten, oft winzigen Siedlergrup­pen im Schutz der Armee ihre palästinensischen Nachbarn, warfen ihre Gemüsestän­de um, beschossen ihre Häuser, zerstörten ihre Autos usw. Erschreckend war der Selbst­mordanschlag des Arztes Dr. Baruch Goldstein aus der berüchtigten Siedlung Kiryat Arba bei Hebron, der am 25. Februar 1994 mit einem Schnellfeuergewehr 30 Palästi­nenser beim Morgengebet niedermähte, bevor er selbst von wütenden Überlebenden gelyncht wurde. Goldstein erlangte in weiten orthodoxen und nationalistischen Krei­sen den Rang eines „Märtyrers", von denen er sogar als „Opfer des arabischen Ter­rors", ja als „den Opfern des Nazi-Holocaust gleichgestellt" bezeichnet wurde (Kar­pin/Friedman, a.a.O., 104, 177).

Alle diese Gewaltausbrüche von nationalistisch-rassistischem Hass und religiösem Wahn waren organisiert und nicht bloß vereinzelt. Von der Armee auf Geheiß der Likud-Regierung mit Waffen versorgt, bildeten die Siedler eigene private Milizen, die sich bald selbst gegenüber der Likud-Administration zu verselbständigen und als „bewaffneter Untergrund" gesetzlos und willkürlich zu agieren begannen: wiederum in auffälliger Parallele zu den palästinensisch-arabischen feindlichen Nachbarn. Die innere Zersetzung Israels hatte damit bereits die Warlord-Ebene erreicht. Die weltli­che israelische Presse bezeichnete „die Brennpunkte der Siedlergewalt dann auch bald als .Wildwestbank'..." (Karpin/Friedman, a.a.O., 64).

Paradoxerweise deuteten die Haredim und Ultra-Nationalisten in demselben Maße, wie sie die Autorität und die Institutionen des Staates Israel aushöhlten und zersetz­ten, gleichzeitig die legitimatorische Grundlage dieses Staates radikal um: Während ihr fundamentalistischer Aktivismus den Staat nach innen zerstörte, sollte er nach außen die überdimensionalen Ausmaße eines „Groß-Israel" annehmen. Aus dem welt­lichen Zufluchtsort der Zionisten wurde der biblisch mystifizierte Ort eines religiös­nationalistischen Heilsversprechens; und aus dieser Sicht einer rechtsradikal-religiö­sen fundamentalistischen „Antipolitik" kann eine Grenzziehung überhaupt nicht das Resultat von Verhandlungen sein. Stattdessen behauptet die fanatische Gläubigkeit, „es gebe nur eine Richtlinie, um die Grenzen des Landes Israel festzulegen: Gottes Versprechen gegenüber dem Erzvater Abraham (!): .Deinen Nachkommen will ich dies Land geben, von dem Strom Ägyptens an bis an den großen Strom Euphrat' (l. Mose 15,18). Heute umfassen diese Grenzen den größten Teil des Nahen Ostens, von Ägypten bis zum Irak (!)..." (Karpin/Friedman, a.a.O., 15).

Im Prozess der Verschmelzung von religiösem Fundamentalismus, säkularem Nationalismus, Rassismus und Ethnopolitik verwandelte sich die Lehre von der Erlö­sung durch den Messias in ein postpolitisches Konstrukt, das sich selbst als religions­politische „Revolutionierung" der israelischen Gesellschaft definierte: „Die ,neomessianistische Revolution' wurde von Synagogen und Bildungseinrichtungen aus gesteuert. Synagogen waren nicht mehr nur Bethäuser, sondern auch Zentren der po­litischen Indoktrination, Jeschiwas nicht mehr nur Stätten der Gelehrsamkeit, son­dern Kaderschmieden der großisraelischen Bewegung... Ein riesiger Propaganda-Apparat wurde aufgebaut, unter anderem von angeblich unpolitischen Verbänden, die Steuerfreiheit genossen... Eine .Erweckung' dieses Ausmaßes hatte es seit dem Aufstieg des Zionismus ein Jahrhundert zuvor in der jüdischen Welt nicht mehr gege­ben..." (Karpin/Friedman, a.a.O., 291).

Nach innen agierte die neo-messianische, theokratische Bewegung für ein phantasmatisches Groß-Israel mit ebenso zunehmender, theologisch-talmudisch legitimier­ter Gewaltsamkeit wie nach außen. Auch diese innere, vor allem gegen die säkulare Linke gerichtete Gewalt begann früh, parallel zur rassistischen Siedlergewalt in den besetzten Gebieten. Den Startschuss gab ein Zwischenfall im Februar 1983: „Yonah Abrushmi, ein von der zügellosen Rhetorik der Rechten getriebener verbitterter junger Mann, warf in der Nähe des Amtssitzes des Ministerpräsidenten eine Handgrana­te in eine Menge von .Frieden jetzt'- Demonstranten. Ein Mann, Emil Grunzweig, starb bei diesem Anschlag, elf weitere Menschen wurden verletzt" (Karpin/Fried-man, a.a.O., 155).

Gewalt und Gewaltrhetorik der theokratischen und/oder nationalistischen Rech­ten in teils offenen, teils sublimen Formen haben seitdem nicht nachgelassen. Der Ermordung von Rabin ging eine lange Hetzkampagne voraus, in der mehrfach öffent­lich sein Tod gefordert wurde; nach dem sogenannten Din Rodef, der talmudischen Todesstrafe für jüdische Verräter, hatten ihn „gespenstische Rotten" von fundamenta­listischen Rabbis tagelang vor seinem Amtssitz auf pseudo-mittelalterliche Weise verflucht. Und dieser Mord wurde von einem bereits erschreckend großen Teil der israelischen Gesellschaft teils passiv hingenommen, teils klammheimlich und in vie­len Fällen sogar offen bejubelt. Der Mörder, Yigal Amir, wird von vielen Teenagern als „Held" angehimmelt, erhält massenhaft Fanpost usw. Und die mehr oder weniger stille Billigung oder wenigstens Verharmlosung dieses Mordes geht bis weit in die höchsten Kreise der politischen Rechten: „Fast zwei Jahre nach dem Mord wieder­holte Sharon, zu der Zeit Minister in Netanjahus Regierung, die Behauptung der rechts­radikalen und extremistischen Rabbiner: Jitzhak Rabin habe seinen Tod durch seinen Starrsinn selbst verschuldet" (Karpin/Friedman, a.a.O., 301).

Analog zur globalen Amok-Kultur mit ihrer Verbindung von Aggression und Selbst­vernichtung brütete die theokratisch-nationalistische Rechte Israels auch dieselbe Rechtfertigung des Selbstmordattentats aus wie die Islamisten, wobei die Tat des Massenmörders Goldstein als Präzedenzfall betrachtet wurde. Und ähnlich wie bei den Islamisten diente die militante Umdeutung religiöser Begriffe diesem Unterfan­gen: „Kiddush ha-Shem war, bevor er mit dem messianischen Eifer der Gush-Emu-nim-Siedler verknüpft wurde, ein Selbstopfer, mit dem anstelle des erzwungenen Glaubensübertritts der Tod gewählt wurde... Goldsteins aggressive Verwandlung dieses Selbstopfers wurde von den jüdischen Fanatikern rasch gutgeheißen... In einem Buch mit dem Titel Baruch ha-Gever (,Gesegnet ist der Mann') priesen sie sein .Selbstop­fer' als höchsten Ausdruck religiöser Überzeugung und forderten andere auf, es ihm gleichzutun. Rabbiner Elitzur Selga ... schrieb, die rabbinischen Heiligen hätten nie die Goldsteinsche Spielart der Selbstmordmission verurteilt. .Offenbar ist ein noch gewisserer Tod, etwa indem man sich und seine Feinde mit einer Granate in die Luft jagt, ebenfalls als edle Tat sanktioniert'..." (Karpin/Friedman, a.a.O., 67). Deutlicher könnte nicht gesagt werden, dass der akute und manifeste Todestrieb kapitalistischer Vernunft in jedes ideelle Gewand schlüpfen kann.

In kultureller und gesellschaftspolitischer Hinsicht verschärfte sich der radikal-theokratische Anspruch an die israelische Gesellschaft und gegen die säkulare Linke ebenfalls in den 90er Jahren; und wiederum in peinlicher Affinität zu den feindlichen arabischen Nachbarn. Ähnlich wie die Wahhabiten und alle anderen Islamisten wettern die ultra-orthodoxen und religions-nationalistischen Kräfte heute nicht nur ver­bal gegen „die hohle Kultur des Westens" (Karpin/Friedman, a.a.O., 23), den moder­nen Materialismus, den Ausverkauf patriarchaler Werte usw., sondern sie wollen mehr als jemals zuvor der Gesellschaft ihre irrationalen Gebote aufzwingen. Genau wie bei den Islamisten steht dabei eine militante Sexualfeindlichkeit an vorderer Stelle. Selbst gemäßigte Orthodoxe sind entsetzt über den institutionellen Druck, den die puritani­schen Haredim inzwischen in dieser Hinsicht ausüben können. So nannte etwa 1997 Professor Yehudah Friedländer, Rektor der BarIlan-Universität, „Beispiele für die Veränderungen aus dem Umkreis seiner eigenen Familie... .Streng beachtet wird die äußere Etikette; so verbietet man den Mädchen schlichtweg, in Socken umherzulau­fen... Streng überwacht wird die Länge der Röcke und die Höhe der Schlitze... '. Den Vätern wurde verboten, die Schuljahr-Abschlussfeier ihrer Töchter zu besuchen, weil dort ein Mädchenchor auftrat... Der Leiter der Grundschule seines Sohnes ver­bot es dem Jungen, im Sommer ein von der Hebräischen Universität veranstaltetes Wissenschaftscamp zu besuchen... ,Vor hundert Jahren haben sie noch nicht in den (Privatangelegenheiten) herumgestöbert, heute stürzen sie sich auf die geringste Klei­nigkeit, und sei sie noch so persönlich'..." (Karpin/Friedman, a.a.O., 73 f.).

Die institutionelle Macht der rabbinischen Orthodoxie und Ultra-Orthodoxie be­herrscht weite Teile des zivilen Rechts, weil diese nie säkularisiert worden sind. Die­se Macht führt zu unerträglichen Schurigelungen des persönlichen Lebens auch bei allen, die mit der Religion gar nichts am Hut haben: „Für die Juden Israels heißt dies, dass sie vom orthodoxen religiösen Establishment kontrolliert werden, und im Laufe der Jahre hat sich diese Regelung verheerend auf die bürgerlichen Rechte zahlloser Staatsangehöriger ausgewirkt. Wegen des Klammergriffs der orthodoxen Kleriker kann kein jüdischer Israeli, selbst der gefestigtste Atheist, außerhalb seines ,Glaubens' hei­raten.. . Tausenden von israelischen Kindern, die im Ausland adoptiert wurden, wird der Übertritt zum Judaismus verwehrt, weil ihre Eltern nicht dem orthodoxen Le­bensstil folgen. Frauen ist es kategorisch untersagt, vor den rabbinischen Gerichten auszusagen, an die man sich zwecks Ehescheidung wenden muss..." (Karpin/Fried­man, a.a.O., 76).

Auch die orthodox-rabbinische Frauenverachtung und Frauenunterdrückung gleicht der islamistischen (natürlich auch der traditionell christlichen und überhaupt der patriarchalen und krisenideologisch neo-patriarchalen in der ganzen Welt) aufs Haar. In den strenggläubigen Gemeinden ist die misogyne Haltung auch praktisches Alltags­gesetz, das sich als Reif auf die individuellen Liebesbeziehungen legt, wie etwa der beklemmende Film „Kadosh" von Amos Gitai zeigt. Und qua institutioneller Macht dehnt sich dieses pseudo-archaische Alltagsgesetz der Frauenunterdrückung in viel­fältiger Weise auf das säkulare israelische Leben aus.

Dasselbe gilt für die damit eng zusammenhängende Schwulenverachtung und Schwulenverfolgung, die von den ultra-orthodoxen Gläubigen genauso ausstrahlt wie von den säkularen Rassisten der „Sows". Zu den gehässigen Angriffen der Ultras auf Rabin vor dem politischen Mord gehörte immer wieder der Slogan „Rabin ist ein Homo" (Karpin/Friedman, a.a.O., 113). Dieselbe militante Homophobie wie bei den Islamisten findet sich nicht nur bei den israelischen Ultras, sondern auch bei ihren Unterstützern und Vordenkern in der jüdischen Diaspora, nicht zuletzt in den USA, wo sie in den jüdischen Gemeinden äußerst umstritten sind. So unterstützte der rechts­radikale New Yorker Rabbiner Abraham Hecht (ein Held auch der israelischen Rech­ten) die Wahl des später durch drakonische Maßnahmen gegen die Armen bekannt gewordenen Bürgermeisters Giuliani mit antischwulen Hetztiraden: „Als er sich 1989 für Giuliani einsetzte, verkündete er, sein Kandidat werde in einer von Übeln wie vorehelichem Sex, Abtreibungen und homosexuellen Verbrechen (!) korrumpierten Stadt endlich aufräumen, und er unterstützte (wie der örtliche Ku-Klux-Klan) die milde Bestrafung eines Mörders durch einen texanischen Richter, weil dessen Opfer nach dem Wort des Richters .Schwuchteln' waren" (Karpin/Friedman, a.a.O., 220).

Mit der rassistisch und nationalistisch zugespitzten neo-archaischen Ideologie geht eine abermals dem Islamismus ebenso wie den westlichen synkretistischen Sekten entsprechende rituelle Zwanghaftigkeit einher. Nach den verheerenden palästinensi­schen Selbstmordattentaten versuchen beispielsweise ultra-orthodoxe Fanatiker, die Leichenteile „ethnisch" zu sortieren, damit nicht Körperteile eines fremdrassigen At­tentäters versehentlich zusammen mit jüdischen beerdigt werden. Von der religiösen Rechten werden gegen den Willen der säkularen Bevölkerung immer mehr religiöse Einschnürungen des Alltagslebens durchgesetzt, die inzwischen weit über die unmit­telbaren institutionellen Befugnisse der Ultra-Orthodoxen hinausreichen. Mit jedem neuen politisch-koalitionstechnischen Zugeständnis an die religiösen Parteien ver­wandelt sich das Gesicht Israels. Das Land ist einerseits im Sinne des politischen Systems eine kapitalistische Demokratie westlicher Prägung, die jedoch wie gesagt von den Haredim nie anerkannt wurde; andererseits gleicht der israelische Alltag in vieler Hinsicht bereits dem eines Gottesstaats nach dem Muster der Taliban.

Es ist ganz offensichtlich, dass hier zwischen zwei einander ausschließenden Welt-und Lebensentwürfen eine katastrophale Zerreißprobe heranreift. Hatte Eisenstadt seine soziologisch-historische Analyse von 1984 noch mit der Hoffnung auf inneren Ausgleich beendet, so ist die Einschätzung des inneren Zustands Israels bei Karpin/ Friedman 14 Jahre später nur noch rabenschwarz: „Das Land, so sehen es die Israelis immer wieder, sitze auf einem Pulverfass mit brennender Lunte. Als größte Bedro­hung gilt ihnen nicht der fundamentalistische Terrorismus oder ein Krieg mit den Nachbarn, sondern die Auflösung von innen her... (Als) bei einer Gallup-Erhebung für Ma'ariv am zweiten Jahrestag des Attentats die Frage gestellt wurde, ob das Land der Einheit oder dem Bürgerkrieg näher sei, urteilten mehr als doppelt so viele Israe­lis (56 gegenüber 21 Prozent), es sei dem nationalen Geschwistermord näher als dem inneren Frieden" (Karpin/Friedman, a.a.O., 427).

Wenn die drohende gewaltsame Entladung des inneren Widerspruchs in Israel bis jetzt vertagt wurde, so ist dies natürlich in erster Linie auf die Zuspitzung des äußeren Konflikts mit den Palästinensern seit Beginn der sogenannten Al-Aksa-Intifada zu­rückzuführen. Die antisemitischen Hetztiraden, die Selbstmordattentate und die quasi­militärische Formierung durch palästinensische Warlord-Milizen haben nicht nur schlechthin den äußeren Widerspruch wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt, son­dern auch die eigene rassistische, fundamentalistische und nationalistische Energie der israelischen Rechten erst einmal nach außen gelenkt, zumal diese Rechte inzwischen den gesellschaftlichen Mainstream bildet und das institutionelle Ruder fest in der Hand hat.

Dementsprechend sieht auch das Vorgehen der israelischen Armee in den besetz­ten Gebieten unter der Scharon-Regierung aus, das nicht mehr als Akt der Selbstver­teidigung einer militärisch-technisch weit überlegenen Macht interpretiert werden kann. Naturgemäß hat sich die rechtsgerichtete Ultra-Tendenz der Gesellschaft wie überall in der Welt am heftigsten in der Armee durchgesetzt. Es ist nicht nur desinformierender palästinensischer Propaganda geschuldet, wenn auch die Berichte westli­cher Journalisten und israelischer oppositioneller Gruppen und Hilfsorganisationen inzwischen eine ganze Reihe von Kriegsverbrechen der israelischen Armee aufzäh­len.

So wurden mutwillig Privathäuser, historische Monumente und völlig unmilitäri­sche Einrichtungen zerstört: „In Ramallah verwüsteten die Soldaten das Gesundheits­zentrum der Union, zerstörten die Optiker-Station, das Büro für den Verleih medizini­scher Geräte und das Jugendzentrum... Das Kultusministerium in Ramallah wurde erst am 2. Mai... von den Besetzern geräumt. Sie hinterließen lauter verwüstete, ver­schmierte und besudelte Büros, zerstörte Computer und leere Registerregale.... selbst die Toilettenschüsseln wurden zerschlagen. In der Stadtverwaltung von Ramallah sprengten die Soldaten den Haupttresor der Finanzbuchhaltung auf und entfernten sämtliche Harddisks aus den Computern. Im Erziehungsministerium ... ließen sie die Unterlagen für die nächsten Abschlussexamen und die Beglaubigungsstempel für Abgangszeugnisse mitgehen; zur Abrundung pflügten sie den Blumengarten mit ih­ren Kettenfahrzeugen um. Nach Auskunft des Kultusministers Abderabboh entwen­deten die Soldaten im Grundbuchamt sämtliche Unterlagen über den Bodenbesitz, was im Lichte der fortschreitenden Enteignung für jüdische Siedlungen ein schmerz­licher Verlust wäre... Laut zahlreichen Zeugenaussagen ... richteten die Soldaten auch in Schulen und in vielen Privatwohnungen Zerstörungen an und ließen Wertsa­chen oder Bargeld mitgehen" (Neue Zürcher Zeitung, 8.5.2002).

Die Berichte über die Durchsuchung und Plünderung großer Geschäftszentren nicht nur in Ramallah, über das Ausrauben von Zivilpersonen usw. sind so zahlreich und übereinstimmend, dass man von ihrem Wahrheitsgehalt ausgehen kann. So heißt es über israelische Schützenpanzerbesatzungen, dass diese „vor Läden, Goldschmieden, Banken und Computergeschäften gehalten und diese geplündert hätten" (Wie­land/Schäfer 2002). Angeblich nach Waffen durchsuchten Studenten wurden die Geld­beutel abgenommen. Teile der israelischen Armee verhalten sich im „ethnischen Fein­desland" ganz der globalen Entwicklung entsprechend; das Vorgehen in den Palästinen­sergebieten ist ansatzweise zum Teil der weltweiten Plünderungsökonomie geworden.

Bei Raub und Plünderung ist es nicht geblieben. Im April 2002 legten bei einer Pressekonferenz in Jerusalem Sprecher von acht internationalen Menschenrechtsgruppen Berichte über außergerichtliche Exekutionen und Folter durch israelische Solda­ten vor. „So hörte man von einer Gruppe von zehn Frauen, die sich nach einem Feu­ergefecht auf die Straße wagten: Mit erhobenen Armen flehten sie die Soldaten an, den hilflosen Verletzten beizustehen. Ihre Anführerin, die Ärztin Dr. Kadah, wurde erschossen, die anderen Frauen schwer verletzt" (Neue Zürcher Zeitung, 17.4.2002).

Das oberste israelische Gericht musste die Folter von palästinensischen Gefange­nen ausdrücklich verbieten, was einem Eingeständnis gleichkommt, dass die Folter verschiedenen Grades in Israel wie in den Militärdiktaturen der Dritten Welt schon in der Vergangenheit zum Alltag gehört hat. Carmi Gillon, der designierte israelische Botschafter in Dänemark, rief Proteste hervor, als er auch nach diesem Urteil noch öffentlich die Folterung von palästinensischen Gefangenen rechtfertigte. Dass der Vorwurf der Folter auch bei der jüngsten israelischen Militäroffensive wieder massiv und mit Details erhoben wurde, zeigt an, dass diese Praktiken weiterhin angewandt werden. Über das Schicksal von Marwan Barghuti, Mitglied des palästinensischen Exekutivrates, der von der israelischen Armee im April 2002 festgenommen worden war, hieß es in Presseberichten: „Barghuti werde vom israelischen Inlandgeheim­dienst Shin Bet durch Schlafentzug gefoltert... Außerdem werde er immer wieder viele Stunden lang auf einem mit Nägeln gespickten Stuhl festgebunden. Seine Hän­de und Füße seien dabei so fixiert, dass er nicht aufrecht sitzen könne. Dabei habe er sich derart starke Verletzungen an Rücken und Händen zugezogen, dass er in eine Krankenstation gebracht worden sei. Dort habe der Kontakt mit den Vertretern der Menschenrechtsorganisation stattgefunden. Seine Peiniger hätten Barghuti angedroht, seinen in der israelischen Stadt Ashkelon inhaftierten Sohn zu töten" (Neue Zürcher Zeitung, 25.5.2002).

Erscheinungen wie Kriegsverbrechen, Folter usw. können nicht allein schuldhaf­ten Einzeltätern zugeordnet werden, zumal diese Verbrechen in der Regel gar keine oder nur eine milde Bestrafung als „Heldendelikte" erfahren (in Israel ebenso wie in Russland, Restjugoslawien und anderswo); vielmehr sind solche Taten immer auch ein Spiegelbild der Gesellschaft, aus der sie hervorgehen. Die Greueltaten der israeli­schen Armee, die nicht mit der Barbarisierung der palästinensischen Gesellschaft gerechtfertigt werden können, verweisen auf die Barbarisierung der israelischen Ge­sellschaft selbst, die gerade in dieser Hinsicht ein integraler Bestandteil der kapitalis­tischen Weltgesellschaft ist.

Wenn der innere Widerspruch Israels noch nicht in großem Maßstab gewaltsam aufgebrochen ist, so ist dies nicht allein dem „Export" von Gewalt und theokratisch-rechtsradikalen Hasspotentialen durch die erneute äußere Konfrontation mit dem kom­plementär barbarisierten palästinensischen Gegner zuzuschreiben. Ein weiterer Fak­tor ist das Zurückweichen der säkularen Linken und selbst der bloß lebensweltlich säkularen Kräfte Israels. Dass die Arbeitspartei schon längst den Weg aller Sozialde­mokratien gegangen ist, dürfte kaum überraschen. Die Ermordung Rabins hat nicht etwa kritische Potentiale freigesetzt, sondern die Reste des ideologisch längst aufge­weichten Arbeiter-Zionismus noch weiter nach rechts getrieben; vergleichbar der Entwicklung sämtlicher Sozialdemokratien zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Auch damals hätten sämtliche sozialdemokratischen Führer von Rechtsradikalen erschos­sen werden können (was mit Jean Jaures in Frankreich tatsächlich geschah), und die Burgfriedenspolitik wäre trotzdem weitergegangen.

Hinzu kommt, dass das Bewusstsein der säkular orientierten israelischen Jugend, gerade der linken, ebenso wie das ihrer europäischen und nordamerikanischen Alters­genossen stark von der warenkonsum-hedonistischen abstrakten Individualisierung der sogenannten Postmoderne geprägt ist, die dem Vormarsch der anderen Seite der­selben Tendenz, nämlich des ethno-kulturalistischen Fundamentalismus, kaum Paroli bieten kann. Eine darüber hinaus ideell durch postmodeme Theorien abgerüstete Lin­ke, die Kapitalismus und Barbarei zu bloßen „Diskursereignissen" verharmlost, muss selber harmlos werden, was sich natürlich besonders in den Krisenregionen fatal aus­wirkt, wie der linke israelische Hochschullehrer Ran HaCohen feststellt: „Diese jun­gen Israelis verstehen sich als radikal, friedensorientiert, gegen die Besatzung einge­stellt und dazu verdammt, unter rückwärts gewandten Fanatikern zu leben. Zur sel­ben Zeit aber ermöglicht ihnen dieselbe Bewusstseinsstruktur, sich an die Besatzung anzupassen... Die intellektuelle Mode, die .Postmodernismus' genannt wird - im Westen eher auf dem absteigenden Ast, doch quicklebendig im provinziellen Israel -spielt dabei eine wichtige Rolle... Weil es keine Wahrheit gibt, können wir auch ge­gen nichts Widerstand leisten und nichts wirklich unterstützen... Worte sind wichti­ger als Handlungen. Sprache ist die Grundlage von allem. Diskursanalyse ist der Schlüs­sel zu allem... Der israelische Fall bietet einen eindrucksvollen Beweis dafür, wie gefährlich diese Ideologie sein kann" (HaCohen 2002).

Unter allen diesen Umständen und Bedingungen kann die Ausschaltung der zu­rückweichenden säkularen Linken durch die rechte Administration vorerst auf kal­tem Wege vor sich gehen. So sagt etwa die Direktorin des Cohn-Instituts an der Uni­versität Tel Aviv, Rivka Feldhay, über die Situation der säkularen und linken Intellek­tuellen an den Hochschulen: „Israels ultranationale Ministerin für Bildungsfragen, Limor Livnat, versucht uns zu isolieren und zu behindern. Forschung und Lehre wer­den hier in Israel durch einen Rat für akademische Ausbildung finanziert. Die neue Ministerin hat dieses Gremium in den vergangenen Monaten neu besetzt, um die

Universitäten zugunsten von regierungsnahen Wissenschaftlern zu schwächen. Mit Erfolg... (Wir) sind darauf angewiesen, dass die Europäer uns zu Hilfe kommen. Nicht mit Boykotten. Sondern indem sie ihren guten Namen in die Waagschale wer­fen, um gegen die Regierungspolitik zu protestieren" (Feldhay 2002).

Auch im Alltag müssen säkulare Linke immer mehr damit rechnen, angefeindet und angepöbelt zu werden; Künstler und Intellektuelle ziehen sich allmählich aus bestimmten, von Ultra-Orthodoxen beherrschten Vierteln Jerusalems und anderer Städ­te zurück. Trotzdem bringt die linke Opposition immer noch Hunderttausende von Demonstranten auf die Straße, Nach Angaben der 1982 (als Reaktion auf den von Scharon befehligten Einmarsch in den Libanon gegründeten) Verweigerer-Organisa­tion Yesh Gvul („Es gibt eine Grenze") haben seit Herbst 2000 mehr als tausend israelische Soldaten, darunter höhere Offiziere, den Dienst unter der Scharon-Regierung in den besetzten Gebieten verweigert: „Es ist nicht das erste Mal, dass Israelis den Dienst an der Waffe verweigern, doch haben sich noch nie so viele Mitglieder von Kampfeinheiten - Reservesoldaten und -Offiziere - öffentlich für eine Verweige­rung in den besetzten Gebieten ausgesprochen" (Dachs 2002).

Dieser noch anhaltende Widerstand ändert jedoch nichts daran, dass die säkulare Linke insgesamt geschwächt ist und um ihre soziale und institutionelle Zukunft, ja bei einer Rückverlagerung der theokratisch-nationalistischen Aggressionspotentiale nach innen auch um Leib und Leben fürchten muss. Die Eskalation der inneren Wi­dersprüche droht nicht zuletzt durch eine absehbare katastrophale Wirtschaftskrise ausgelöst zu werden. Israel, zusammen mit Palästina ohnehin wie viele andere Welt­regionen durch den Prozess der kapitalistischen Globalisierung und die Abhängigkeit vom Zufluss transnationalen Finanzkapitals bereits trotz aller Alimentierungen schwer angeschlagen, ruiniert sich zusätzlich durch die immensen Militärkosten, die auf die soziale Reproduktion zurückschlagen. Die Scharon-Regierung sitzt auch auf einem sozialökonomischen Pulverfass. Die ökonomische Krise, die periodisch zu Regie­rungskrisen führt, stellt unerbittlich die Frage, welche Teile der israelischen Bevölke­rung sozial über die Klinge springen müssen. Und die Ultra-Parteien haben bereits unmissverständlich deutlich gemacht, dass es alle ihnen missliebigen säkularen Schich­ten sein sollen; eine Absicht, der durch die Entfesselung der inneren Hasspotentiale nachgeholfen werden kann.

Das Wissen um diese Entwicklung schlägt sich in einer „Abstimmung mit den Füßen" nieder: Hunderttausende von säkularen Israelis sind dabei, auszuwandern, oder tragen sich mit dieser Absicht: „Noch nie in seiner jungen Geschichte hat es in dem traditionellen Einwanderungsland so viele potenzielle Auswanderer gegeben... Nicht nur Kanada, Australien und die USA wirken wie ein Magnet auf viele Israelis: Auch Vanuatu, ehemals die Neuen Hebriden, republikanischer Inselstaat im Pazifi­schen Ozean... In Tel Aviv haben sich ... bereits 2000 Familien in die kooperative .Mondragon'-Gesellschaft eingetragen, welche für 4500 Dollar Landparzellen von jeweils 3000 Quadratmetern in Vanuatu verkauft. Doch das ist erst der Anfang, denn .Mondragon' hat rund 80.000 Hektar Land für 150 Jahre gepachtet, um es aufgestückelt an auswanderungswillige Israelis zu verkaufen. Das gäbe über 50.000 Parzel­len, also Platz für über eine Million Menschen" (Landsmann 2001).

Es hat etwas zutiefst Deprimierendes und Erschütterndes, wenn auf diese Weise immer mehr säkulare Juden dem vermeintlichen Zufluchtsort und der vermeintlichen Heimat Israel den Rücken kehren, davon getrieben sowohl von palästinensischen Ter­rorkommandos als auch von der inneren unheimlichen Allianz aus religiösen Fanati­kern, Ultra-Nationalisten, Ethno-Politikern und säkularen Rassisten. Je mehr die sä­kulare Linke Israels durch diesen tragischen Exodus ausblutet, desto rapider schreitet die innere Zersetzung und Barbarisierung der israelischen Gesellschaft notwendiger­weise fort.

Natürlich stellt sich die Frage, wie diese traurige gesellschaftliche Entwicklung Israels im Hinblick auf den „ideellen Gesamtimperialismus" des kapitalistischen Zen­trums zu bewerten ist. Auf keinen Fall kann es für eine emanzipatorische, antikapita­listische Position um eine „Äquidistanz" zu Israelis und Palästinensern in dem Sinne gehen, dass bloß auf die komplementäre Barbarisierung der beiden ineinander ver­schlungenen Gesellschaften im Kontext der allgemeinen Globalisierungskrise ver­wiesen wird. Das wäre deswegen zu kurz gegriffen, weil durch einen derartigen Kri­sen-Positivismus die Funktion des weltweiten Antisemitismus und damit die beson­dere Bedeutung.des Staates Israel ausgeblendet würde.

Israel ist immer beides zugleich: ein peripherer kapitalistischer Staat unter kapita­listischen Bedingungen in einer zentralen Krisenregion einerseits; und ein spezifi­sches Widerstandsprodukt gegen die antisemitische letzte krisenideologische Reser­ve des Imperialismus andererseits. Deshalb ist die staatliche Existenz Israels eben von anderer Qualität als diejenige aller anderen Staaten. Während es nicht mehr im Horizont der sozialen Emanzipation liegen kann, dass die Palästinenser einen eige­nen Staat bilden, sondern hier bereits die poststaatliche Perspektive der Befreiung aktuell geworden ist, bleibt die Existenz und die Verteidigung des Staates Israel eine entscheidende flankierende Bedingung für die Konstitution einer transnationalen glo­balen Emanzipationsbewegung neuen Typs, die sich nicht durch die Öffnung des an­tisemitischen ideologischen Ventils das Verlangen nach Befreiung austreiben lässt. Mit anderen Worten: Unter allen Ländern ist Israel dasjenige, das im Rahmen einer neuen emanzipatorischen Weltbewegung am letzten die staatliche und „nationale" Existenz hinter sich lassen kann.

Das gewissermaßen doppelte Dasein Israels als gewöhnlicher kapitalistischer Kri­senstaat und als globaler Bezugspunkt kapitalistischer Krisenideologie verlangt eine entsprechende doppelte Herangehensweise radikaler Gesellschaftskritik. Die Vertei­digung der Existenz Israels muss für eine neue Kapitalismuskritik unbedingt sein; denn diese Verteidigung bildet eine conditio sine qua non für den emanzipatorischen Gehalt der Kritik. Die unbedingte Verteidigung der Existenz Israels kann gleichzeitig nicht von der realen gesellschaftlichen Entwicklung Israels als kapitalistischer Kri­senregion abstrahieren. Denn die Reduktion gesellschaftlicher Entwicklung auf die ideologische Sphäre und damit die Reduktion der Kritik auf Ideologiekritik, gar in zusätzlicher Engführung auf das antisemitische Syndrom, würde das Verhältnis von Gesellschaft und Ideologie auf den Kopf stellen und die Ideologiekritik selber in Ide­ologie verwandeln.

Insofern ist es auch falsch, aus der Perspektive radikaler Kritik die Geschehnisse im Nahen Osten ausschließlich unter das krisenideologische Aufblühen des Antise­mitismus im Westen und speziell in Deutschland zu subsumieren, um dann unter dem Vorwand, die Thematisierung der gesellschaftlichen Entwicklung in Israel „nütze" bloß dem Antisemitismus, diese reale Entwicklung auszublenden oder sogar schönzufärben.

Der Antisemitismus kann nicht unabhängig von seiner gesellschaftlichen Grund­lage, dem modernen warenproduzierenden System, analysiert und bekämpft werden. Abgelöst von der gesellschaftlichen Wirklichkeit schlägt die Kritik in Affirmation um, wie die gegenwärtige ideologisch reduzierte Auseinandersetzung um den Antise­mitismus bis in die radikale Linke hinein zeigt. Hatte die kritische Theorie immer den wesentlichen inneren Zusammenhang von Kapitalismus und Antisemitismus, von Auschwitz und der deutschen Geschichte des Kapitalismus hervorgehoben, so soll nun genau umgekehrt radikale Kapitalismuskritik als solche mit dem Schandmal des Antisemitismus gebrandmarkt werden, um die Linke mundtot zu machen. Eine Lin­ke, die diesem Druck nachgibt, muss sich selbst aufgeben: Der ideologiekritische Reduktionismus einer totalen Subsumtion von Gesellschaftskritik unter die Kritik des Antisemitismus entpuppt sich dann als platte Verteidigung des gesamtimperialen Weltkapitalismus im falschen Namen einer Kritik des Antisemitismus, die gerade dadurch in sich unwahr werden muss.

Der Beruf kritischer Theorie kann es nicht sein, für den Nahen Osten „Friedens­pläne" auf der Basis des kapitalistischen „Realismus" auszuhecken. Auf dieser Basis wird es sowieso niemals und nirgends Frieden geben. Der Beruf kritischer Theorie ist die unbestechliche Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse, aus der die radikale Kritik dieser Verhältnisse als immanente Konsequenz hervorgeht. In diesem Sinne kann es hinsichtlich der komplexen Beziehung von antisemitischer Krisenideologie (in der ganzen Welt, im Westen und auch speziell in Deutschland und Österreich), gesellschaftlicher Entwicklung in Israel und sogenanntem Palästinakonflikt nur dar­um gehen, die Verteidigung der Existenz Israels zu verbinden mit einer Unterstützung der israelischen säkularen Linken und einem gemeinsamen Kampf gegen den welt­weiten Barbarisierungsprozess des warenproduzierenden Systems.

Diese notwendige Verbindung hat ihre Sachhaltigkeit gerade in der primären Ver­teidigung Israels als Staat gewordene Existenz des Widerstands gegen das globale antisemitische Syndrom; denn diese Existenz ist nicht nur von außen, sondern ebenso von innen gefährdet. In den 90er Jahren hat in der israelischen Gesellschaft ein Bruch stattgefunden, der selbst den gemeinsamen Bezug auf die Erinnerung an den Holocaust grundsätzlich in Frage stellt. So erklärte der Ultra-Rabbiner Chaim Miller: „Un­sere Absicht ist eine strikte Trennung zwischen Gläubigen und Ungläubigen in Sachen Holocaust" (zit. nach: Der Spiegel 8/1995). Der Chef der ultrareligiösen Agu-dat-Israel-Partei, Mosche Feldmann, „verlangte die Einrichtung einer alternativen Gedenkstätte für Gläubige" (ebda.) Diese Abspaltung droht die säkularen jüdischen Opfer der Nazis selbst noch aus der Erinnerung zu eliminieren: Die „wahren" Opfer sind dann einzig noch die streng Religiösen, wie die „wahren" lebenden Juden ebenfalls nur die Ultras sein sollen. Eine derartige innere Delegitimierung des zionistischen Projekts stellt den historischen Ort Israels in Frage, soweit die Kriterien von Inklusion und Exklusion grundsätzlich verlagert werden und nicht mehr der globale Antise­mitismus die (negative) Legitimationsgrundlage bildet, sondern ein die säkulare jüdische Linke ausgrenzender positiver Ethno-Nationalismus.

Israel ist auf absehbare Zeit von der kapitalistisch weit zurückgebliebenen arabischen Welt nicht militärisch im traditionellen Sinne zu besiegen. Von außen wie von innen ist es stattdessen durch den Todestrieb kapitalistischer Vernunft in Frage gestellt; durch Selbstmordkommandos womöglich mit atomaren oder biologischen Sprengsätzen ebenso wie durch die rassistisch-theokratische Selbstzerstörung. Das Kalkül des westlichen Ölimperialismus könnte gerade ein gewaltsames Zerbrechen der israelischen Gesellschaft von innen heraus zum Anlass für eine Neuorientierung in der Region nehmen, die gleichzeitig die Bahn für die antisemitische Krisenideologie im Westen selbst frei machen würde. 

Editorische Anmerkung

Der Text wurde dem Buch

Robert Kurz
Weltordnungskrieg
Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung

per OCR-Scan entnommen.

Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG
Die Krise des Weltsystems
und die neue Begriffslosigkeit 11

DIE METAMORPHOSEN
DES IMPERIALISMUS

Pax Americana: Der Kampf um die kapitalistische Weltherrschaft ist entschieden 16 • Die letzte Weltmacht an der historischen Systemgrenze 23 • Vom territorialen Nationalimperialismus zum
„ideellen Gesamtimperialismus“ 26 • Vom nationalen „Gutmenschen“-Pazifismus zum globalen Interventions-Bellizismus 33 •
Die NATO als supranationale Verlängerung des „ideellen Gesamtimperialisten“ 36


DIE REALEN GESPENSTER DER WELTKRISE
Krisenpotentaten und neue Bürgerkriege 46 • Die globale Plünderungsökonomie 48 • Risikogesellschaft, Sachzwang und Gewaltverhältnisse 54 • Die Logik der Abspaltung und die Krise des Geschlechterverhältnisses 56 • Die Kälte gegen das eigene Selbst
59 • Die Ökonomie der Selbstzerstörung: Globalisierung und „Ausbeutungsunfähigkeit“ des Kapitals 63 • Die Metaphysik der Moderne und der Todestrieb des entgrenzten Subjekts 68

DIE POSTMODERNE WELTPOLIZEI
Neue Militärdoktrin und neue Kriegsökonomie 75 • Der „Kampf der Kulturen“ als Kriegsideologie 81 • Ideologie und Logik der Menschenrechte 85 • Von der politischen Ökonomie zum postmodernen Kulturalismus 89 • Sicherheitsimperialismus 103 • Öl- und Gasimperialismus: die Sicherung der strategischen Rohstoffreserven 110

DER NAHE OSTEN UND DAS ANTISEMITISCHE SYNDROM
Kapitalistische Verbrennungsreligion und Ölregimes 114 • Der Antiimperialismus und die antisemitische Krisenideologie 118 • Der Staat Israel und sein paradoxer weltkapitalistischer Status 126 • Das Ende der „nationalen Befreiungsbewegungen“ und der Spuk der palästinensischen Staatsgründung 129 • Israel als „Alien“ der kapitalistischen Welt und der arabische Neo-Antisemitismus 133 • Vom Zionismus zur Herrschaft der Ultras: Die innere Krise der israelischen Gesellschaft 136

DIE IMPERIALE APARTHEID
Eine Welt voller Flüchtlinge 157 • Ausgrenzungsimperialismus: Mauer und Todesstreifen nach freiheitlicher Art 160 • Die Illusion vom „Wiederaufbau“ 172 • Die Phantom-Ökonomie des humanitär-industriellen Komplexes 178 • Sexuelle Gewalt- und Elendsökonomie 180 • Vom Pufferstaat zum Ethno-Zoo 183

DIE GEMEINSAMKEIT DER DEMOKRATEN
Inländische Ausländer als Humanressourcen 190 • Innere Menschenjagd und Abschiebungsterror 193 • Das demokratische KZ 203 • Zonen des Rassismus 208 • Der demokratische Mob in Aktion 213 • USA: Rassistische Basisidentität und Intergetto-Bürgerkrieg 217 • Synthetische Identitäten und Neo-Rechtsradikalismus 222 • Die Nützlichen und die Unnützen 225 • Die Globalisierung der „Anständigen“ 231

DAS IMPERIUM UND SEINE THEORETIKER
Das Reich und die neuen Barbaren (Jean Christophe Rufin) 240 • Empire – die Krisenwelt als Disneyland der „Multitude“ (Michael Hardt/Antonio Negri) 255

DAS ENDE DER SOUVERÄNITÄT
Al Kaida: eine neue Qualität der postpolitischen Gewalt 273 • Zweierlei Menschenopfer. Zur Theologie der demokratischen Empörung 277 • Nationale Selbstverteidigung als logische Unmöglichkeit 280 • Die totalitäre Macht der Moderne: der Begriff der Souveränität 282 • Politisch-militärische Deterritorialisierung 285 • Alle gegen alle: die anomische Transformation 287 • Der Zusammenbruch des Völkerrechts 294 • Das Bündnis mit den postsouveränen Mächten 297 • Die Privatisierung des Gewaltmonopols 301 • Der moralische Verschleiß der Institutionen und
die Korrumpierung des demokratischen Nomos 303 • Das Ende der Souveränität und die juristische Illusion 305 • Kapitalismus geht nicht ohne Souveränität 314

DER GLOBALE AUSNAHMEZUSTAND
Das demokratische Feme-Tribunal 320 • Das Ende der modernen Rechtsform und die Ideologie der „Legitimität“ 324 • Demokratische Kriegsverbrechen und demokratische Entrechtlichung 327 • Anomischer Sicherheitsimperialismus nach innen 331 • McCarthy lässt grüßen: die demokratische Hexenjagd 333 • Kann denn Folter Sünde sein? 336 • Die Logik des Ausnahmezustands 337 • Zur Geschichte des Ausnahmezustands 340 • Der permanente Ausnahmezustand 343 • Das nackte Leben und der gebrochene Wille: Der Ausnahmezustand als verborgener Nomos der Moderne 345 • Die Schreckenshäuser der Betriebswirtschaft: Kapitalismus als geronnener Ausnahmezustand 351 • Die Verflüssigung des Ausnahmezustands als Verflüssigung der Souveränität 356 • Ausbürgernde Einbürgerung und Elendsbürgerlichkeit 358 • Juden und andere „Überflüssige“: die Struktur der einschließenden Ausschließung 360

DER ANACHRONISTISCHE ZUG
Vulgärmaterialismus und Irrationalität des Systems 365 • Immer wieder Erster Weltkrieg 369 • Historische Geisterfahrer der Neuen Linken 373 • Die radikale Linke als Epochenschläfer 376 • Vom Ölfieber zum Seelenkoller 383 • Deutschland als Weltmacht-Phantom 386 • Immer wieder Zweiter Weltkrieg 389 • Das große Hitler-Spiel 392 • Eine Verschwörungstheorie für intellektuell Arme 400 • Die Globalisierung der „deutschen Ideologie“ 404 • Nach dem 11. September: das letzte Stadium des anachronistischen Denkens 406

VOM WELTORDNUNGSKRIEG
ZUM ATOMAREN AMOKLAUF?

Die Rückkehr zum Paradigma der „Schurkenstaaten“ 414 • Die Krise der Finanzmärkte und der „Traum vom Öldorado“ 419 • Der atomare Todestrieb der Macht 425 • Für eine Renaissance radikaler Gesellschaftskritik 434

LITERATUR 440
Über den Autor 447

Erschienen ist das Buch im Horlemann-Verlag