Welche politische Bedeutung hat der Antisemitismus heute?

von
Franz Naetar

Die Debatte über Antisemitismus und Antiamerikanismus: was wir in diesem Artikel nicht behandeln.

Überfälle und Beschmieren von Synagogen, geschändete jüdische Friedhöfe, Leugnung jeder Verbindung zwischen Antisemitismus und Antizionismus, das Reden von der „Ostküste“ und ihrer Macht, mit der auf den jüdischen Einfluss oder auf eine jüdische Verschwörung angespielt wird, scheinen zu bestätigen, dass der Antisemitismus in den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen wieder an Bedeutung gewinnt.

In der liberalen und rechten Presse wird darüber debattiert, ob eine Kritik an der Politik des israelischen Staates und in welcher Form zulässig ist und wann sich darin Antisemitismus ausdrückt und welche Verbindung es zwischen Antisemitismus und Antiamerikanismus gibt.

In der aktiven extremen Linken führt (zumindest in Deutschland und Österreich) die Auseinandersetzung über die politische Lage im Nahen Osten, die Einschätzung der Rolle Europas und Deutschlands zu erstaunlichen Erscheinungen: So wird etwa in der Zeitschrift „Bahamas“, die eine extreme Form „antideutscher“ Positionen vertritt, in einer Erklärung vom 10.4.2003 Georg Bush zu seinem „Sieg“ im „antifaschistischen Krieg“ gegen den Irak gratuliert, werden die israelischen Kritiker der Sharon-Politik als defaitistisch denunziert, während in anderen linken Kreisen die bedingungslose Unterstützung des antiimperialistischen Kampfs der Palästinenser unverändert seit 30 Jahren auf der Tagesordnung steht.

Aber auch in linken Alltagsdiskussionen, die weniger von den Extremen der Debatte im Umfeld der Antideutschen gezeichnet sind, gibt es gravierende Unterschiede in der Einschätzung der politischen Situation und insbesondere des Antisemitismus und seiner Bedeutung. Während in Teilen der Linken – zum Teil gestützt auf eigene oder berichtete Erfahrungen als Jude - Befürchtungen für einen weltweiten Anstieg des Antisemitismus geäußert werden und die verlogene Beweihräucherung der humanitären Errungenschaften Europas und der Antiamerikanismus heftig kritisiert und in ihm ebenfalls ein Zeichen des steigenden Antisemitismus gesehen werden, hat sich für andere Linke wenig geändert, außer dass US-Imperialismus noch aggressiver wird. Die Verbindung zwischen Antisemitismus und Antiamerikanismus wird empört zurückgewiesen.

Insgesamt zeigen diese Debatten in meinen Augen, dass nach dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ und der Veränderungen der Ausbeutungsregimes auf der ganzen Welt in allen ihren ökonomischen und staatlichen Formen gerade in der Linken die große Verwirrung eingekehrt ist. Gewissheiten sind zusammengebrochen und mancherorts wird versucht, so schnell als möglich neue Gewissheiten aus dem Boden zu stampfen. 

In der grundrisse-Redaktion herrscht neben den oft sehr unterschiedlichen Einschätzungen konkreter Politik – oder vielleicht gerade deshalb - die gemeinsame Sicht vor, dass gerade in dieser Zeit der Verwirrung der Blick aus verschiedensten Perspektiven auf die Welt und uns notwendig ist und die Offenheit der Debatte (wieder)gewonnen werden muss. 

Ich werde in diesem Artikel bewusst nicht auf die derzeitige in Teilen der deutschsprachigen Linken laufende Polemik Antideutsch gegen Antiimperialistisch (in allen Schattierungen) eingehen. Der Grund ist ganz einfach: was an Substanz in den Analysen fehlt, wird durch verbale Kraftmeierei und Totschlagargumentation ersetzt. Statt theoretische Einsicht und praktische Handlungs­fähigkeit zu gewinnen, werden substanzlose Polemiken verschärft. Auch findet diese Debatte fast ausschließlich in Deutschland und Österreich statt und würde in anderen Teilen der Welt – wenn die davon wüssten – auf ungläubiges Staunen treffen. Die diesen Debatten zugrunde liegende Verwirrung und Ratlosigkeit ist allerdings auch in anderen Ländern vorhanden.

Was nun die Entwicklung von Rassismus und Antisemitismus nach dem zweiten Weltkrieg, nach dem Holocaust und insbesondere nach dem Ende des kalten Krieges betrifft, so fehlt meiner Meinung nach zur Zeit eine Analyse und politische Intervention, die den Zusammenhang mit den kapitalistischen Produktions­verhältnissen herstellt, ohne ihn ökonomistisch zu verkürzen und der auch in der Lage ist, die historisch-politischen Zusammenhänge in den verschiedenen Ländern darzustellen. Daran kann dieser Artikel nichts ändern. Er versucht verstreute Ansätze, die den Antisemitismus in den Zusammenhang unseres internationalen kapitalistischen Weltsystems stellen, kritisch dazustellen, auf Lücken und Auslassungen in den Analysen hinzuweisen und die Aufmerksamkeit auf einige neuere und ältere Erscheinungen zu lenken.

Gewinnt der Antisemitismus wieder an Bedeutung?

Auf der Ebene des persönlichen Vorurteils und in soziologischen Untersuchungen über dieses Vorurteil scheint der Rassismus gegenüber Juden im Verhältnis zu anderen Rassismen zumindest in Europa eine geringere Bedeutung zu haben. So ergibt eine 1996 in Deutschland durchgeführte Umfrage, dass 11 Prozent der westdeutschen JüdInnen aus der deutschen Gesellschaft ausgrenzen möchten, dass aber diese Zahl 33 Prozent für TürkInnen und 42 Prozent für AsylbewerberInnen beträgt. Allerdings deuten neuere Untersuchungen auch an, dass der Antisemitismus (wieder?) im Ansteigen begriffen ist: Eine vom Sigmund-Freud-Institut durchgeführte Erhebung unter West- und Ostdeutschen kam zu dem Ergebnis, dass 1999 20 Prozent dem Satz „Ich kann es gut verstehen, dass manchen Leuten Juden unangenehm sind“ zustimmten, während im April 2002 diese Zahl auf 36 Prozent angestiegen ist. (Demirovic, S24)

Nun hängen die Resultate solcher Befragungen zum Teil vom zum Befragungszeitpunkt aktuellen politischen Umfeld ab und können schon deshalb stark schwanken. So hätte eine ähnliche Frage in Österreich vor, während und nach der Waldheimdebatte wahrscheinlich stark schwankende Ergebnisse geliefert. Auch sind diese persönlichen Vorurteile in verschiedenen Schichten in unterschiedlichen Richtungen schwankend. Die offenen Antisemitismen eines Borodajkewycz zu Beginn der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts wären 2003 auf der Universität eher unwahrscheinlich, was aber nichts über den Antisemitismus anderer Schichten der Bevölkerung aussagt.

Dennoch meine ich, behaupten zu können, dass der Antisemitismus als politischer Faktor wieder an Bedeutung gewinnt. Der politische Antisemitismus war immer mit Weltverschwörungs­theorien verbunden: Die Erklärung verschiedenster Entwicklungen der Welt aus einer jüdischen Weltverschwörung war eines der Kennzeichen des politischen Antisemitismus[i] seit dem 19. Jahrhundert, die ihn ganz wesentlich von anderen Rassismen und auch vom mittelalterlichen Judenhass unterschieden. Diese Imagination der Juden als die unterirdischen Organisatoren von Bedrohungen hat nun ganz sicher in der Zeit seit dem Zusammenbruch des Ostblocks an Bedeutung gewonnen.

Der Wandel der Bedeutung des Antisemitismus kann am besten anhand der Entwicklung der rechtsradikalen Bewegungen aufgezeigt werden. War bis zum Zusammenbruch des Ostblocks letzterer der Hauptgegner und wurde die USA zwar teilweise mit antisemitischen Ressentiments behandelt (die „Ostküste“), so entwickeln sich diese Gruppen seither in fahnenschwingende GegnerInnen des US-Imperialismus und der „jüdischen Weltverschwörung“ und sogar zu UnterstützerInnen des Iraks im letzten Krieg.[ii]

Interessant in bezug auf Verschwörungstheorien ist, dass praktisch ungebrochen das Machwerk der „Protokolle der Weisen von Zion“, ein Text des europäischen Antisemitismus - von der zaristischen Geheimpolizei fabriziert – als Vorlage für die verschiedenen Verschwörungsüberlegungen dient.[iii]

Folgerichtig kursieren Im Internet die verschiedensten Theorien über jüdische Verschwörungen, unter anderem auch die Theorie, dass der Anschlag auf das World Trade Center von den Juden organisiert wurde, was sich daran zeige, dass fast alle Juden das World Trade Center beim Anschlag schon verlassen hätten.

„Wertvergesellschaftung“ und darauf basierende Theorien zum Antisemitismus und Nationalsozialismus

Ein wichtiger Strang der Debatte über den Antisemitismus steht im Zusammenhang mit der Theorie des kapitalistischen Systems als durch „Wertvergesellschaftung“ bestimmt. Moishe Postone und Robert Kurz sind zwei wichtige Vertreter der auf „Wert­vergesell­schaftung“ beruhenden Theorie des Antisemitismus. Im folgenden werde ich diese Position anhand des Artikels „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ von Moishe Postone präsentieren und teilweise auf Argumente von Robert Kurz in seinem Artikel „Politische Ökonomie des Antisemitismus“, der sich mit der Geldutopie des Silvio Gesell beschäftigt, eingehen[iv].

Postone zieht eine Trennlinie zu Theorien, die den modernen Antisemitismus als „bloßes Beispiel für Vorurteil, Fremdenhass und Rassismus“ behandeln, wobei er als Trennlinie nicht die „Zahl der Menschen, die ermordet wurden“ sieht, sondern dass für den „Holocaust der verhältnismäßig geringe Anteil an Emotion und unmittelbaren Hass (im Gegensatz zu Pogromen zum Beispiel)“ charakteristisch war.[v] Weiters weist er wie viele andere darauf hin, dass die „Ausrottung der Juden kein Mittel zu einem anderen Zweck war“. Sie war „sich selbst Zweck – Ausrottung um der Ausrottung willen“. In den letzten Kriegsjahren wurde ein bedeutender Teil des Schienenverkehrs für den Transport der JüdInnen zu den Gaskammern benutzt. Diese Tatsachen können durch „eine funktionalistische Erklärung des Massenmords und eine Sündenbock-Theorie des Antisemitismus nicht einmal im Ansatz“ erklärt werden. Auch schon vor dem Nationalsozialismus sei der moderne Antisemitismus dadurch gekennzeichnet gewesen, dass die „Juden für die geheime Kraft hinter allen Gegnern, ob plutokratischer Kapitalismus oder Sozialismus, gehalten werden“ und weiters, meint Postone, sei für den modernen Antisemitismus nicht nur sein säkularer Inhalt charakteristisch, sondern auch sein systemartiger Charakter. „Er beansprucht, die Welt zu erklären.“ Im Gegensatz zu anderen, ähnlichen Ansätzen meint Postone dass die Personifizierungen des Juden nicht bloß als „Träger von Geld - wie im traditionellen Antisemitismus“ stattfindet, sondern, dass „die rasche Entwicklung des industriellen Kapitalismus durch den Juden personifiziert und mit ihm identifiziert wird“. Er wird für ökonomische Krisen verantwortlich gemacht und mit gesellschaftlichen Umstrukturierungen und Umbrüchen identifiziert, die mit der raschen Industrialisierung einhergehen: Explosive Verstädterung, der Untergang von traditionellen sozialen Klassen und Schichten, das Aufkommen eines großen, in zunehmendem Masse sich organisierenden industriellen Proletariats und so weiter. Mit anderen Worten: „Die abstrakte Herrschaft des Kapitals, wie sie besonders mit der raschen Industrialisierung einhergeht, verstrickte die Menschen in das Netz dynamischer Kräfte, die, weil sie nicht durchschaut zu werden vermochten, in Gestalt des ‚Internationalen Judentums’ wahrgenommen wurden.“

Postone grenzt sich in diesem Abschnitt von Überlegungen Horkheimers und Nachfolgern ab, die meinen, dass die Personalisierungen sich wesentlich auf die Identifizierung der Juden mit dem Geld und damit auf die Zirkulationssphäre beziehen. Diese Theorien wären nicht imstande „die antisemitische Vorstellung einzufangen, Juden stünden hinter Sozialdemokratie und Kommunismus“.

Um nun die Gründe der Personifizierung des Juden mit den Übeln des Kapitalismus zu erklären, greift Postone auf die Theorie des Warenfetisch im ersten Band des Kapitals von Marx zurück. Nach einer Nachzeichnung einiger zentraler Bestimmung der Marxschen Analyse kommt Postone zu den zentralen Punkten seiner Argumentation:

„Die dem Kapitalismus eigene Form vergegenständlichter gesellschaftlicher Beziehungen erscheint so auf der Ebene der Warenanalyse als Gegensatz zwischen Geld als Abstraktem einerseits und stofflicher Natur andererseits. Die kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen scheinen ihren Ausdruck nur in der abstrakten Dimension zu finden - etwa als Geld und als äußerliche, abstrakte, allgemeine ‚Gesetze’...

Formen antikapitalistischen Denkens, die innerhalb der Unmittelbarkeit dieser Antinomie verharren, tendieren dazu, den Kapitalismus nur unter der Form der Erscheinungen der abstrakten Seite dieser Antinomie wahrzunehmen, zum Beispiel Geld als ‚Wurzel allen Übels’. Dem wird die bestehende, konkrete Seite dann als das ‚natürliche’ oder ontologisch Menschliche, das vermeintlich außerhalb der Besonderheit kapitalistischer Gesellschaft stehe, positiv entgegengestellt. So wird - wie etwa bei Proudhon - konkrete Arbeit als das nichtkapitalistische Moment verstanden, das der Abstraktheit des Geldes entgegengesetzt ist. Dass konkrete Arbeit selbst kapitalistische gesellschaftliche Beziehungen verkörpert und von ihnen materiell geformt ist, wird nicht gesehen.“

Im weiteren Fortgang der Analyse versucht nun Postone einen Zusammenhang des Scheins von Konkretheit im Warenfetischismus mit den Theorien über „Natur“, „Rasse“ und „Blut“, wie er im 19. Jahrhundert entsteht, in Zusammenhang zu stellen, wobei bei den Nazis zu Blut und Rasse noch die Maschine kommt, die von diesen ebenfalls „als Gegenprinzip zum Abstrakten“ gesehen würde. (Weshalb die Nationalsozialisten Romantizismus, Blut und Boden und Maschinenbewunderung vereinigen konnten.) Die abstrakte Seite würde von diesen „Antikapitalisten“ einseitig als „abstrakte Vernunft, das abstrakte Recht und, auf anderer Ebene, als das Geld- und Finanzkapital“ angegriffen, ohne dass die „geschichtlich-praktische Aufhebung des Gegensatzes“ (beider Formen der Ware) als die „wirkliche Überwindung des Abstrakten“ erkannt würde. Nicht genug damit diese abstrakte Seite anzugreifen, würden die AntisemitInnen diese abstrakte Seite der Wertvergesellschaftung im Juden vergegenständlichen: „So wird der Gegensatz von stofflich Konkretem und Abstraktem zum rassischen Gegensatz von Arier und Jude. Der moderne Antisemitismus besteht in der Biologisierung des Kapitalismus – der selbst nur unter der Form des erscheinenden Abstrakten verstanden wird - als internationales Judentum.“

Weiters beschäftigt sich Postone damit, warum gerade die Juden sich zu der oben beschriebenen Personifizierung eignen konnten. Leider wird dieser Aspekt nur kursorisch behandelt. Neben den historischen Aspekten sieht Postone in den ambivalenten Formen der Nation eine Ursache, warum gerade die Juden für diese Personifizierung geeignet seien. Die Nation werde nämlich einerseits rein politisch betrachtet, in Form der vor dem Gesetz gleichen Staatsbürger, andererseits aber werde sie auch immer als durch eine gemeinsame Sprache, Geschichte, Tradition und Kultur bestimmt gesehen. „In diesem Sinne erfüllten die Juden nach ihrer politischen Emanzipation als einzige Gruppe in Europa die Bestimmung von Staatsbürgerschaft als rein politischer Abstraktion. Sie waren deutsche oder französische Staatsbürger, aber keine richtigen Deutschen oder Franzosen. Sie gehörten abstrakt zur Nation, aber nur selten konkret. Sie waren außerdem noch Staatsbürger der meisten europäischen Länder.“ Das gestattete es, die „Juden als wurzellos, international und abstrakt“ anzusehen.

Letztlich meint Postone auf diese Art und Weise den „Nazismus als verkürzten Antikapitalismus“ verstehen zu können. Für ihn ist das Ende der Roehm-Clique, die von vielen als Zeichen gewertet wurde, dass der Nationalsozialismus seine antikapitalistische Propaganda beendete, nachdem er die Macht ergriffen hatte, keinesfalls das Ende des verkürzten Antikapitalismus der Nazis. Der antisemitische Hass der Nazis auf das Abstrakte – der verkürzte Antikapitalismus -  finde seinen letzten Ausdruck in der Vernichtung der Juden in  Auschwitz. „Auschwitz, nicht die ‚Machtergreifung’ 1933, war die wirkliche ‚Deutsche Revolution’ - die wirkliche Schein-‚Umwälzung’ der bestehenden Gesellschaftsformation. Diese Tat sollte die Welt vor der Tyrannei des Abstrakten bewahren. Damit jedoch ‚befreiten’ die Nazis sich selbst aus der Menschheit.“ Moishe Postone geht in diesem Text konsequent bis zum bitteren Ende: Aus dem Fetischcharakter, den der Warentausch annimmt, wird direkt Auschwitz erklärt.

Robert Kurz behauptet in seinem Papier „Politische Ökonomie des Antisemitismus“ zur Geldutopie von Silvio Gesell nicht, die Ausrottungspolitik der Nazis erklären zu können. Er meint allerdings, die Geldutopie von Gesell als antisemitisch analysieren zu können. Gesell versuchte in seinem Hauptwerk „Die natürliche Wirtschaftsordnung“, das er 1911 schrieb, Vorschläge für eine Reform des Kapitalismus zu machen, die Krisen und Arbeitslosigkeit verhindern sollten. Seiner Meinung nach besteht der Grund für Krisen und Arbeitslosigkeit in der Tatsache, dass Geld nicht altert. Gesell schlägt deshalb vor, dass alle umlaufenden Geldscheine (und liquiden Bankguthaben) in der Größenordnung von ca. 5 Prozent jährlich automatisch einer Entwertung unterliegen („Schwundgeld“). Sie behalten ihren Nennwert nur, wenn sie periodisch mit einer entsprechenden Wertmarke beklebt oder gegen Gebühr abgestempelt werden. Durch diese Maßnahme soll in Zukunft auch das Geld bestimmten ‚Durchhaltekosten’ unterliegen, so dass die GeldbesitzerInnen ihren Vorteil gegenüber den BesitzerInnen von Waren und Arbeitskraft verlieren. Alles Geld hingegen, das im Bankensystem als Spargeld längerfristig deponiert wird und als Basis für zinslose Kredite dient, soll von diesem ‚Rost’ oder ‚Schwund’ des umlaufenden Geldes ebenso automatisch verschont bleiben.

Kurz und andere beschäftigen sich mit Gesell deshalb, da weltweit ein Anstieg von Versuchen zu beobachten ist, mittels Tauschringen und anderen Formen sich der kapitalistischen Krise zu entziehen und es eine Reihe von Büchern gibt, die Theorien von Gesell mit mehr oder weniger großen Modifikationen aufwärmen. So gibt es z.b. in Österreich angeblich über 40 Gesellianer Tauschringe, fünf davon in Wien. Was uns hier interessiert, ist allerdings nicht die Kritik der Vorstellungen Gesells und seiner Nachfahren, sondern warum diese Konzepte als „Politische Ökonomie des Antisemitismus“ gekennzeichnet werden. Die Argumentation bleibt dabei der von Postone sehr ähnlich: Für Kurz ist die Kritik Gesells am Kapitalismus „verkürzt“ (was nicht zu bestreiten ist) und bleibt den fetischisierten Formen des Warentausches voll verhaftet. „Der Hass gegen das zinstragende Kapital, der in der Krise des Geldes bei den Massen der Verlierer begriffslos und unreflektiert zu wuchern beginnt, bildet nicht nur den allgemeinen Nährboden, sondern direkt die ‚ökonomische Grundlage’  von Antisemitismus und antisemitischen Pogromen.“
Und weiter unten: „
Indem ‚Jude’ für die als negativ empfundene abstrakte Seite des warenproduzierenden Systems gesetzt und diese Projektion vulgärökonomisch mit dem zinstragenden Kapital identifiziert wird, brauchen im Prinzip gar keine wirklichen Juden vorhanden sein, um den antisemitischen Reflex auszulösen. Das Phantom dieser kollektiven Psychose ist allgegenwärtig, und im Pogrom ‚materialisiert’ es sich zwar an den jüdischen Gemeinden als Opfern und Sündenböcken; aber notfalls können auch linke Gruppen, liberale Politiker, gesellschaftskritische Schriftsteller, moderne Künstler, Ausländer, andere religiöse Minderheiten usw. vom psychotischen Pogrombewußtsein als ‚Juden’ definiert werden.“

Kurz behauptet nicht, dass die Vertreter der „Politischen Ökonomie des Antisemitismus“ subjektiv Antisemiten sind, was auch bei Gesell schwer nachzuweisen wäre, der zwar alle möglichen rassistischen Theorien vertrat, aber niemals als Antisemit in Erscheinung trat. Dieser ist daher nicht einfach Antisemit, sondern struktureller Antisemit: „Keineswegs geht es darum, etwa Silvio Gesell gegen jede historische Wahrheit zum Hitler-Anhänger und Nationalsozialisten zu stempeln oder jeden Gesellianer bzw. Neo-Gesellianer zum subjektiven Antisemiten. Das Problem liegt auf einer anderen Ebene. ‚Politische Ökonomie des Antisemitismus’ meint, dass es einen strukturellen und historischen Zusammenhang zwischen der verkürzten Kritik des zinstragenden Kapitals und dem Antisemitismus gibt. Ideologisch handelt es sich um die beiden Seiten derselben Medaille, wobei der offene Antisemitismus sozusagen die ‚Kopfseite’ bildet.“[vi]

Drei Punkte der Kritik an den Überlegungen zum Antisemitismus a la Postone und Kurz: Zurechtschneiden der Geschichte

Die Ansätze, den politischen oder modernen Antisemitismus aus der Wertform der Ware zu erklären, hat sicher Elemente, die jede Theorie über den Antisemitismus berücksichtigen wird müssen. Auch Etienne Balibar schreibt in der Sammlung seiner Arbeiten über Rassismus, Nationalismus und Klassenkampf im Zusammenhang mit dem „Klassen-Rassismus“: „Die Personifizierung des Kapitals, eines gesellschaftlichen Verhältnisses, beginnt mit der Gestalt des ‚Kapitalisten’...Aber diese (Gestalt)reicht niemals aus, um den Affekt zu mobilisieren. Darum werden ihm entsprechend der Logik des ‚Überschusses’ andere real imaginäre Züge zugeschrieben: Umgangsformen, Vorfahren (die ‚zweihundert Familien’), ausländische Herkunft, geheime Strategien, rassische Verschwörung (das jüdische Projekt der ‚Weltherrschaft’), usw. Dass diese Personifizierung vor allem im Fall der Juden im Zusammenhang mit der Ausarbeitung des Geldfetischismus geschieht, ist offensichtlich kein Zufall.“ Balibar, S260

Das Vertrackte an der Werttheorie des Antisemitismus ist, dass er alle Phänomene vom politischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts bis zum Nationalsozialismus aus dieser einfachen Analyse zu gewinnen glaubt. Schon die Erklärung mit der Postone zu berücksichtigen versucht, dass der Feind nicht nur der Jude in Gestalt des Kapitalisten, sondern auch in der des Sozialisten ist, indem eine Verbindung zu allen Übeln der Moderne eben auch des Sozialismus hergestellt wird, scheint bei den Haaren herbeigezogen. Vollends unerklärlich wird aber, warum die Nazis nicht nur die Juden, sondern auch die Roma, Homosexuelle und „unwertes Leben“ ausrotteten. Dass auch die polnische politische Intelligenz zu einem Zeitpunkt planmäßig ausgerottet wurde, als diese den Nazis keinesfalls gefährlich werden konnte? Wo war hier die Wertform? Was in diesen Überlegungen völlig fehlt, ist  die Behandlung der Rassenweltanschauung der Nazis. Um diese umzusetzen sei es bei den JüdInnen, sei es bei den Romas oder bei der Tötung „unwerten Lebens“,  wurde ebenfalls die Rationalität (z.b. den Krieg besser führen zu können) außer Kraft gesetzt.

So wurde trotz Krieg 1944 das Programm der sogenannten „Heuaktion“ durchgeführt, in der 50.000 Kinder mit „gutem Blut“ (das heißt deutschstämmig) in Polen geraubt und nach Deutschland zu Familien gebracht wurden. (Ahrendt, S 547)
So verwahrten sich die Nationalsozialisten energisch gegen den von den Alliierten geäußerten Verdacht, dass das zu Beginn des Krieges befohlene Ermorden der Geisteskranken dem Wunsch zuzuschreiben sei, „sich der unnötigen Mäuler zu entledigen.“ Karl Brandt, einer der mit dem „Programm des Gnadentods“ beauftragten Ärzte verwahrte sich energisch dagegen, es habe sich darum gehandelt überflüssige Esser loszuwerden. Die Maßnahme sei ausschließlich aus „ethischen Gründen“ diktiert gewesen. (Arendt, S 555)

Generell ist völlig unmöglich der Entwicklung des Antisemitismus zum Holocaust der Nazis zu behandeln, ohne die Rolle des Staates und die Entwicklung des Imperialismus und Rassismus in Europa zu berücksichtigen und das Zusammenspiel mit dem Antisemitismus zu betrachten.[vii]

Die Wertvergesellschaftung als das Universalprinzip, das die Geschichte verstehen läßt

Das meiner Meinung nach wesentlich problematischere an den beschriebenen Ansätzen ist, dass aus ihr alle Auseinandersetzungen in der Gesellschaft, alle sozialen Bewegungen und Klassen, alle Antagonismen verschwunden sind. Es gibt ein Prinzip, die Entwicklung der Wertform, die alles erklärt und die sich hinter allen Erscheinungen manifestiert. Auf diese Art und Weise sitzt diese Theorie einem Mechanismus auf, der generell ein Problem einer bestimmten Sicht der Geschichte im Marxismus darstellt. Während in diesem allerdings der Klassenkampf notwenig zum Kommunismus drängt, drängt hier die Wertform den Kapitalismus in den Abgrund. In einem gewissen Sinn hat diese Geschichtssicht vom Klassenkampf bzw. der Wertform etwas mit der Theorie des Rassismus gemeinsam nämlich, dass die Geschichte einen verborgenen und den Menschen (von der Theorie) enthüllten „Geheimnis“ entspringt, das die unsichtbare Ursache des Schicksals der Völker und Gesellschaften sichtbar macht.

Die Theorie des Rassenkampf hat meist eine pessimistische Sicht der Entwicklung – die Rassen degenerieren, die sie mit der klassischen Theorie des Klassenkampfs nicht teilt. Wie Etienne Balibar schreibt, „zieht der historische Pessimismus ein voluntaristisches bzw. dezisionistisches Politikverständnis nach sich: allein eine radikale Entscheidung, die den Gegensatz von reinem Willen und Selbstlauf der Dinge ... zum Ausdruck bringt, kann die Dekadenz aufhalten oder sogar umkehren. Daher die gefährliche Nähe zum Marxismus (und, allgemeiner, zum Sozialismus), wenn dieser in seiner Darstellung des historischen Determinismus bis zur ‚Zusammenbruchstheorie’ geht, die ihrerseits eine ‚dezisionistische’ Revolutionsauffassung verlangt.“ (Balibar, S83) Nun soll hier nicht die Bedeutung der Wahrheit einer Theorie heruntergespielt werden. Wichtig ist es aber, darauf hinzuweisen, was letztlich die Projektionen des Rassismus von linken Theorien über die Gesellschaft unterscheiden muss. Die Theorie muss nämlich wie Balibar schreibt, „über die historische Konstituierung der sich bekämpfenden Kräfte und Kampfformen“ Auskunft geben und die Theorie muss gestatten über die Darstellung des Verlaufs der Geschichte kritische Fragen zu stellen. Den oben beschriebenen Theorien fehlen aber gerade alle Ansätze über die historische Konstituierung der sich bekämpfenden Kräfte. Nur mit solchen Darstellungen kann eine Analyse des Antisemitismus gestatten, die gegenwärtige Situation besser zu verstehen.[viii]

Struktureller Antisemitismus, oder: ist eine Kritik am Finanzkapital antisemitisch?

Kurz verwendet in seinem Papier über Gesell den Begriff des strukturellen Antisemitismus, der sich in einer verkürzten Kapitalismuskritik auch von Leuten ausdrücke, die subjektiv jede Art von Antisemitismus von sich weisen würden. In diesen Zusammenhang werden in manchen Artikeln auch Positionen von Attac wie die Einführung der Tobin Steuer – das heißt eine Besteuerung von Finanztransaktionen zur Verringerung des spekulativen Handels auf den Finanzmärkten – als strukturell antisemitisch bezeichnet. Ich halte solche Bezeichnungen für nicht ungefährlich und schädlich für die politische Debatte. Für nicht ungefährlich deshalb, weil hier an so etwas wie eine Theorie einer „objektiven AntisemitIn“ gearbeitet wird. Überlegungen, Vorschläge und Gedanken zur Reform und Änderung der aktuellen Situation als objektiv das und jenes zu bezeichnen, haben in der kommunistischen Bewegung eine unrühmliche Geschichte. Bekanntlich konnte man in ihr sehr schnell als „objektiv im Dienste des Kapitalismus, des Faschismus oder Imperialismus“ diffamiert werden.

Nun wird im Artikel von Kurz explizit dementiert, dass Gesell antisemitisch gewesen sei und dadurch schon zwischen der Intention und der objektiven Wirkung unterschieden. Dennoch bekomme ich den Beigeschmack nicht los, dass hier eine Kritik, nämlich die an den Reformvorschlägen Gesells und seiner Nachfahren, durch die Verbindung mit etwas nach dem Holocaust so abscheuungswürdigen wie dem Antisemitismus diffamiert wird. Dass sich mit einem Wort eine Diskussion erübrigt, denn über antisemitische Positionen diskutiert man nicht.[ix]

Mein Vorschlag wäre deshalb den Begriff des Antisemitismus dort zu verwenden, wo auch subjektiv eine antisemitische Intention und Ideologie vorhanden ist, sei es als geschlossene Theorie, sei es als Element des täglichen Vorurteils [x] Wenn im Zusammenhang mit einer Kritik des Börsen- oder Finanzkapitals oder auch in politischen Zusammenhängen antisemitische Stereotypen verwendet werden, dann sollten sie dort als solche diffamiert und nicht mit leichfertigen objektiven Verknüpfungen die Grenze zwischen antisemitischen Äußerungen und „verkürzter Kapitalismuskritik“ verwischt werden.

Material für weitergehende Debatten über den Antisemitismus

Im folgenden möchte ich mehrere Themen in die Diskussion einbringen, die es wert sind, dargestellt zu werden, und so Material für weitergehende Debatten vorstellen.

Die ChinesInnen in Indonesien und das Pogrom von 1998

Um den Zusammenhang von ökonomischen und politischen Verhältnissen in der Wechselwirkung mit den Tätigkeiten der herrschenden Schichten und einem plündernden Mob anzusehen, ist es informativ ein nicht jüdisches Pogrom näher zu analysieren: das Pogrom an den Chinesen in Indonesien im Jahre 1998 und seine Vorgeschichte. Die ChinesInnen in Indonesien machen ca. 3% der indonesischen Bevölkerung aus. Sie sind  - wie meist bei eingewanderten Minderheiten – keinesfalls homogen. Grob zerfallen sie in zwei Gruppen, den EinwanderInnen von 1644 und den im späten 19. Jahrhundert von den holländischen KolonialistInnen ins Land geholten ArbeiterInnen und „Kulis“. Da den chinesischen IndonesierInnen der Besitz von Land verboten war, wurden sie gezwungen in Berufe zu wechseln, in denen die eingeborenen IndonesierInnen weniger präsent waren, vor allem im Handel. Den HolländerInnen diente die chinesische Volksgruppe als „Vermittlerin“ zur eingeborenen Bevölkerung und die HolländerInnen definierten auch als erste rassistisch ethnische Grenzen zwischen den Volksgruppen und versuchten „Vermischungen“ zu ver- und behindern. Die Kolonialgesetze sperrten die ChinesInnen in eine Art von Ghetto und sie mussten sich auf eine von den HolländerInnen festgelegte Art kleiden. Als im späten 19.Jahrhundert die chinesische Minderheit mehr und mehr ökonomisch erfolgreich wurde und unter anderem auch als GeldverleiherInnen Reichtümer anhäufen konnten, änderten die HolländerInnen ihre Politik und verboten den indonesischen ChinesInnen gewisse ökonomische Sektoren.

Mit dem Ende des holländischen Kolonialregimes, das durch die antikolonialen Kämpfe in Indonesien und in anderen Ländern herbeigeführt wurde, kam die chinesische Volksgruppe in den Ruf – bedingt auch durch seine Rolle während der Kolonisierung – keine wahrhaft nationale Gruppe zu sein und wurde durch gesetzliche Maßnahmen behindert im Handel zu arbeiten und gezwungen ihre Geschäfte an eingeborene Geschäftsleute zu übergeben. 1959 verstaatlichte Sukarno alle holländischen Firmen und Banken. Der Handel blieb dennoch trotz diverser diskriminierende Gesetze stark chinesisch dominiert. 1963 kam es im Rahmen von durch die Inflation bedingten Preiserhöhungen zu den ersten antichinesischen Unruhen, wobei vorerst vor allem chinesische Geschäfte und Wohnungen verwüstet wurden. Auslöser war eine Prügelei zwischen einem chinesischen Unternehmer und einem seiner Arbeiter. Im Machtkampf zwischen Sukarno und dem General Suharto wurden von Seiten Suhartos das Bild der ChinesInnen als einerseits schuld an Preissteigerungen und Krisen und anderseits schuld an den kommunistischen Kämpfen – die indonesische kommunistische Partei war die stärkste in Asien außerhalb Chinas – zu einem Massaker an KommunistInnen allgemein und chinesischen IndonesierInnen im besonderen genutzt. Dieses 1965 stattfindende Massaker waren wie die antijüdischen Pogrome in Osteuropa durch ein Zusammenspiel von herrschenden Gruppen mit dem Mob[xi] gekennzeichnet. Nach dem Massaker wurden alle antichinesischen Gesetze wieder eingeführt und verschärft, gleichzeitig entwickelte sich aber eine mehr oder weniger verdeckte Zusammenarbeit der herrschenden Clique um Suharto und den chinesischen UnternehmerInnen, bei der nicht-chinesische IndonesierInnen im Regelfall als Strohmänner fungierten.

Wie in anderen südostasiatischen Ländern kam es in den 1980 und 1990 Jahren zu einer bedeutenden industriellen Entwicklung, die mit einer Steigerung des Lebensstandards relativ breiter Schichten der Bevölkerung einherging. Bis auf einige antichinesische Zwischenfälle schienen die Angriffe auf die chinesische Minderheit der Vergangenheit anzugehören.

Das änderte sich, nachdem 1997 die Asienkrise ausbrach. Die rasant steigende Arbeitslosigkeit und die Preissteigerungen, welche die Existenz breiter Schichten infrage stellte und die der noch immer weitgehend chinesischen HändlerInnenschicht angelastet wurde, stürzte einerseits das Suhartoregime in die Krise. Andererseits zwang der Währungsfond die Suhartoclique zur Offenlegung der Besitzverhältnisse, die zeigte, dass neun der zehn Konzerne Eigentümer aus der chinesischen Volksgruppe hatten und dass unter den 15 wichtigsten Steuerzahlern 13 chinesische Indonesier waren. Die Massaker von 1998, bei denen über tausend Menschen – in erster Linie chinesische IndonesierInnen - getötet wurden, 2-3000 Geschäfte, über tausend Wohnungen verwüstet wurden und es zu Massenvergewaltigungen an Frauen der chinesischen Minderheit kam, wurden mit Duldung und / oder direkter Organisierung von Kreisen des Militärs durchgeführt. Wie immer bei Pogromen kam es zu einem Zusammenspiel staatlicher oder parastaatlicher Stellen und dem Mob. Wenn man die „Anatomie eines Pogroms“ in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie es Léon Poliakov in seiner „Geschichte des Antisemitismus“ (Band VII) beschreibt, durchliest und mit der Entwicklung in Indonesien vergleicht, findet man viele strukturelle Ähnlichkeiten:

Trotz dieser strukturellen Ähnlichkeiten sollte man sich hüten, daraus einen historischen Determinismus zu machen. In Indonesien war gerade 1965 offen, ob die kommunistische Bewegung im Kampf für ein sozialistisches Indonesien die besondere Stellung der chinesischen IndonesierInnen irrelevant macht, oder ob es den herrschenden Schichten gelingt, die kommunistische Bewegung niederzuschlagen und dafür die chinesische Minderheit zu benutzen. Jedenfalls zeigt dieses Beispiel, dass es eine wichtige und schwierige Aufgabe ist, in Zeiten der Krise und auch des Aufstands Personalisierungen sozialer Rollen zu verhindern

Judenhass, Antisemitismus und der Nationalsozialismus

Postone und andere unterscheiden meiner Meinung nach richtig den traditionellen Judenhass und den modernen oder politischen Antisemitismus. Es bedurfte der Entwicklung des kapitalistischen Systems, um den modernen, politischen Antisemitismus entstehen zu lassen. Wie Hannah Arendt zeigt, gab es im politischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts zwar mehr oder weniger Elemente des ganz elementaren Judenhasses, aber im Regelfall wurden die Juden in ihrer meist imaginierten Rolle im Staat und in der Ökonomie angegriffen. Um sich den Unterschied zwischen Judenhass und politischem Antisemitismus bewusst zu machen, ist es nützlich, eine beinahe vergessene Episode des Antisemitismus zu betrachten. Am 30. November 1918 erschien in New York ein Bericht mit dem Titel „Bolshevism and Judaism“, der die weltweit am meisten gelesene Beschreibung einer jüdischen Weltverschwörung nach den „Protokollen der Weisen von Zion“ werden sollte. Dieser Bericht stammt aus der Feder eines russischen Flüchtlings und war über den britischen Geheimdienst in die amerikanische Botschaft zu US-Staatsekretär Lansig gelangt. Der Bericht behauptete, dass der Beschluss zum Sturz des zaristischen Regime am 14. Feburar 1916 im jüdischen Wohnbezirk von New York durch eine Gruppe von Revolutionären getroffen wurde. Als Beweis führte der Bericht eine Liste von 31 führenden Männern an, die Russland regierten und bis auf Lenin alle Juden waren. Der Bericht machte in kürzester Zeit eine Reise um die ganze Welt. In den USA wurde er in den Zeitungen Henry Fords, der „Morning Post“ und dem „Dearborn Independent“ übernommen. Generell war die Zeit durch heftige Klassenkämpfe gekennzeichnet. So fand 1919 z.B. zur gleichen Zeit ein aufsehenerregender Streik der TextilarbeiterInnen statt, die zu einem großen Teil JüdInnen waren. Im März 1919 kündigte die „New York Times“ an, dass die „Roten“ damit rechnen, sich in naher Zukunft der Staatsgewalt zu bemächtigen. In diesem Zusammenhang kam es zu einem Senatshearing mit dreißig Zeugen, die zum Teil die russische Revolution begrüßten, zum Teil behaupteten, dass die ganz russische Revolution von JüdInnen organisiert würde. Pater Simons, der Delegierte der MethodistInnen in Russland gab zu Protokoll, dass Hunderte AgitatorInnen, die Trotzki-Bronstein Folge leisteten, aus der East Side von New York kämen.

Am nächsten Tag machte die New York Times mit folgender Schlagzeilen auf: „Die roten Agitatoren dieser Stadt an der Macht in Russland; die ehemaligen Bewohner der East Side sind im großen Unfang verantwortlich für den Bolschewismus, sagt Dr. Simons.“ Im Fortgang der Entwicklung wird dieser Bericht dann zusammen mit den „Protokollen der Weisen von Zion“ in den Ministerien in Umlauf gesetzt. Trotz der Versuche der jüdischen Community diese „Anschuldigungen“ zurückzuweisen, hatte diese Kampagne Folgen. 1921 wurde für jede Nation eine Einwanderungsquote von 3% festgelegt, was jüdischen EinwanderInnen den Riegel vorschieben sollte und in Jobangeboten wurde verlangt, die Religion angeben zu müssen.

Einer der aktivsten Propagandisten der Theorie der jüdischen Weltverschwörung war Henry Ford. Nachdem die oben erwähnten Artikel erschienen waren, begann er in seinem Wochenblatt, dem „Dearborn Independent“, mit einer Artikelserie über die weltweite jüdische Macht, die von einer Organisation namens All-Judaan ausgeübt würde: „All-Judaan hat seine Vize-Regierungen in London und New York. ..es ist im Begriff, die anderen Nationen zu erobern. Es besitzt schon Großbritannien, Russland kämpft noch.“ Einige Wochen später begann die Zeitung, die „Protokolle“ abzudrucken und versuchte gleichzeitig in der Mongolei, die hebräischen Originale der „Protokolle“ zu finden. Letztlich verliefen die Versuche Henry Fords, auf breiter Basis eine Theorie der jüdischen Weltverschwörung zu propagieren, im Sand, als sich die jüdischen Organisationen zu wehren begannen und dabei Verbündete in vielen Schichten gewinnen konnten. Henry Ford änderte, nachdem er fürchtete auch geschäftlich Einbussen zu erleiden, 1928 seine Haltung und beschloss mit den jüdischen Verbänden Frieden zu schließen.

Dieses Beispiel von modernem Antisemitismus in der US-Gesellschaft zeigt deutlich, dass vorerst Antisemitismus mit Judenhass wenig zu tun haben muß. Die JüdInnen, verteilt über die ganze Welt mit ihren zum Teil noch familienähnlichen Beziehungen über nationale Grenzen hinweg, sind ein ideales Objekt von Verschwörungstheorien, wenn sie damit auch nicht allein stehen: Jesuiten, Freimauerer, KommunistInnen usw. wurden ebenfalls Ziele von Verschwörungstheorien und JüdInnen, die dann noch KommunistInnen oder Freimaurer sind, regen offensichtlich die Phantasie besonders an. Daneben gibt es in weiten Teilen der Gesellschaft den sozusagen alltäglichen Antisemitismus und Rassismus mit seinen Vorurteilen und Bildern. Die JüdInnen sind feig, aber tüchtig und reden mit den Händen, genauso wie die ItalienerInnen laut sind, Frauenverführer und Singvögel essen. Alle diese Momente können in einer Krise zusammenkommen: der Judenhass kann mit dem politischen Antisemitismus eine gefährliche Kombination eingehen, bei der Pogrome entstehen können. Der Nationalsozialismus muss aber von allen diesen Erscheinungen getrennt gesehen werden. Auch wenn er aus politischem Antisemitismus und Judenhass hervorwuchs und letzteren verwendete, um an die Macht zu kommen.

Postone zitiert richtig Darstellungen der Nazis, in denen diese ihr Rassenprogramm vom Pogrom als antiquiert abgrenzen. In Wirklichkeit wurde das Pogrom von den Nazis sehr wohl verwendet, wenn es dazu diente, die Machtbasis auszuweiten. Beispiele dafür sind leicht zu finden, wie z.b. in Österreich, wo von den Nazis zu Beginn ihrer Herrschaft vor allem in der Reichkristallnacht Pogrome organisiert und durchgeführt wurden. Aber auch in Polen wurde zu Beginn der Besetzung der vorhandene Judenhass der polnischen Bevölkerung in Pogromen ausgenützt, um für die deutschen BesetzerInnen Propaganda zu machen. Um die rassistische Politik der Nazis zu charakterisieren und auch um zu verstehen, wieso z.b. bei der Judenvernichtung durch Eichmann wider die elementare Logik der Kriegsführung verstoßen wurde, müssen erst einmal die Äußerungen Hitlers und andere Führer ernst genommen werden. Ihnen ging es um die Weltherrschaft, basierend auf rassischen Naturgesetzen. Wie Arendt schrieb, waren die Nazis dabei „nicht der Meinung, dass die Deutschen eine Herrenrasse seien, denen die Welt gehöre, sondern, dass sie von einer Herrenrasse geführt werden müssten wie alle anderen Völker, und dass diese Rasse erst im Entstehen sei.“ (Arendt S 637) Diese Aufgabe aber müssen in Jahrhunderten gemessen werden, eine Niederlage im Krieg ist da weniger wichtig als die Ausrottung der Rasse der Juden.

Das Erschreckende, das bei der Lektüre von Hannah Arendt über die „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ klar wird (trotz aller Einwände, die man gegen ihre Theorie der totalen Herrschaft machen kann und muss), ist, dass der Stalinismus durch eben diese Eigenschaft gekennzeichnet war: nämlich die Verteidigung des Landes aufs Spiel zu setzten, um den Terror wüten zu lassen. Die Vernichtung der Kulaken, die Hinrichtung und Deportierung eines großen Teils der kommunistischen Kader und die Ausrottung fast der gesamten Spitze der roten Armee, kostete nicht nur Millionen Menschen das Leben, sondern sie war genauso wenig „funktional“ wie der Holocaust. Aber nicht nur das, die Opfer des Terrors waren genauso „unschuldig“ wie die JüdInnen. Im stalinistischen Terror spielte die Gegnerschaft zum Regime praktisch keine Rolle.

Jedenfalls wurde im Übergang vom modernen Antisemitismus zum Nationalsozialismus eine Grenze überschritten, die sich an vielen Elementen zeigen lässt. Auch die jüdische Verschwörungstheorie anhand der „Protokolle“ wurde von den Nazis in völlig anderer Weise verwendet als von den Antisemiten vor ihnen: In den 20er Jahren waren in Deutschland und Mitteleuropa 100.000 Exemplare dieses Machwerks verkauft worden. Wie in den USA wurden sie zur allgemeinen Judenhetze verwendet. Die Nazis drehten diese Sache um, sie machten daraus ein „Handbuch für die künftige Organisation deutscher und arischer Massen“(Arendt, S568). Die Nazipropaganda präsentierte „den Juden“ als Herrscher der Welt, um versichern zu können, dass „diejenigen Völker, welche den Juden zuerst durchschaut und bekämpft haben, seinen Platz in der Beherrschung der Welt einnehmen werden.“[xii] Die Fiktion einer gegenwärtigen jüdischen Weltherrschaft bildete die Grundlage für die Illusion einer zukünftigen Weltherrschaft der deutschen Rasse. Arendt meint, dass die weite Verbreitung der „Protokolle“ gerade in einer Zeit, in der nur noch Weltmächte die Chance einer souveränen Existenz zu haben schienen, die „Protokolle“ umgekehrt als Rezept zur Weltherrschaft gelesen, einen Ausweg anzubieten scheinen, wie durch gute Organisation trotz der herrschenden Machtverhältnisse die Welt beherrscht werden kann.[xiii]

Der Antisemitismus heute

1988 erschien der Sammelband „Rasse, Klasse, Nation“ von Etienne Balibar und Immanuel Wallerstein. Dieses Buch gilt unter Linken als eines der Standardwerk für die Einschätzung des modernen Rassismus, das heißt über den Rassismus nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus. Bemerkenswert in Bezug auf unsere Frage ist, dass in dem Buch der Antisemitismus nur als eine besondere Form des Rassismus vorkommt und an ihm die im Buch behandelt Themen wie Verbindung von Nationalismus und Rassismus in seinem Extrem gespiegelt werden. Z.B. behandelt er die Gleichsetzung von Rassismus, Antisemitismus und Nazismus unter dem Aspekt, dass damit der rassistische Charakter der Politik gegen die MigrantInnen als nicht rassistisch bezeichnet werden kann. Die Verbindung des Antisemitismus mit den sich damals in Europa entwickelnden fremdenfeindlichen Bewegungen hat nach Balibar für diese die Aufgabe, den „eigentlich unvorstellbaren Charakter der nazistischen Ausrottungspolitik...als metaphorischen Hintergrund für den Ausrottungswunsch abzugeben, der auch dem antitürkischen oder antiarabischen Rassismus innewohnt.“ (Balibar, S 58) Die brennende Asylantenheime bestätigten diese Einschätzung.

Antisemitismus als eigenständiges Phänomen schien 1988 von geringerer Bedeutung zu sein. Einen wichtigen Einschnitt, der die Situation in dieser Frage geändert haben könnte, ist, wie schon oben erwähnt, dass der Wegfall des Ostblocks es nicht mehr gestattet, wie das vorher war, alle Erscheinungen in den Konflikt zwischen Kapitalismus und dem „kommunistischen Reich des Bösen“ einzuordnen. Die jüdische Weltverschwörung spielte während des kalten Krieges keine bedeutende Rolle.[xiv]

Ein anderer Faktor könnte die „Globalisierung“ sein: die Entstehung eines globalen Empires, dessen Entstehung im Buch von Hardt und Negri versucht wird aufzuzeigen. Die oft anonymen und intransparenten Strukturen des Empire bieten ein weites Feld für Verschwörungstheorien. Die Auseinandersetzung des Empires mit dem internationalen Terrorismus und die antisemitischen Theorien nicht weniger dieser TerroristInnen bilden einen weiteren Punkt, der die neuerliche Bedeutungszunahme der Frage des Antisemitismus erklären könnte.

Wie im Artikel gezeigt wurde, können politische und/oder ökonomische Krisen Antisemitismus und andere Rassismen virulent machen und zu Massakern und Pogromen führen. Das führt uns zu der Frage des Zusammenhangs zwischen rassistischem und antisemitischem Mob und Multitude. Die Multitude ist der Trend zu Widerstand, Aufstand und konstituierender Macht der produktiven Singularitäten, meint Negri. Hat Negri recht oder seine KritikerInnen, die meinen, dass er die nationalchauvinistischen Neigungen des Weltproletariats unterschätzt?

 e-mail: francois.natar@gmx.at

Literatur

Arendt, H. (1962): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Piper Verlag.

Balibar, E. Wallerstein, I. (1990): Rasse, Klasse, Nation, Argument Verlag.

Demirović, A. Bojadžijev, M. (2002): Konjunkturen des Rassismus, Westfälisches Dampfboot Verlag.

Miles, R. Rassismus, (1991): Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs, Argument Verlag.

Poliakov, L. (1979-1989): Geschichte des Antisemitismus, Band I-VIII, Athenäum Verlag.

Anmerkungen

[i] Verschiedene AutorInnen verwenden verschiedene Bezeichnungen, um den Unterschied zwischen dem Antisemitismus seit dem 19 Jahrhundert vom Antisemitismus des Mittelalters zu unterscheiden. Antisemitismus und moderner Antisemitismus (Poliakov), Judenhass und politischer Antisemitismus (Arendt). Mir scheint das letzte Begriffspaar besser geeignet, um den auch im modernen Antisemitismus vorhandenen Judenhass mitdenken zu können.

[ii] In Ungarn war der für seine antisemitischen Hetzereien bekannte Politiker Csurka und seine Bewegung z.b. der einzige, der offen gegen die US Intervention im Irak auftrat. Aber auch bei der FPÖ wäre es interessant zu untersuchen, wie sich ihre Begeisterung über den israelischen Sieg im 6 Tage Krieg 1967 und ihre Hetze gegen die PalästinenserInnen in eine „Unterstützung“ des gerechten Kampfs des palästinensischen Volkes verwandelte.

[iii] Auch in der arabischen Welt gibt es keine „eigene“ Verschwörungsliteratur, sondern es werden die „Weisen von Zion“ gedruckt und gelesen.

[iv] Beide Artikel sind im Internet leicht auffindbar.

Postone: http://www.nadir.org/nadir/aktuell/2002/01/19/8195.html

Kurz: http://www.giga.or.at/others/krisis/r-kurz_antisemitismus_krisis16-17_1995.html

[v] Adolf Hitler, Brief an Adolf Gemlich, 16. 9. 1919, in: Sämtliche Aufzeichnungen, hg. v. E. Jäckel, S. 89: "Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Pogromen. Der Antisemitismus der Vernunft jedoch muss führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte der Juden, die er zum Unterschied der anderen zwischen uns lebenden Fremden besitzt (Fremdengesetzgebung). Sein letztes Ziel aber muss unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein."

[vi] Eigentlich betrachtet Kurz ja die gesamte sozialdemokratische und kommunistische Arbeiterbewegung als strukturell antisemitisch, denn „Eine wirklich radikale Kritik der kapitalistischen Produktionsweise (und nicht bloß der kapitalistischen Zirkulations- und Distributionsweise) müsste dagegen die Wertform als solche, die betriebswirtschaftliche Rationalität und damit die Abstraktionsform ‚Arbeit’ ins Visier nehmen, wovon der Marxismus weit entfernt ist. So erweitert er die in der Politischen Ökonomie des Antisemitismus enthaltene Dämonisierung des zinsnehmenden Geldkapitalisten bloß auf die Figur des Produktionskapitalisten, ohne das Paradigma einer verkürzten Subjektivierung und Soziologisierung des Fetischverhältnisses zu verlassen. Mehr noch: durch diese analoge Verkürzung wurde der Marxismus selber immer wieder anfällig für antisemitische Motive, wovon seine Geschichte reichlich Zeugnis ablegt.“

[vii] Mit „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ von Hannah Arendt liegt ein Werk vor, das diese Verbindung – inklusive auch der stalinistischen Formen der Vernichtungsprogramme – behandelt. Diese nichtmarxistische Autorin legt in diesem Werk eine Analyse der Entwicklung des Antisemitismus, Rassismus  und Imperialismus zum Holocaust und den Formen „totaler Herrschaft“ unter Hitler und Stalin vor, die schon durch die Behandlung eines umfangreichen Materials an historischen Fakten einer tiefgehenden Auseinandersetzung wert wäre.

Dass die Auseinandersetzung mit diesem Buch innerhalb der Linken nicht oder nur in homöopathischen Dosen stattgefunden hat, ist meiner Meinung der Grund, warum die explizit linke Theorie des Antisemitismus derart abstrakt und unzulänglich bleibt.

[viii] Zwei Details dazu, welche Überlegungen eine konkrete, historische Betrachtung der sich konstituierenden und bekämpfenden Kräfte anstellen müsste. Wie Hannah Arendt überzeugend darlegt, war es zu Beginn des politischen Antisemitismus in Deutschland und Frankreich gerade die Identifizierungen der JüdInnen mit dem Staat – den diese zu finanzieren halfen – der nacheinander verschiedene Klassen und Schichten – als erste der Adel – zu politischen antisemitischen Argumentationen greifen ließ. Der Staat kommt aber in der obigen Argumentation überhaupt nicht vor.
Weiters zeigt sie, dass in Deutschland (nicht in Österreich) die einzige Klasse, die im 19. Jahrhundert vor der imperialistischen Entwicklung nicht zu dieser antisemitischen politischen Argumentation fand, das Proletariat war. Nach der Einschätzung von Arendt erklärt sich die relative Immunität der ArbeiterInnen in Deutschland gegenüber den Antisemitismus einerseits aus dem Unglauben mittels des bestehenden Nationalstaates ohne Revolution die gravierenden wirtschaftlichen Probleme lösen zu können(?) und andererseits, daraus, dass JüdInnen in der Kapitalistenklasse, mit der die ArbeiterInnen im täglichen Klassenkampf in der Fabrik zu tun hatte, keinerlei Rolle spielten.

[ix] Dass hier nicht haltlose Vorwürfe gemacht werden, zeigte sich für mich in einer Veranstaltung von Kurz in Wien, wo ein Zuhörer einen Diskussionsbeitrag a la Gesell von sich gab und Kurz statt diese Vorschläge konkret zu kritisieren, den Beitrag als strukturell antisemitisch kennzeichnete und damit die Debatte abwürgte.

[x] In der Diskussion über den Rassismus, vor allem den institutionellen Rassismus, gab es im englischen Sprachraum eine Debatte über den „überdehnten Rassismusbegriff“. Dieser betrachtete nicht nur Ideologien und Bedeutungskonstruktionen, sondern setzte den Rassismusbegriff praktisch mit Ausgrenzungspraktiken gleich. Einer der Gründe für diese „Überdehnung“ war, dass sich immer weniger offen als RassistInnen bekannten und die Rasse in vielen Diskursen durch die Kultur ersetzt wurde, oder überhaupt als „sekundärer Rassismus“ auftauchte, der als Grund für Ausgrenzungen den Rassismus der Masse nannte, der nicht herausgefordert werden dürfe.
Dennoch zeigt Robert Miles in seinem Buch „Rassismus“ überzeugend, dass es richtig ist, die Ideologie des Rassismus von z.b. Ausgrenzungspraktiken zu unterscheiden, obwohl letztere als eine der Ursachen oft Rassismus haben.

[xi] Hannah Arendt zeigt, dass im Frankreich der Dreyfus-Affäre und in den beginnenden faschistischen Bewegungen der Mob, der Träger des Pogroms, sich aus Elementen der deklassierten Mittelklassen zusammensetzte. Aus welche Schichten in Indonesien sich der Mob zusammensetzte, geht aus den Analysen der Pogrome in Indonesien nicht hervor.

[xii] Goebbels-Tagebücher nach Arendt, S 570

[xiii] Ein ähnliches Motiv könnte auch bei der weiten Verbreitung der Protokolle in den arabischen Ländern am Werk sein.

[xiv] Zum Teil setzte die sowjetische Propaganda in ihrer „antizionistischen Argumentation“ auf jüdische Stereotypen. Aber der US-Imperialismus wurde von ihr nicht mit den „Juden der Ostküste“ identifiziert.

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel stammt aus der österreichischen Zeitschrift Grundrisse 
und ist eine Spiegelung von
http://www.unet.univie.ac.at/~a9709070/7antisemitismus.htm