Bericht vom 22. Januar 2019
Auseinandersetzungen um die Rolle der extremen
Rechten in ihr
Die Protestbewegung der „Gelben
Westen“ ist allem Anschein nach nicht tot zu
bekommen, und lässt sich auch durch Emmanuel Macrons
Angebot eines institutionalisierten „Großen
nationalen Dialogs“ bislang nicht eindämmen. Am
vergangenen Samstag, den 19. Januar d.J.
demonstrierte erneut eine größere Zahl von Menschen
in einer Reihe von französischen Städten. Das
Innenministerium sprach im Anschluss von 84.000
Teilnehmerinnen und Teilnehmern in ganz Frankreich,
ein aus den Reihen der Protestbewegung heraus
entstandenes Kollektiv bezifferte sie hingegen auf
147.365.
Wie jede Protestbewegung, bildet
auch diese ein Kampffeld im Ringen um politische
Hegemonie zwischen unterschiedlichen, direkt oder
indirekt an ihr beteiligten gesellschaftlichen und
ideologischen Kräften. Allerdings mit einem
bedeutenden Unterschied. In der Vergangenheit fanden
etwa Hegemoniekämpfe zwischen eher marxistisch und
eher anarchistisch geprägten Kräften statt wie im
Frühjahr 1968, oder zwischen
staatstragend-etablierten Kräften und Strömungen aus
der radikalen Linken wie ebenfalls in der damaligen
und vielen späteren Protestbewegungen. In diesem
Winter dagegen ringen im weiteren Sinne linke Kräfte
mit solchen aus der extremen Rechten um Einfluss auf
die Bewegung oder darum, in der Öffentlichkeit rund
um sie herum als – externe, doch entschlossene –
Unterstützer wahrgenommen zu werden.
Die Erscheinungsformen der
Protestbewegung auf den Straßen und Plätzen selbst
haben ihren Charakter gewandelt. Und dies aus
mindestens drei Gründen, von denen einer mit der
extremen Rechten zusammenhängt.
Zum Ersten war in der Anfangsphase
ein Gutteil der Protestbewegung darauf konzentriert,
bestimmte Verkehrskreisel oder -knotenpunkte,
Kreuzungen, Autobahnauffahrten oder Zubringer über
Tage und Wochen hinaus zu besetzen. Diese Phase ist
jedoch weitgehend vorüber. Seit der vorletzten Woche
im Dezember wurden zahlreiche besetzte Verkehrspunkte
polizeilich geräumt, oder unter der Drohung einer
solchen Räumung aufgegeben. Sicherlich spielte auch
die damalige Feiertagsperiode eine Rolle bei der
Ausdünnung der Präsenz in solchen Örtlichkeit, und
nunmehr die schärfer gewordenen Kältetemperaturen
Zum Zweiten ist die
Protestbewegung seit Anfang Januar von einer
stärkeren Präsenz - in Form von gut, zum Teil besser
als zuvor besuchten samstäglichen Demonstrationen -
in urbanen Zentren wie Paris, Toulouse, Bordeaux,
aber auch Städten wie Lille und Besançon oder Evreux
geprägt. Zwar ist nach wie vor die Bevölkerung
kleiner und mittlerer Kommunen oder Städte – gemessen
an der jeweiligen Einwohnerzahl – stärker als die
urbaner Ballungsräume in dieser Protestbewegung
präsent. Dies war von Anfang an ein Kennzeichen just
dieser Protestbewegung. Doch nunmehr kommen die
Einwohner kleinerer Kommunen in wachsendem Ausmaß in
mittlere und größere Städte, um dort zu
demonstrieren.
Zum Dritten geht damit aber auch
ein Formwandel einher. An den letzten beiden
Samstagen waren etwa in Paris Ordnerdienste –
services d’ordre – zu beobachten, die für
einen mehr oder minder reibungslosen Ablauf der
Demonstrationen sorgen sollen.
Das Problem ist in diesem Falle,
dass an den letzten beiden Samstagen eine Reihe von
Beret (also Soldatenmützen) tragenden Köpfen, die
unzweideutig entweder zu Militärs oder zu dezidierten
Faschisten oder einer Schnittmenge aus beidem
gehören, ausgemacht wurden. Deren Träger hatten sich
freiwillig zu Ordnerdienstzwecken gemeldet. Am 12.
Januar wurden etwa ein Dutzend problematische
Gestalten in Paris ausgemacht und durch
antifaschistische Protestteilnehmer photographiert.
Einer von ihnen wurde mittlerweile als Victor Lenta
identifiziert, ein früherer Aktivist der „identitären
Bewegung“ in Südwestfrankreich (Jungle World 03/19).
Generell bemühen sich bestimmte
rechtsextreme Strömungen, in den letzten Wochen
besonders auch aus dem verschwörungstheorieaffinen
und antisemitischen Spektrum, in jüngster Zeit
verstärkt um Sympathiewerbung in den Reihen der
Protestbewegung oder an ihren Rändern. Am späten
Abend des 22. Dezember wurden in der Linie 4 der
Pariser Métro drei Gelbwesten-Träger beobachtet, die
in der Station Réaumur-Sébastopol zustiegen, in
Richtung Stadtzentrum fuhren und antisemitische
Lieder sangen. Nachdem sie eine ältere, sich als
Jüdin zu erkennen gebende Dame verbal belästigt
hatten und dies durch eine Twitter-Nachricht eines
Journalisten – der nach 23 Uhr im selben Métro-Waggon
gesessen hatte – publik wurde, löste dies am
folgenden Tag einen öffentlichen Skandal aus. Am
Vormittag desselben Samstags hatten etwa fünfzig
Träger gelber Westen am Montmartre-Hügel den, seit
2009 durch den prominenten antisemitischen Agitator
Dieudonné M’bala M’bala popularisierten,
„Quenelle-Gruß“ entboten.
Am 12. Januar kam es in der Nähe
des Arc de Triomphe erneut zu Sprüchen mit
antisemitischer Tendenz seitens von einzelnen
Gelbwesten-Inhaber, denen dieses Mal jedoch andere
Träger gelber Westen unter den Umstehenden explizit
ins Wort fielen und deutlich widersprachen. Die
bislang Zitierten eint eine ausgewiesene Sympathie
für Dieudonné M’bala M’bala, den das Publikum vor
allem unter seinem Vornamen kennt, der auch seinen
Künstlernamen als Comedian bildet.
Und am vergangenen Samstag
Nachmittag fand, allerdings in räumlicher Entfernung
zum Geschehen in Zusammenhang mit der Demonstration,
im südlichen Pariser Vorort Rungis – wo sich die
Großmarkthallen befinden – ein Meeting des
hauptberuflichen Antisemiten und
Dieudonné-Verbündeten Alain Soral statt, an seiner
Seite agitierten u.a. der notorische Auschwitzleugner
Hervé Ryssen und Jérôme Bourbon, Chef der alt- und
neofaschistischen Wochenzeitung Rivarol.
An der Veranstaltung, die unter das Motto „Gelbe
Westen – die kommende Revolution“ gestellt worden
war, nahmen rund 500 Personen teil. Nicht alle Redner
blieben beim Thema. Bourbon etwa landete sehr schnell
beim „Holocaustdogma“, seiner derzeitigen geistigen
Hauptbeschäftigung. Dagegen blieb Yvan Benedetti, der
vormalige Chef der im November 1968 gegründeten und
seit Juli 2013 verbotenen Splitterpartei L’Oeuvre
française („Das französische Werk“) mit offen
antisemitischer Tendenz, näher beim offiziellen
Anliegen. Er bezeichnete sich selbst als „Gelbweste
der ersten Stunde“ und erklärte, froh darüber zu
sein, diese Bewegung zeige „den Zusammenbruch des
Glaubens an die Konsumgesellschaft“. Soral, den am
vorigen Donnerstag ein Pariser Gericht erstmals zu
einer Haftstrafe ohne Bewährung – von einjähriger
Dauer – wegen antisemitischer Schriften verurteilt
hatte, erhielt den meisten Applaus. Er predigte, die
aktuelle Bewegung sei ein Modell für eine Allianz der
arbeitseifrigen Unter- und Mittelklassen.
Die außerparlamentarische, offen
faschistische Rechte, die sich vom Rassemblement
national (RN) als „ins System integriert“
und – wie Alain Soral es am Samstag nannte –
„nationalzionistisch“ verdorben distanziert
und abgrenzt, zählt rund 3.000 Aktivisten. Dies ist
ein Potenzial, das sich bemerkbar macht, jedoch
begrenzte Kräfte aufweist. Der RN als rechtsextreme
Wahlpartei zählt rund zwanzig mal so viele
Mitglieder.
Er entschied sich bislang für eine
Strategie der externen Begleitung der Bewegung mit
Sympathie und Unterstützung, die es ihm jedoch
ersparen soll, eines „Vereinnahmungsversuchs“
angeklagt zu werden. Als Marine Le Pen am vorletzten
Samstag in Paris die Europaparlaments-Liste ihrer
Partei vorstellte, stellte sich heraus, dass entgegen
anderer Erwartungen im Vorfeld kein Protagonist der
„Gelbwesten“-Bewegung auf ihr kandidiert. Le Pen
begegnete Nachfragen dazu jedoch mit der Anmerkung,
ihre gesamte Partei trage gelbe Westen. Bei einer
Veranstaltung wenige Tage später im südfranzösischen
Département Vaucluse kündigte sie an, sie werde die
ihre alsbald überstreifen. Zugleich konzentriert der
RN sich im beginnenden Europaparlamentswahlkampf
jedoch stark auf verbal scharf formulierte
Auslassungen gegen Einwanderung und zieht sich damit
stark auf sein Kernthema zurück.
In den letzten Tagen buhlt Marine Le Pen jedoch
geschickt um das protestwillige Publikum, das
zwischen linken und rechten Angeboten zögert, indem
sie angebliche „Konvergenzen“ – also Annäherungen und
Gemeinsamkeiten – mit dem Linkspopulisten Jean-Luc
Mélenchon unterstreicht, um sich dadurch selbst als
Querfront-Repräsentantin herauszustellen. Mit
Ausnahme der Themen „Ausländer und Muslime“ seien
Annäherung möglich, bei diesen beiden Themen jedoch
ausgeschlossen. Mélenchon reagierte darauf in der
zweiten Januarwoche, indem er hervorhob, seinen
Beobachtungen nach wüchsen im Gegenteil die
„Divergenzen“, beide drifteten also noch weiter
auseinander. Am Montag dieser Woche kam Marine Le Pen
jedoch erneut auf die angeblichen Schnittpunkte zu
sprechen.
Erstveröffentlicht in der Antifa-Rubrik der
Wochenzeitung Jungle World am 22. Januar 2019 |