Interview für die Zeitschrift Avanti, geführt am 27.
01. 2019
Seit November 2018 haben sich
hunderttausende „Gelbwesten“ in Frankreich an
Demonstrationen und Blockaden beteiligt. Über die
Hintergründe dieser Rebellion sprachen wir mit
Bernard Schmid (Paris). Er hat die Proteste von
Anfang mit kritischer Solidarität begleitet.
Auslöser der Bewegung war die angekündigte Erhöhung
der Kraftstoffsteuern aus „ökologischen“ Gründen. Was
sind die Ursachen des massenhaften Zorns?
Die ökologischen Motive waren im
Regierungshandeln ja lediglich vorgeschoben; weniger
als eine Milliarde, von vier Milliarden geplanten
zusätzlichen Staatseinnahmen durch die
Spritsteuererhöhung, wurden für den durch die
Regierung ausgerufenen „ökologischen Umbau“
ausgewiesen. (Und zu diesem selbst gäbe es viel
Kritisches anzumerken, denn der Umstieg auf
Elektroautos wird als „ökologisch“ deklariert – was
überaus fragwürdig ist, denn man denke an den
Ressourcenverbrauch, die Frage der Entsorgung der
Batterien, die Stromerzeugung usw.) In Wirklichkeit
handelt es sich schlicht um die Einführung einer
zusätzlichen Verbrauchsbesteuerung, also die Erhöhung
einer indirekten Steuer, die sich nicht nach dem
Einkommen richtet. Zugleich baut die Regierung unter
Emmanuel Macron und seinem Premierminister Edouard
Philippe seit dem Beginn ihrer Amtszeit im Mai 2017
einkommensprogressive Steuern, aber auch
Sozialabgaben in Unternehmen ab und legt die dadurch
ausfallenden Staatseinnahmen auf einkommensneutrale
Kopfsteuern um. Insbesondere die CSG oder „Allgemeine
Sozialabgabe“. Diese Fiskalpolitik wird, aus guten
Gründen, als ausgesprochen sozial ungerecht bewertet.
Welche
Forderungen stehen jetzt im Vordergrund?
Je nach Strömung (die Bewegung ist
ja heterogen zusammengesetzt); am stärksten und
relativ strömungsübergreifend verbreitet sind:
-
die Forderung nach einem durch
Bürgerbegehren herbeizuführenden Referendum, also
einer Volksabstimmung durch eine Initiative mit
700.000 Unterschriften (RIC oder référendum
d’initiative cityonne);
-
Rücktritt von Präsident Emmanuel Macron;
-
Wiedereinführung der
Vermögensabgabe ISF (impôt de solidarité sur
la fortune), 2017 durch Macron abgeschafft.
Wie
organisiert sich die Bewegung?
Auch das hängt von den örtlichen
Gegebenheiten ab, da die Bewegung uneinheitlich ist.
Zunächst, vor Beginn der eigentlichen Proteste am 17.
November 18, tauschten die Leute sich über Wochen
hinweg über Facebook und über Youtube-Videos aus.
Erst danach, ab Mitte November, trafen die
Betreffenden sich außerhalb des virtuellen Raums.
Zumeist jedoch, vor allem in kleinen und mittleren
Städten, zunächst an (über Wochen hinweg dauerhaft)
besetzten Verkehrsnotenpunkten wie Autobahnzubringern
und Verkehrskreiseln, wo die Leute zusammentrafen.
Seit der Weihnachtspause hat die Zahl solcher
besetzten Örtlichkeiten jedoch abgenommen.
Mancherorts stellten allerdings Kommunen oder auch
Privatleute freiwillig Gelände zur Verfügung.
Ansonsten treffen sich die Leute seit Anfang Januar
d.J. überwiegend bei samstäglichen Demonstrationen.
In einigen Städten finden jedoch zusätzlich unter der
Woche Versammlungen zwecks Organisierung in
angemieteten Räumen statt.
Warum
konnten Macron und seine Regierung trotz massiver
Repression und taktischen Zugeständnissen, bisher
nicht die Kritik „von unten“ zum Schweigen zu
bringen?
Weil sich
ein viel tiefer sitzender Unmut hier Bahn bricht. In
den kleineren Kommunen etwa kommt hier der Zorn über
den seit Jahren, ja Jahrzehnten stattfindenden
Prozess der Abwanderung von Arbeitsplätzen, des
Abbaus von Postämtern, Bahnhöfen, Krankenhäusern,
Geburtsstationen zum Ausdruck. In den kleinen
Kommunen ist diese Bewegung, gemessen an der
Einwohner/innen/zahl, überdurchschnittlich stark.
Hinzu kommt, dass progressive und durch
Gewerkschaften unterstützte Bewegungen in den letzten
Jahren schwere Niederlage einfuhren
(Auseinandersetzung um die Arbeitsrechtsnovelle 2016,
um deren Verschärfung 2017, um die Bahn„reform“
2018). Hier hat die weiterhin schwelende soziale
Unzufriedenheit und Wut nun einen
Kristallisationspunkt gefunden.
Die
meisten Gewerkschaften und viele Linke sind zunächst
auf Distanz zu den „Gelbwesten“ gegangen. Weshalb?
Einmal aufgrund der Präsenz der
extremen Rechten, die von Anfang an ihrerseits
versucht hat, an diese Bewegung anzudocken. Zum
Zweiten reagieren Gewerkschaftsapparate oftmals
skeptisch auf Bewegungen, die außerhalb des
Einflusses ihrer Organisationen entstanden. Dies galt
in der Vergangenheit mitunter auch für erkennbar
progressive Bewegungen (vgl. den CGT-Apparat im Mai
1968!).
Hat
sich an dieser abwartenden Haltung mittlerweile etwas
geändert?
Ja, allerdings. Auf der „unteren“
und „mittleren“ Ebene nehmen etwa Basismitglieder und
ganze Kreisverbände der CGT an den Protesten teil.
Dies gilt eher für Westfrankreich (Rennes, Nantes,
Toulouse), in Ostfrankreich ist das Gewicht der
extremen Rechten in den sozialen Unterklassen
stärker. Die CGT-Spitze wiederum versuchte, den Unmut
und Zorn über eigene „Aktionstage“ außerhalb des
„Gelbwesten“-Zusammenhangs aufzufangen, etwa durch
einen Streikaufruf am 14. Dezember 18, mit geringem
Erfolg. Erneut rief sie für den 05. Februar 19 zum
Streik auf, zunächst eher pro forma. Doch dann
griffen Teile der „Gelbwesten“-Bewegung, und
mittlerweile auch Prominente der Linken (Jean-Luc
Mélenchon von La France insoumise,
Olivier Besancenot vom Nouveau parti
anticapitaliste) diese Initiative auf und
riefen ihrerseits für dasselbe Datum zum massiven
Streik auf.
Welche
Rolle spielt dabei die radikale Linke und
insbesondere die NPA?
Vgl. vorige Frage. (Anm.: NPA ist
im Französischen männlich)
Welche
Perspektiven haben die „Gelbwesten“ für die kommenden
Wochen und Monate?
Das ist eine gute Frage.. Zum
Zeitpunkt des Interviews, Ende Januar 19, dauert
diese Protestbewegung bereits erheblich länger als,
als vielfach vorausgesagt oder erwartet worden war.
Wichtig könnte das oben erwähnte Datum 05. Februar
werden. Und diese Bewegung wird auf jeden Fall Spuren
hinterlassen, viele Personen haben mit ihr zum ersten
Mal in ihrem Leben an einer Protestbewegung aktiv
teilgenommen. Viele Beteiligte wird man auch danach
in Bürgerinitiativen, Demonstrationsbündnissen oder
anderswo antreffen. Ein Teil wird sich auf der
Linken, ein Teil aber auch weit rechts politisieren.
Bereits zum jetzigen Zeitpunkt gibt es auch – in den
Medien viel besprochene - Versuche, eine Wahlliste
unter dem Label „Gelbe Westen“ zur
Europaparlamentswahl vom 26.05.19 antreten zu lassen.
Dieses Anliegen wird jedoch vor allem aus dem
Establishment und aus der Macron-Partei heraus
gepusht, und geht nicht von der Basis aus. Das
Macron-Lager erhofft sich davon eine Schwächung von
Marine Le Pen auf der (extremen) Rechten und von
Mélenchon auf der Linken.
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