B. Schmid: "Gelbwesten-Chronik"

Protestbewegung der „Gelbwesten“ und Listengründungen in ihrem Namen

Bericht vom 14. Februar 2019

Die „Gelben Westen“ und die durch sie verkörperte Protestbewegung bleiben in Frankreich, auch nach drei Monaten ununterbrochener Auseinandersetzungen, das innenpolitische Thema Nummer Eins. Nach wie vor beherrschen sie die parteipolitischen Diskussionen, die Agenda des Präsidenten -seitdem Emmanuel Macron am 15. Januar dieses Jahres die „große nationale Debatte“ als vorgebliche Antwort auf die Proteste startete, füllen seine Debattenauftritte alle vier Tage bei manchen Live-TV-Sendern je sechs bis sieben Stunden am Stück -, die Tätigkeit von bedeutenden Teilen der Polizei und sorgen oft für Schlagzeilen.

Einige Protagonisten sehen sich allerdings bereits als Nachlassverwalter einer Protestbewegung, welche sie durch die Gründung von Parteien oder Wahllisten zu beerben trachten. Bereits vier, im vorgeblichen oder vorgeschobenen Namen der „Gelbwesten“ gegründete Listen sollen zur kommenden Europaparlamentswahl am 26. Mai dieses Jahres antreten. Dabei machen sich viele Karrieristen und Profilneurotiker breit, die ihre Stunde gekommen sehen, um sich in den Vordergrund schieben. Anderen Vertreterinnen darf man hingegen etwas mehr guten Willen unterstellen.

Die Krankenpflegerin Ingrid Levavasseur etwa, die sich als frühere Grünen-Wählerin bezeichnet, als Gründerin einer der putativen Europaparlaments-Wahllisten, drängte sich nicht selbst in den Vordergrund. Ein Fernsehjournalist wurde durch einen Zufall auf sie aufmerksam, als er infolge einer Reifenpanne just an der Stelle zum Halten kam, wo die 31jährige mit den auffälligen, langen roten Haaren sich in der einer Gruppe von Verkehrsblockierern befand. Nachdem sie in eine Fernsehdebatte eingeladen wurde, erwies sich ihr Argumentationstalent in den Augen einer breiteren Öffentlichkeit. Der Star-Fernsehjournalist David Pujadas, der selbst ein fünfstelliges Monatseinkommen bezieht, studierte das monatliche Budget der alleinerziehenden geschiedenen Mutter und stellte vor laufenden Kameras fest, nach Abzug aller erzwungenen Ausgaben wie Miete, Heizkosten und Grundnahrungsmittel blieben ihr gerade zwanzig Euro zum Leben.

Ihre Mitstreiter machen Levavasseur jedoch zu schaffen. Einige von ihnen trafen am Dienstag vergangener Woche (05.02.19) im zentralfranzösischen Montargis mit dem italienischen Vize-Premierminister Luigi di Maio von der Retortenpartei „Fünf-Sterne-Bewegung“ zusammen. Das Treffen rief erhebliche Empörung hervor - bei einigen, weil eine Regierung mit faschistoiden Elementen wie die aktuell in Rom amtierende dann doch als inhaltlich problematisch gilt. Bei anderen Exponenten eher aus methodischen Gründen, weil das Treffen nicht abgesprochen worden und von selbsternannten Führungspersonen durchgeführt worden sei. Christophe Chalençon, der bis dahin bei der Liste für die „Durchführung von Bürgerversammlungen“ zuständig war, geriet in die Kritik. Daraufhin rief er am Montag seine eigene Partei, den Mouvement d’action citoyenne (ungefähr: „Bewegung für Bürgeraktion“), aus. Ob diese realen Erfolg haben kann, steht in den – fünf - Sternen. Chalençon zählt zum erkennbar rechten bis rechtsextremen Flügel innerhalb des heterogenen Protestspektrums. Ende 2018 initiierte er eine Petition, die forderte, den amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron durch einen Militär – den 2017 im Streit mit Macron ausgeschiedenen Generalstabschef, Pierre de Villiers – zu ersetzen.

Die französische Regierung echauffierte sich aus anderen Gründen über die Visite Luigi di Maios, von der die französischen Behörden im Vorfeld keine Kenntnis hatten, und bezeichneten sie als „beispiellose Einmischung in innere Angelegenheiten“. Am Donnerstag berief Frankreich seinen Botschafter in Rom „zu Beratungen“ ab. Manche Beobachter wiesen darauf hin, dies sei zuletzt 1940 passierte, infolge der Kriegserklärung des damaligen Mussolini-Regimes an die Französische Republik.

Aus manchen Kreisen der „Gelbwesten“-Bewegung zirkulieren derzeit noch andere Appelle an auswärtige Regierungen. Auch in linkeren Kreisen geht ein Aufruf um, der die Entsendung „internationaler Beobachter“ fordert, um die Polizeigewalt in Frankreich zu untersuchen oder durch ihre Präsenz einzudämmen. Bei manchen Protestierern, eher auf dem linken Flügel, kann man dies als ironische Aktion in Anbetracht der tatsächlich sehr massiven Polizeiübergriffe einerseits, des militärischen Interventionismus Frankreichs – mit und ohne Legitimation durch die UN – besonders in Afrika andererseits werten. Hingegen wird dies in der lunatic fringe der Protestbewegung, also in jenem Teil, der ebenso Affinitäten zu Verschwörungsthesen wie für Wladimir Putins Regime aufweist, eher als ein Aufruf im Sinne von „Wladimir, hilf!“ aufgefasst. Eine Gruppe von „Gelbwesten“ aus Département Oise, rund fünfzig Kilometer von Paris, plante am vorigen Wochenende, vor der russischen Botschaft in der Hauptstadt „für internationale Hilfe“ zu demonstrieren. Aus Whatsapp- und Mailinggruppen innerhalb der Protestbewegung rief dies aber auch massive Kritik hervor, es wurde still um das Vorhaben.

Einen verschwörungstheoretisch denkenden Narrensaum gibt es jedoch auch weiterhin. Eine Umfrage des Instituts Ifop für die Jean Jaurès-Stiftung und die Organisation Conspiracy Watch – deren Ergebnisse allerdings wenig repräsentativ sein könnten – kam am Anfang dieser Woche zu dem Ergebnis, unter den Anhängern der „Gelben Westen“ seien solche Sichtweisen überdurchschnittlich verbreitet. 18 Prozent der Teilnehmer/innen in einer Querschnittsbefragung hätten sich selbst zu „Gelbwesten“ erklärt, verlautbarten sie dazu, eine größere Gruppe, nämlich 50 Prozent, als „Unterstützer“ derselben. In der ersten Gruppe habe eine signifikante Zunahme der Affinität zu Verschwörungsthesen gegenüber der übrigen Bevölkerung beobachtet, in der zweiten dagegen nicht. 23 Prozent in der erstgenannten Gruppe stimmten etwa der Vermutung zu, das djihadistische Attentat vom 11. Dezember 2018 in Strasbourg könne durch die Regierung inszeniert worden sein. Allerdings ist keinerlei Überprüfung der subjektiven Selbsteinordnung als „Gelbweste“, Unterstützerin oder Nichtunterstützerin möglich, und die Umfrage könnte sehr verzerrte Ergebnisse liefern, wenn ein bestimmtes Potenzial in der Gesellschaft sich einfach selbst als „Gelbwesten“ etikettierte, ohne aktiv zu sein. Eine starke Korrelation scheint zum Medienverhalten zu bestehen; 59 Prozent der erstgenannten Gruppe „informierten“ sich demnach vorwiegend über Facebook und andere social media, und nicht über klassische Medien.

Auf der Straße geht die Bewegung, die sich von jener im Internet erheblich unterscheiden mag, unterdessen weiter. Jeder Protesttag fällt dabei anders aus als der vorhergehende, denn die bedeutende Heterogenität in der Zusammensetzung der Protestkräfte sorgt dafür, dass abwechselnd unterschiedliche Spektren mit unterschiedlichen Aktionsformen in den Vordergrund rücken. Die öffentliche Wahrnehmung der Demonstrationen am vorigen Samstag (09.02.19) in Paris – das Innenministerium spricht von 4.000 Protestierenden auf den Straßen der Hauptstadt, protestnahe Kreise von über 10.000 – wurde etwa stark durch das autonome Milieu geprägt. Diesem gelang es, nachdem die Hauptdemonstrationen mittlerweile, anders als im November und Dezember vorigen Jahres, in der Regel angemeldet werden, seitlich auszuscheren und zu unangemeldeten Demozügen aufzubrechen. An mehreren Sonntagen im Januar hatte ein damals neu auftretender und aus Freiwilligen gebildeter Ordnerdienst, in dessen Reihen mehrere Söldner und militante Rechtsextreme gesichtet wurden, solche Vorgänge zu unterbinden versucht. So lautete jedenfalls seine offizielle Selbstdarstellung, um die Existenz eines solchen Ordnertrupps zu rechtfertigen. Am 02. Februar 19, also vorletzten Samstag wurden allerdings mehrere der damals beteiligten Rechtsextremen, unter ihnen der mittlerweile berüchtigte Victor Lenta, im zwölften Paris Bezirk beim Eintreffen des Protestzugs in die Flucht geschlagen, der frühere pro-russische Ukrainesöldner Lenta musste Fersengeld geben. An jenem Tag beantworteten diverse Antifagruppen die rechtsextreme Attacke auf einen linken Demonstrationsblock in der „Gelbwesten“-Demonstrationen eine Woche zuvor, am 26. Januar d.J.

Inzwischen ist es um diese selbsternannten Ordner eher ruhig geworden. Darauf widmeten sich die Teilnehmer an den autonom-anarchistischen „Spontandemonstrationen“ am Samstag in aller Ausführlichkeit den Geldautomaten und Schaufensterscheiben von Banken und Autos, die ihnen als luxuriös gelten. Auch der Porsche eines hyperprominenten Sternekochs, aber auch ein Fahrzeug der Opération Sentinelle (Operation Wachposten) – der vor allem für Objektschutz eingesetzten Armeeabteilung, die unter dem Ausnahmezustand der Jahre 2015 bis 2017 gebildet wurde – in der Nähe des Eifelturms gingen in Flammen auf. Am Montag gab das Innenministerium bekannt, am Vortag hätten die Sicherheitskräfte einen 25jährigen festgenommen, der ihren Angaben zufolge sowohl für den Brand des Militärfahrzeugs und des Porsches als auch für Schäden an sechs Geschäften oder Banken verantwortlich sei. Er zähle „zur anarcho-libertären Szene“.

In Lyon hingegen versuchten militante außerparlamentarische Faschisten, den innerhalb der Demonstration der „Gelben Westen“ laufenden antirassistischen Block, von hinten her angreifend, auseinander zu sprengen. In diesem Falle misslang ihre Attacke jedoch reichlich. Die Teilnehmer des antirassistischen Blocks bewiesen praktischen Sinn im Umgang mit ihren Transparentstangen, und mehrere militante Faschisten mussten am Samstag Abend (09. Februar 19) in den Notaufnahmen von Lyoner Krankenhäusern behandelt werden. In Toulouse attackierten ebenfalls Rechtsextreme den zur radikalen Linken gerechneten Teil der Protestdemonstration. Ihr Angriff konnte ebenfalls abgewehrt werden, doch wurden dabei je ein Aktivist des NPA – der undogmatisch-trotzkistischen „Neuen Antikapitalistischen Partei“ – und der traditionsmaoistischen Gruppierung Voie prolétarienne (Proletarischer Weg) verletzt.

Aus Sicht des progressiven Teils der Protestbewegung gilt unterdessen der Brückenschlag zu den Gewerkschaften als wichtiges strategisches Moment. Ein solcher wurde am 05. Februar 19 versucht, nachdem sich an einen ersten Aufruf der CGT – zum „landesweiten Streik“, zu dem der Gewerkschaftsdachverband dort aufrief, wo es ihr vom Kräfteverhältnis her möglich erschien – auch Kräfte aus der „Gelbwesten“bewegung angehängt hatten. Der eher als verbalradikaler Draufgänger bekannte KKW-Fahrer Eric Drouet, einer der prominenteren Exponenten der Bewegung, hatte vollmundig zum „unbefristeten Generalstreik“ ab diesem Datum aufgerufen, zu dem es freilich mitnichten kam. Grundsätzlich sind Ankündigungen eines „Generalstreiks“ oft entweder vergebliche Versuche oder aber verbale Kraftmeierei, und der bislang letzte tatsächliche Generalstreik in Frankreich ging Anfang Juni 1968 zu Ende.

Auch Vertreter der parteiförmigen Linken wie Jean-Luc Mélenchon und Olivier Besancenot erklärten ihre Unterstützung für möglichst massiven Streik und Protest an jenem Dienstag, den 05.02.19. Sie verstanden darunter Arbeitsniederlegungen von Lohnabhängigen sowie Straßendemonstrationen. Auf Mailinglisten der „Gelbwesten“ diskutierten unterdessen aber auch reichlich diffuse Aufrufe, in denen sowohl „Arbeiter“ und „Studenten“ als auch „Unternehmer“ zum, wie es hieß, Streik aufgerufen waren.

Real stattgefunden hat eine relative Stärkedemonstration auf den Straßen, mit laut Veranstalter/inne/n 300.000 Teilnehmenden an Demonstrationen in ganz Frankreich – darunter 30.000 in Paris -, das Innenministerium gibt rund die Hälfte an. Dadurch hat die CGT sich als relevanten Akteur des gesellschaftlichen Protests jedenfalls wieder ins Spiel gebracht, nachdem sie seit November eher im Abseits stand, weil sie nicht direkt an die „Gelben Westen“ andocken mochte. In Paris mischten sich unterdessen gelbe Westen, schwarze Vermummungen und rote Gewerkschaftsfahnen in einem Protestzug. Auf der Ebene von Arbeitskämpfe blieb die Mobilisierung hingegen weit dahinter zurück: Einige Zugverbindungen fielen aus, in Städten wie Grenoble – jedoch nicht im Raum Paris – war der Nahverkehr beeinträchtigt, in einer Reihe von Schulen fiel der Unterricht aus. In elf Schulen in Paris und Umland wurde überdies den Rest der Woche über weiter gestreikt. Hingegen war die Privatwirtschaft so gut wie nicht betroffen, und auch in den öffentlichen Diensten hatte es in der Vergangenheit stärkere Streikbewegungen gegeben. Dies dürfte eine große Schwäche des aktuellen Protests bleiben, auch wenn ein gewisser Schulterschluss mit einem Teil der Gewerkschaften – bei gleichzeitigem Ringen um die Hegemonie über den Protest – stattgefunden hat.

Erstveröffentlicht in der Wochenzeitung Jungle World vom 14. Februar 2019