B. Schmid: "Gelbwesten-Chronik"

73jährige bei „Gelbwesten“-Demonstration schwer verletzt, mutmaßlich durch
die Polizei geschubst

Bericht vom 28. März 2019

Obendrauf gibt’s zur Dreingabe Kritik (an ihre Adresse) vom Staatspräsidenten – Sachschadensbilanz der Proteste und repressive Ankündigungen von Regierungsseite.

Was braucht die in ihrem Alter auch zu demonstrieren? So oder ähnlich lautet die Überlegung, welche Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron am Montag dieser Woche suggerierte, als er die schweren Verletzungen der 73jährigen Demonstrantin Geneviève Legay kommentierte. Die Sprecherin von ATTAC in Nizza erhielt einen Schädelbasisbruch,und ihre Überlebenschancen galten zunächst als kritisch, nachdem sie am Samstag (mutmaßlich durch die Polizei geschubst) während einer Demonstration zu Boden gestürzt war. Eine weitläufige Zone rund um die Innenstadt von Nizza war an diesem Tag für Proteste wie die der „Gelben Westen“ verboten worden. Am Flughafen der südfranzösischen Stadt traf einige Stunden später der chinesische Staatspräsident Xi Jinping ein, bevor er mit Macron zu Abend speiste und am Montag, den 25.03.19 nach Paris weiterreiste.

Wenn man körperlich gebrechlich ist, wenn man leicht zu Boden stürzen kann, dann begibt man sich nicht in Situationen wie diese, an Orte, wo es verboten ist”, erklärte Emmanuel Macron dazu. Er wünsche ihr “Genesung, aber auch größere Weisheit”. Ihr Anwalt konterte: „Man schüttet nicht Kritik über jemanden auf seinem oder ihrem Krankenhausbett aus.”

Nicht nur in Nizza zog die französische Staatsmacht am vorigen Wochenende repressive Saiten auf. In Paris wurden mehrere Dutzend Festnahmen vorgenommen. Darunter fiel die eines Mannes, der zuvor gegenüber einem Kneipenwirt in der Vorstadt Massy-Palaiseau geprahlt hatte, er werde einen größeren Schwarzpulverknaller für diesen Tag vorzubereiten – in seiner Wohnung wurden 500 Gramm des Explosivstoffs aufgefunden, er soll jedoch nicht unmittelbar einsatztauglich gewesen sein. Vorläufig festgenommen wurden jedoch auch zwei Personen, die lediglich die Forderung nach einem “RIC” - einer durch Bürgerbegehren angestrengten Volksabstimmung (référendum d’initiative citoyenne), wie sie inzwischen in Teilen der “Gelbwesten”-Bewegung als eine Art Patentrezept gegen alle möglichen gesellschaftlichen Übel gehandelt und gefordert wird – auf einem T-Shirt spazieren führten. (Es setzte eine Geldbuße in Höhe von 135 Euro, das ist die neue Pauschalstrafe für illegales Demonstrieren infolge der jüngsten Gesetzesänderungen, vormals waren es 38 Euro.

Eine Ankündigung der Regierung, die erhebliches Aufsehen und eine dreitägige innenpolitische Polemik hervorrief, bestand darin, eine Einheit der französischen Armee – die Opération Sentinelle (Operation Wachposten), die 2015 infolge der djihadistischen Attentate gebildet wurde und aus rund 10.000 Militärs besteht – werde im Rahmen der Demonstrationen zum Objektschutz eingesetzt. Verteidigungsministerin Florence Parly erklärte zwar beschwichtigend, die Soldaten würden nicht direkt gegen Demonstranten Aufstellung beziehen, doch zeitgleich erklärte der kommandierende General Bruno Leray (militärischer Oberbefehlshaber für das Stadtgebiet von Paris) öffentlich, die betreffenden Militärs könnten im Bedarfsfall von ihren Schusswaffen Gebrauch machen.

Voraus gingen am Wochenende zuvor Sachschäden in Höhe von dreißig Millionen Euro – die den Gesamtschaden im Kontext der „Gelbwesten“-Proteste auf nunmehr, laut Regierungszahlen, zweihundert Millionen Euro aufrunden – aus Anlass des „Akts XVIII“, also des achtzehnten Protest-Samstags in Folge. Dass dabei das Pariser Millionärsrestaurant Le Fouquet’s demoliert wurde, es wird erst in mehreren Monaten wieder öffnen, hätte bei vielen Beobachter in Frankreich wohl eher Schmunzeln hervorgerufen. Problematisch war allerdings, dass zugleich etwa ein Gebäude in Brand gesteckt worden war, um eine im Erdgeschoss liegende Bank anzuzünden, wobei das Feuer jedoch auch auf andere Stockwerke übergriffen. Elf Personen wurde leicht verletzt, eine Mutter und ihr Baby wurden in mehr oder weniger knapper Not aus dem Gebäude evakuiert.

Zu beobachten ist dabei, dass im Rahmen der heterogenen Protestbewegung der kleinbürgerlich-radikale Wutbürgerflügel und ein Spektrum von Autonomen und Insurrektionalisten faktisch miteinander kooperieren. Letztere glauben, die Revolution sei angebrochen, da eine größere Zahl von Umstehenden sie – passiv oder gar mit Sympathiebekundungen – Glasbruch anrichten lässt. Die zornigen Mittelständler nehmen dies in Kauf und betrachten es als mehr oder minder notwendige Verhandlungstaktik, da sie aufrichtige Empörung und Unverständnis darüber empfinden, dass die Regierung nicht mit ihnen verhandeln wolle.

Einen dritten Pol (mit weitaus geringerer Affinität zum Glasbruch) bilden die eher linken sowie gewerkschaftsnahen Kräfte innerhalb des „Gelbe Westen“-Spektrums, das nach wie vor Woche für Woche rund 50.000 Menschen in Frankreich auf die Straßen bringt – erheblich weniger als durch Gewerkschaften initiierte Sozialprotestbewegungen 1995, 2003 oder 2010, aber mit erheblich größerer Bereitschaft zum Sachschaden. Linke Gewerkschaftsflügel unterstützen die Protestbewegung vor allem in westfranzösischen Städten wie Rennes, Nantes und Toulouse. In der letzteren Stadt rief etwa die CGT am vorigen Samstag öffentlich dazu auf, ein über den Rathausplatz verhängtes allgemeines Demonstrationsverbot zu durchbrechen. Landesweit mobilisierten die CGT, Solidaires und weitere Gewerkschaften am Dienstag voriger Woche (19.03.19) erneut, wie zuletzt am 05. Februar, rund 300.000 Menschen zu Demonstrationszügen, unter die sich auch „Gelbwesten“ mischten.

Allerdings geht diese relative Stärkedemonstration auf den Straßen bislang kaum mit relevanten Streikbewegungen einher, mit Ausnahme des Bildungswesens, das vergangene Woche aufgrund sektorenspezifischer Reformankündigungen von Arbeitsniederlegungen erfasst war.

Erstveröffentlicht in der Wochenzeitung Jungle World vom 28. März 2019