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Notwendige Ergänzungen zur Textsammlung Aufruhr & Revolte

Sozialistische Politik, 1. Jhg., Nr.2, Juni 1969, Westberlin, S. 72-75
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Wolfgang Schöller
Tupamaro in Uruguay - Guerrilla im Apparat
 

Montevideo, 12. Februar 69.
Drei Männer und eine Frau betreten durch den Haupteingang die Bank "Finanziera Monty". Mit dem Fahrstuhl gelangen sie zum 4. Stock. Höflich, doch bestimmt, drohen sie dem Personal, knebeln und fesseln es, entwenden die Geschäftsbücher und das vorhandene Geld. Die vier Personen arbeiten präzise Hand in Hand. Jeder hat seine Aufgabe. Sie kennen sich scheinbar bestens aus. Sie wissen, wo die Schlüssel liegen, welche die wesentlichen Aktenordner sind. Auf demselben Weg verlassen sie nach wenigen Minuten ruhig das Haus. Die "Finanziera Monty", eines der vielen obskuren Geldinstitute, hatte offensichtlich kein Interesse daran, Polizei und Presse von dem Vorfall in Kenntnis zu setzen. Die Finanziera Monty schwieg — nicht jedoch die Stadt-guerrilla Tupamaro. Sie ließ der Presse eine Erklärung zugehen, in der sie bekanntgab, daß sie den Banküberfall durchgeführt habe. Die technischen Spezialisten der Tupamaro würden zur Zeit die Geschäftsunterlagen der Finanziera Monty studieren, um die Betrügereien des Geldinstitutes sowie die Korruptheit der Oligarchie und des Staatsapparates zu beweisen. Die Tupamaro würde sodann die gesamten Materialien der Justiz übergeben, damit das bestehende Gesetz seine Anwendung finden könne.
Die bourgeoise Presse suchte den Eindruck zu erwecken, es handle sich um besonders gerissene Gangster oder Pistoleros. Doch in Uruguay weiß man, daß die Tupamaro eine ernsthafte revolutionäre Organisation ist. Die Tupamaro hatte wieder einmal mehr die Oligarchie und ihren Staatsapparat entlarvt. Sie hatte dem Volk den Klassencharakter des bürgerlichen Gesetzes bewiesen.

Organisationsform und Kampfmethode haben es der Tupamaro bisher ermöglicht, ihre Aktionen mit nahezu mechanischer Genauigkeit ablaufen zu lassen.

Organisation

Der Name Tupamaro bezieht sich auf den Inka Tupac Amaru, der im 18. Jahrhundert die letzte große Rebellion gegen die Spanier anführte. Seine Kampfmethode waren die sogenannten direkten Aktionen. Bisher gibt es nur ein offizielles theoretisches Dokument der Tupamaro. Es erschien in der chilenischen Kampfzeitschrift "Punto Final" (1968 Nr. 58). Darin bezeichnen die Tupamaro als das grundlegende Prinzip ihrer Organisation:

"' ... die revolutionäre Aktion an sich, die Tatsache selbst, sich zu bewaffnen, sich vorzubereiten, sich auszurüsten, Dinge voranzutreiben, die die bürgerliche Legalität verletzen, schafft revolutionäres Bewußtsein, Organisation und revolutionäre Bedingungen."

Die Tupamaro zählt etwa 1000 Mitarbeiter und Sympathiesanten, die nach ihrer sozialen Herkunft aus der Mittel- und Oberklasse stammen. Sie ist konspirativ organisiert und arbeitet in Kleingruppen von fünf bis zehn Personen. Die Genossen einer Gruppe wissen voneinander nur wenig. Vom Gruppenleiter kennen sie weder Adresse noch Namen. Die Tupamaro hat Mitarbeiter in allen Berufen und Schichten der Bevölkerung. Sie kann sich auf Militärs, auf Bankbeamte, auf Techniker usw. verlassen.

Guerrilla, eine Methode

Diese Arbeit in hohen und höchsten Stellungen weist schon darauf hin, daß die Tupamaro Guerrilla inhaltlich begreift, als Kampfform, als subversive langangelegte Maulwurfstätigkeit in allen Bereichen der Gesellschaft. Die Guerrilla kann somit zwei Formen annehmen:

  • die Form einer militanten Aktion und
  • die "bewußte" Arbeit im Apparat.

Am Beispiel eines Banküberfalls kann das bedeuten, daß eine Gruppe bewaffnet den Tresor leert, während die Genossen derselben Organisation als Guerrillerosdie Bank von "innen" zu schwächen suchen. Sie fälschen Schecks, lassen wichtige Informationen verschwinden, die für die militanten Gruppen unerläßlich sind und sich für ihre Agitation verwenden lassen.

Die Tupamaros in den Büros und Apparaten liefern Daten und Einzel Informationen aller Art an die Organisation ab, ohne zu wissen, wozu ihre Information konkret dient, für welche Aktion sie verwendet wird. Die Guerrilleros in den Büros tragen nur die Mosaiksteinchen zusammen, ohne das Bild zu kennen, das damit zusammengesetzt wird. Selbst diejenigen, die die Aktion ausführen, wissen bis unmittelbar vor der Aktion nicht, wie dieselbe aussehen soll und mit wem sie zusammenarbeiten werden. Das Personal der ausgeraubten Banken und Casinos bestätigt übereinstimmend, daß die Tupamaro bestens informiert selbst über die kleinsten Dinge präzise und zügig gearbeitet habe. Dieses Höchstmaß an Konspiration und Geheimhaltung ermöglicht es der Tupamaro, trotz verschärfter Repression aktionsfähig zu bleiben. Die Polizei und der CIA vermochten es bisher noch nicht, die Tupamaro zu infiltrieren.

Die Genossen der Tupamaro arbeiten nicht als verlorene Einzelkämpfer in den Apparaten. Sie haben in ihrer Organisation ihre soziale Basis. Die Tupamaro hat ihre Genossen von finanzieller Existenzangst befreien können. Durch mehrere erfolgreiche Bank- und Casinoüberfälle hat sie auf Jahre hinaus ihre Mitglieder aller Geldsorgen enthoben. Sie können so voll politisch arbeiten. Die subversive M au l Wurfstätigkeit ist noch in anderer Hinsicht bedeutsam.

Im Prozeß des revolutionären langwierigen Kampfes werden durch die zweigleisige Guerrillame-thode revolutionäre Spezialisten produziert, die nach dem Sieg die Revolution davon befreien, auf bürgerliche Spezialisten zurückzugreifen. Im Gegensatz zu den Bolschewiki verzichteten die Kubaner auf die vorhandenen bürgerlichen Spezialisten, mußten einen großen Rückschlag in Kauf nehmen, sicherten sich aber die revolutionären Prinzipien. Wenn gerade die revolutionäre Intelligenz hochqualifizierte Berufe erlernt und ausübt, werden durch den Prozeß der Auseinandersetzung gleichzeitig die Bedingungen für das erfolgreiche Überleben der Revolution geschaffen.

Debrays Kritik der Stadtguerrilla und die objektiven Bedingungen

Debray analysiert in "Castrismus, Lateinamerikas Langer Marsch" das Scheitern der Stadtguerrilla von Caracas und stellt generell fest:

"Die politische Umrahmung des bewaffneten Kampfes ist nur auf dem Land zu verwirklichen. Anders gesagt: Verstanden als regelrechte Form des revolutionären Kampfes gibt es keine städtische Guerrilla." (Rowohlt, paperback, Nr. 68 S. 228)

Die Stadtguerrilla von Caracas versuchte in der Stadt selbst Foci zu schaffen und ganze Straßen— blocks zu "befreien". Sozial rekrutierte sie sich aus dem Lumpenproletariat und agierte in den Slums. Ihre leichte Lokalisierbarkeit ließ sie scheitern.

Durch ihre soziale Basis, das Lumpenproletariat, konnte sie für die Bourgeoisie keine ernsthafte Gefahr werden, da das Lumpenproletariat keine produktive Klasse ist und deshalb auch keine ökonomische Macht besitzt. Die ökonomische Macht der Bourgeoisie kann das Lumpenproletariat deshalb nur schwer treffen.

Aus der Erfolglosigkeit der Stadtguerrilla von Caracas zieht Debray den Schluß, die revolutionäre Tätigkeit habe sich aufs Land zu verlegen und müsse von dort geleitet werden. Der Stadt gesteht Debray lediglich helfende und koordinierende Funktion zu. Die Geschichte der castristisehen Guerrillas zeigt jedoch nur zu deutlich, daß das cubanische Modell, die "sierra maestra", nicht auf den Kontinent übertragbar ist.

Die Guerrillabewegungen stagnieren bzw. lösen sich auf. In Kolumbien mußten Guerrillas Deserteure erschießen. In Venezuela vermittelt ein Bischof zwischen christdemokratischer Regierung urld Guerrilleros, um die Rückkehr in die Legalität zu erleichtern.

Che Guevara wollte den Altiplano zur "sierra maestra" werden lassen; es gelang ihm nicht, einen einzigen Campesino zu gewinnen. Von Argentinien bis Mexico blüht die Guevara—Literatur- und die Konterrevolution scheint auch kein Interesse daran zu haben, den Kult am Hl. Che zu unterbinden.

Im Gegenteil: unter den augenblicklichen Bedingungen käme es in den meisten Ländern einem Selbstmord der Linken gleich, wenn sie die Stadt verließe und aufs Land ginge, um dort die "Propaganda der Waffen" zu betreiben. Es liegt vielleicht nichts anderes hinter der unverholenen Duldung des Che—Kults, als die Hoffnung, daß in falscher Rezeption der kubanischen Revolution nur der ein "autentischer Revolutionär" ist, der die Stadt verläßt (wo die ökonomische Macht der Bourgeoisie konzentriert ist) und in die Berge geht.

Die Tupamaro setzt sich bewußt vom castristischen Focus ab, sie weist darauf hin, daß in Lateinamerika das Land zunehmend an Bedeutung verliert: Die Städte wachsen unaufhörlich. Das Verhältnis Stadt — Land verändert sich beständig zugunsten der Stadt. Die gesellschaftliche Reproduktionsbasis hat ihren Schwerpunkt schon in vielen Ländern Lateinamerifcas nicht mehr im Agrarsektor sondern in den Städten und den extraktiven Industrien. (Am deutlichsten zeigt sich diese Verschiebung in Venezuela, Chile und Uruguay)

In Uruguay ist das Verhältnis Stadt — Land am extremsten. Uruguay zählt 2,7 Millionen Einwohner. 70 % der Bevölkerung leben in der Stadt. Montevideo allein hat 1,3 Millionen Einwohner. Die Mehrheit der Bevölkerung gehört zur Mittelklasse, Uruguay galt jahrzehntelang als "europäische Insel", als "lateinamerikanische Schweiz". Der stabile Peso war der Ausdruck einer nahezu 50-jährigen ökonomischen Prosperität. Die parlamentarische Demokratie hatte eine reale Grundlage: den gefestigten, relativ wohlhabenden Mittelstand.

Zu Beginn der 50er Jahre zeigte sich jedoch, daß Uruguay keine "Insel" ist, sondern vielmehr integrierter Bestandteil des internationalen kapitalistischen Systems. Uruguay wurde von der Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus geschüttelt. Die Inflation läßt die Massen verarmen und der Mittelstand verliert seine Grundlage. Arbeitslosigkeit, Proletarisierung und Verarmung des Mittelstandes bilden den Boden, auf dem die Tupamaro operieren kann. Die Tupamaro kritisiert zu Recht, daß Debray in seiner Focustheorie in keiner Weise dieser objektiven Tendenz zur Verstädterung Rechnung trägt.

Die Zentren des Kapitals lägen in der Stadt, weshalb die Bourgeoisie auch ernstlich nur in der Stadt zu treffen sei.

Die Tupamaro versuchen aber nicht wie die Stadtguerrilla von Caracas, Straßenviertel zu "befreien", sondern beabsichtigen vielmehr, durch die zweigleisige Guerrillastrategie die nationalbourgeoisie und imperialistische Infrastruktur zu zerstören.

Das Verhältnis der Tupamaro zu den Massen

Ober ihr Verhältnis zu den Massen sagt die Tupamaro in oben erwähntem Interview:

"Es (das Volk) Will eine Veränderung und muß wählen zwischen der unwahrscheinlichen und weitentfernten Wandlung, die ihm einige qua Proklamationen, Manifesten oder parlamentarischen Aktionen verheißen und dem direkten Weg, den die bewaffnete Gruppe mit ihren direkten Aktionen verkörpert."
" ... abgesehen von der vergeblichen Mühe, die man aufwendet, um eine Partei oder Massenbewegung vor Aufnahme des unmittelbaren Kampfes zu schaffen, muß man doch erkennen, daß der bewaffnete Kampf die Massenbewegung beschleunigt und herbeifuhrt, und das lehrt uns nicht nur das kubanische Beispiel: auch in China entstand die Massenpartei im Laufe des bewaffneten Kampfes. Das heißt, daß die strenge Formel gewisser Theoretiker 'zuerst die Partei schaffen, um dann die Revolution zu lancieren' historisch gesehen mehr Ausnahm en als Bestätigungen kennt. Auf dem gegenwärtigen historischen Niveau kann keiner mehr darüber diskutieren, daß eine bewaffnete Gruppe, wie klein sie auch sein mag, größere Erfolgschancen hat, sich in ein großes Volksheer zu verwandeln, als eine Gruppe, die sich darauf beschränkt, revolutionäre Positionen zu beziehen."

Die Tupamaro fürchtet keinen Umschlag in massenhaften Faschismus, der durch ihre direkten Aktionen hervorgerufen werden könnte. Sie kann davon ausgehen, daß der Mittelstand und erst recht die Arbeiter nicht dasselbe faschisierte Bewußtsein haben wie der europäische Kleinbürger. Es besteht in Uruguay durchaus ein Bewußtsein von imperialistischer Ausbeutung und Abhängigkeit. Jeder weiß von der Korruptheit oder Oligarchie und ihres Staatsapparates.

Die direkten Aktionen der Tupamaro sind vermittelt. Sie werden von den Massen verstanden, da die Tupamaro ihre Aktionen am Bewußtseinsstand der Massen ausrichtet. So zum Beispiel im Fall der "Finanziers Monty". Es ist allgemein bekannt, daß die zahlreichen obskuren Geldinstitute maßgeblich am Verfall des Peso beteiligt sind und betrügerisch arbeiten. Diese Aktion der Tupamaro entlarvte den Justizapparat, der nicht bereit war, die formal bestehenden Gesetze gegen die "angesehenen Persönlichkeiten" anzuwenden. Es wurde demonstriert, daß das Gesetz Ausdruck von Machtverhältnissen ist. Die Justiz muß sich als Klassenjustiz erweisen, wenn sie millionenschwere Betrüger nur leicht bestraft, aber diejenigen, die diese Betrügereien aufdecken, für zehn und mehr Jahre ins Gefängnis werft, sobald sie ihrer habhaft wird.

Obwohl die Aktionen der Tupamaro "autoritär" sind, sind sie doch populär und allgemeinverständlich. Die Tupamaro wußte durchaus zu unterscheiden zwischen Geld, das von Lohnabhängigen verdient wurde und Geld, das von Kapitalbesitz herrührt. So bot sie nach dem Millionenraub im Casino San Rafael an, die Geldeinlage der Angestellten zurückzugeben.

Die Tupamaro meint bezüglich des Massenfaschismus, daß

" ... grundsätzlich die Mehrheit der Bevölkerung, wenn sie auch nicht bereit sei, sich an einem Aufstand zu beteiligen, so jedoch in keiner Weise geneigt sein dürfte, sich für ein Regime zu schlagen, unter dem es leidet."

Die Militärregierungen erfahren einen ständigen Autoritätsverlust. Die "Gorilas" können keine überzeugende Alternative aufzeigen, davon abgesehen, daß auch der Faschismus eine ökonomische Basis braucht.

Die Tupamaro in ihrem Verhältnis zu den übrigen linken Gruppen

Grundsätzlich sieht sie den Unterschied zu den anderen linken Organisationen folgendermaßen: "

Um Militante vorzubereiten und revolutionäre Bedingungen zu schaffen, scheint die Mehrheit der letzteren (der linken Gruppen) eher an Manifeste und die Herausgabe theoretischer Stellungnahmen bezüglich der Revolution zu glauben, ohne zu begreifen, daß es grundsätzlich die revolutionären Aktionen sind, die zu revolutionären Situationen hinführen."

Die direkten Aktionen sollen jeweils von neuem eine Polarisierung innerhalb der Linken herbeiführen, indem die linken Organisationen immer wieder gezwungen werden, sich zu solidarisieren, und sich dadurch selbst weiterzutreiben, oder sich zu distanzieren und damit historisch bald überholt zu sein.

Die Bedeutung der Tupamaro

Das Scheitern Che Guevaras wurde vielfach kritisch analysiert, ohne jedoch eine praktische Alternative zu Debrays Focustheorie aufzeigen zu können. Vielleicht ist die Tupamaro in der Lage, einen gangbaren Weg für die Revolution Lateinamerikas zu erproben. Die Tupamaro beweist, daß es trotz konzentrierter Repression möglich ist, in der Stadt erfolgreich zu arbeiten.

Für die westeuropäische Linke dürfte wegen der völlig verschiedenen Bedingungen lediglich das Prinzip interessant sein, daß die Guerrilla zwei Formen annehmen kann:

  • die militante Gruppe und
  • die subversive langangelegte Maulwurfstätigkeit in allen Bereichen der Gesellschaft.

Man könnte daraus lernen, daß gerade die Linken die wichtigsten Spezialistenberufe zu erlernen hätten. Die langangelegte subversive Tätigkeit müßte abgesichert sein durch eine soziale Basis. Wohnkommunen, und arbeitende Projektgruppen könnten die Aufgabe übernehmen, ihre Genossen auch nach dem Studium informell zusammen- und finanziell durchzuhalten, wenn sie durch ihre subversive Tätigkeit ihre Arbeit verloren haben.

Der "lange Marsch durch die Institutionen" darf nicht verstanden werden als sozialdemokratische Absicht, die Apparate zu ändern oder reformieren zu wollen, sondern als subversive Arbeit, die die Apparate selbst zersetzen und funktionsunfähig machen soll.