Quelle:  de.soc.politik.texte

Linker Strukturalismus
Einige Ueberlegungen zu Postones Antisemitismus-Thesen

Von Ulrich Enderwitz

01/01
trdbook.gif (1270 Byte)
 
trend
online
zeitung

Briefe oder Artikel: info@trend.partisan.net  ODER per Snail: Anti-Quariat 
Oranienstr. 45
D-10969 Berlin
1
In Postones theoretischem Versuch steckt viel Interessantes, sicher auch manches Wahre, aber alles gebannt in einen falschen, strukturalisierenden Rahmen. Strukturalisieren bedeutet enthistorisieren, bedeutet spezifische historische Konflikte oder Symptome ueber den Leisten eines generalisierten epochalen Widerspruchs schlagen, bedeutet nicht unbedingt, dass man Phaenomene allem historischen Zusammenhang entreisst, um sie anthropologisierend in den Dienst bestimmter, unter der Camouflage einer zeitlosen Kategorialitaet operierender ideologischer Absichten und Rechtfertigungsstrategien zu nehmen (diesen fuer den Strukturalismus im engeren Sinn charakteristischen Geschichtsexorzismus betreibt Postone nicht), bedeutet aber jedenfalls, dass man darauf verzichtet, die Phaenomene als historische zu entwickeln, das heisst, sie in der spezifischen Differenz begreiflich zu machen, die aus dem Zusammenwirken von geschichtlichem Ort und gesellschaftlichem Auftrag resultiert und die ihr wirkliches Wesen ausmacht. Seine Bereitschaft, solchen Verzicht zu leisten, gibt Postone gleich eingangs zu erkennen, wenn er erklaert, es gehe ihm bei seinen Ueberlegungen nicht um das Problem, "warum dem Nazismus und dem 
modernen Antisemitismus ein historischer Durchbruch in Deutschland gelungen ist", sondern bloss um die Frage, "was damals durchbrach", wenn er also beim interessierenden Phaenomen zwischen Wesensgehalt und historischen Bedingungen unterscheidet und sein Interesse auf ersteren beschraenkt. Bei geschichtlichen Erscheinungen das "Was" vom "Warum" abzuloesen, den Gehalt vom Zweck zu abstrahieren, das Wesen von der Funktion getrennt aufzufassen, laeuft, wie gesagt, darauf hinaus, die Erscheinungen um ihr gesellschaftliches Subjekt und ihre historische Orientierung zu bringen und sie als eine ziellose Epiphanie dieses ihres zur epochalen Substanz hypostasierten Wesens neu zu setzen. Diese unvermeidliche Konsequenz laesst Postones Aufsatz beispielhaft deutlich werden.

Als das, "was damals zum Durchbruch kam", mithin als das Wesen des nationalsozialistischen Antisemitismus erkennt naemlich Postone einen romantischen Protest gegen die Herrschaft der kapitalistischen Wertabstraktion oder einen "verkuerzten Antikapitalismus". Realfundament fuer solchen "verkuerzten" Protest ist nach Postone einer der Grundzuege aller kapitalistischen Oekonomie, der von Marx analysierte Doppelcharakter der Ware, ihre amphibolische Existenz als Tausch- und Gebrauchswert, und die dadurch gegebene, von Marx als Fetischismus charakterisierte Moeglichkeit einer falschen Trennung zwischen Konkret und Abstrakt, Gebrauchsgegenstand und 
Wertabstraktion, unmittelbarer Dinghaftigkeit und Kapitalverhaeltnis. Die Verselbstaendigung der beiden Momente des Wertverhaeltnisses, die ihren entscheidenden oekonomischen Ausdruck im scheinbaren Gegensatz zwischen dem die Wertseite repraesentierenden Geld und der die gebrauchsgegenstaendliche Seite verkoerpernden Ware finde, werde nun genutzt, um einen ebenso unklaren wie verbreiteten antikapitalistischen Affekt von der Totalitaet der kapitalistischen Produktionsverhaeltnisse abzuwenden und auf den kapitalen Popanz einer aus dem konkreten 
gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionszusammenhang ausgegrenzten und als eine dem Zusammenhang aeussere repressive Macht vorgestellten Wertinstanz umzulenken, die dann soziale Behaftbarkeit dadurch bekomme, dass sie mit einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, den Juden, identifiziert werde. Zur Erklaerung dieser Objektwahl rekurriert Postone nicht, wie eigentlich nahelaege, auf die antisemitische Tradition Europas, darauf also, dass die Juden auf die Rolle des Suendenbocks seit Jahrhunderten quasi abonniert sind. Vielmehr bemueht er, seinem Strukturalismus die Krone aufsetzend, einen fuer das Individuum in der buergerlichen Gesellschaft angeblich konstitutiven politischen Gegensatz zwischen "abstraktem" Staatsbuerger und "konkreter" Privatperson, den er dem oekonomischen Gegensatz von "abstrakter" Werterscheinung und "konkreter" Ware kurzerhand parallelisiert, um nicht zu sagen gleichsetzt. Wegen der von sozialen Bindungen und nationaler Zugehoerigkeit relativ freien, rein "politischen Emanzipation", die sie "im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts" durchliefen, seien, meint Postone, die Juden in paradigmatischer Weise mit der Seite der staatsbuergerlichen Abstraktion assoziiert und deshalb spezifisch geeignet gewesen, die der politischen korrespendierende oekonomische Abstraktion, eben das vom gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang isolierte und zu falscher Selbstaendigkeit hypostasierte Kapitalverhaeltnis, zu verkoerpern.

Welches gesellschaftliche Stratum oder Klassensubjekt diesen qua Antisemitismus artikulierten "Hass aufs Abstrakte" ausbildet und pflegt, darueber bleibt uns Postone die direkte Auskunft schuldig. Immerhin aber versichert er uns, dass "ein so verstandener Antisemitismus" es ermoegliche, "ein wesentliches Moment des Nazismus als verkuerzten Antikapitalismus zu verstehen". Und das wiederum heisst nichts anderes, als dass Postone dem Nationalsozialismus zubilligt, eine originaer romantische, und naemlich der subjektiven Intention nach ebenso sozial- und systemkritische wie dann allerdings der objektiven Zielrichtung nach zur Ersatzhandlung fehlgeleitete Protestbewegung zu sein. Wie vertragen sich diese Avancen, die Postone dem deutschen Faschismus macht, mit der Rolle, die der Faschismus bekanntermassen als Erfuellungsgehilfe des grossen Industriekapitals und als Sozialstratege im Dienste der organisierten kapitalistischen Mehrwertproduktion spielt? Muss 
man sich das Verhaeltnis zwischen Industrie und Politik, zwischen Kapitalismus und Nazismus etwa in der Weise vorstellen, dass der erstere den eigentlich gegen ihn sich richtenden, ebenso originaeren wie "verkuerzten" Protest des letzteren funktionalisiert, um den in solchem Protest sich bekundenden sozialrevolutionaeren Sprengstoff zu entschaerfen und vielmehr per Antisemitimus so zu kanalisieren, dass er als Volksfrontideologie oder Volksgemeinschaftskitt den eigenen Profitmaximierungsinteressen dient? Muss mit anderen Worten der Nationalsozialismus als ein in seinem sozialkritischen Impetus instrumentalisierter nuetzlicher Idiot des Drahtziehers Industriekapital gelten? Oder muessen wir, weil dies gar zu abenteuerlich klingt, annehmen, dass der deutsche Faschismus eine bereits in sich manipulierte Bewegung ist, dass also Hitler und Konsorten selbst bereits Drahtzieher, Agenten, waren, die im Dienste des Industriekapitals ein vorhandenes, breites sozialkritisches Potential zielstrebig in die Bahnen des nationalsozialistisch "verkuerzten Antikapitalismus" und des diesem Antikapitalismus eine gesellschaftliche Stossrichtung verleihenden Antisemitismus lenkten? Oder muessen wir gar von einer ebenso zufaelligen wie ungluecklichen Koinzidenz des nationalsozialistisch "verkuerzten Antikapitalismus" mit einem kapitalistischen Diversions- und Ideologiebildungsbeduerfnis ausgehen, mithin annehmen, dass hier zwei urspruenglich ganz verschiedene gesellschaftliche Kraefte oder Gruppierungen sich zu einer ebenso ungeplanten wie unheiligen Allianz zusammenfinden?Aber genug der unsinnigen Lesarten, die allesamt ihren Grund in der Tatsache haben, dass Postone den nationalsozialistischen Antisemitismus als einen qua "Hass auf das Abstrakte" wie immer "verkuerzten", originaer antikapitalistischen Affekt identifiziert, diesen Affekt dann aber als freiflottierende Emotion im gesellschaftlichen Raum sich selbst ueberlaesst, statt den Versuch zu machen, ihn einem gesellschaftlichen Traeger und historischen Subjekt zuzuordnen. Wuerde sich Postone um diese Zuordnung bemuehen, er waere gezwungen, seine These vom antikapitalistischen Kern des nationalsozialistischen Antisemtismus einer ebenso klassen- wie geschichtstheoretischen Ueberpruefung zu unterwerfen und das heisst, diesen Antisemitismus im Kontext der historischen Entwicklung einer von gesellschaftlicher Fraktionierung und Klassenkampf bestimmten buergerlichen Gesellschaft als eine Abfolge von Strategien gleichermassen zur Unterdrueckung, Kanalisierung und Unfunktionierung der aus solchem Klassenkampf resultierenden sozialen Konflikte zu spezifizieren. Vor allem waere er gezwungen, die Rolle des seit dem 19. Jahrhundert als oberster Krisenmanager fungierenden Staats in Rechnung zu stellen und zu erkennen, wie im 20. Jahrhundert der Staat als 
Initiator und Schutzmacht eines die Klassenkaempfe des 19. Jahrhunderts suspendierenden Burgfriedens zwischen Kapital und Arbeit den Antisemitismus in aller Form pachtet, um mit ihm nicht nur einem verbreiteten antikapitalistischen Affekt in der Gesellschaft Genuege zu tun, sondern auch und mehr noch der politisch-oekonomischen Ambivalenz, die er sich selber im Zuge seiner die gesellschaftlichen Kraefte kontraktiv kurzschliessenden Garantiemacht-Funktion zuzieht, ein Ventil zu verschaffen. Und schliesslich waere Postone so am Ende imstande, den Antisemitismus des deutschen Faschismus in der historisch-gesellschaftlichen Spezifizierung wahrzunehmen, in der er nur auf dem Hintergrund einer jahrhundertelangen klassengesellschaftlichen Entwicklung und Auseinandersetzung sichtbar wird: als letzte, moerderisch fehlleistungshafte Ausdrucksform einer durch oekonomische, politische und ideologische Verdichtung, Verschiebung und Entstellung in ihr Gegenteil, in blanke Affirmation, verkehrten sozialen Widerstandskraft, oder anders gesagt, als agonal verschwindendes Symptom eines im katalytischen Ferment der Staatsfunktion zur Reaktion gebrachten - will heissen, konterrevolutionaer gewendeten - revolutionaeren Potentials.

Aber solche klassenanalytische und geschichtstheoretische Spezifizierung des im nationalsozialistischen Antisemitismus steckenden "Antikapitalismus" ist, wie gesagt, Postones Sache nicht. Fuer ihn ist dieser zum "Hass auf das Abstrakte" "verkuerzte Antikapitalismus" eine direkte, ebenso ehrlich gemeinte wie fetischistische Jedermann-Reaktion auf den perennierenden Grundwiderspruch aller kapitalistischen Gesellschaft, den Zwiespalt einer in die Laenge und Breite ihrer scheinbar unmittelbaren Gebrauchsgegenstaendlichkeit von der Wertabstraktion beherrschten und durchdrungenen Wirklichkeit. Fuer ihn bleibt der Antisemitismus im Deutschland der ersten Haelfte des 20. Jahrhunderts eine ebenso gesellschaftlich subjektlose wie geschichtslos unvermittelte Reaktionsbildung auf die allgemeinste Struktur der buergerlichen Gesellschaft, eine Reaktionsbildung, die er mit aller - ihrer generellen Ursache entsprechenden - Stereotypie und Totalitaet das faschistische Verhaeltnis zur Realitaet bestimmen und sogar noch in der Vernichtungsmaschinerie der Konzentrationslager wiederkehren sieht, von denen er naemlich in makabrer Konsequenzzieherei behauptet, sie liessen sich als eine Art von umgekehrter Fabrik, als eine abstrakten Wert in Gestalt von Juden destruierende und konkreten Gebrauchswert in Form von "Kleidern, Gold, Haaren, Seife (abschoepfende)" perverse Produktionsstaette begreifen.

Der Vorwurf an Postone, dass seine kurzentschlossene Rueckfuehrung des nationalsozialistischen Antisemitismus auf allgemeinste kapitalistische Strukturbedingungen aus diesem ein ebenso geschichtslos unvermitteltes wie gesellschaftlich subjektloses Phaenomen mache, koennte auf den ersten Blick ueberzogen scheinen. Schliesslich macht Postone deutlich, dass er sich des Zusammenhangs der Entstehung des modernen Antisemitismus mit der 
industriekapitalistischen Entwicklung seit den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts sehr wohl bewusst ist. Schaut man sich aber genauer an, welche Rolle dieser spezifische politisch-oekonomische Kontext fuer Postones Erklaerung des modernen Antisemitismus spielt, so dient er eben gerade nicht als spezifischer, den Antisemitismus auf qualitative Veraenderungen der Gesellschaft und ihrer Kraeftekonstellation zurueckfuehrender Grund, sondern seine Wirksamkeit bleibt rein quantitativer Natur, erschoepft sich darin, dass in ihm ein und dieselbe Wertabstraktion, die die kapitalistische Gesellschaft ganz generell bestimmt, in massierter und erdrueckenderer Form zur Geltung kommt. Jenes zum industriekapitalistischen Produktionssystem reorganisierte und totalisierte 
wertabstraktive Verhaeltnis des spaeten 19. und des 20. Jahrhunderts, das Postone zu Recht als fuer den scheinbar gegenlaeufigen Organizismus der faschistischen Ideologie bestimmende Erfahrung identifiziert, - es provoziert dieser Version zufolge einen zum Antisemitismus "verkuerzten Antikapitalismus" offenbar einzig und allein deshalb, weil es den bereits bestehenden und im Prinzip immer gleichen Entfremdungsdruck, dem Postone gesellschaftliche Subjektivitaet unter kapitalistischen Bedingungen ohne Ansehen der Person oder Klasse ausgesetzt sieht, dermassen eskaliert und verstaerkt, dass er unertraeglich wird und die gesellschaftliche Subjektivitaet zum Protest oder vielmehr zur Reaktionsbildung zwingt. Das macht verstaendlich, warum Postone im Zusammenhang mit dem Auftreten des Antisemitismus in so existentialistisch aufgeladener, psychologisierender Weise von "Durchbruch" spricht: Das Modell, mittels dessen er gesellschaftliche Vorgaenge begreift und beschreibt, ist wesentlich der psychoanalytischen Trieblehre entlehnt, ist ein Modell, das ebensosehr qualitativ-systematisch mit oppositionellen Instanzen, mit Vorstellungen des verdraengenden Widerstands und der Wiederkehr des Verdraengten, wie quantitativ-oekonomisch mit dynamischen Mengen, mit Vorstellungen der Unterdrueckung und Abfuhr psychischer Energien, operiert. Und diese Orientierung am psychoanalytischen Darstellungsmodell wiederum erklaert, warum Postone mit so grosser Selbstverstaendlichkeit akzeptiert, dass der im nationalsozialistischen Antisemitismus zum Ausdruck kommende soziale Protest die Form der Reaktionsbildung annimmt, das heisst, als eine ebenso qualitativ "verkuerzte" wie quantitativ "durchbrechende" symptomatische Affektabfuhr erscheint.

2
Charakteristisch fuer das psychoanalytische Modell ist, dass es unter dem Deckmantel seiner psychologisierenden Kategorialitaet auf hoechst ideologische Weise gesellschaftliche Konflikte thematisiert und reinterpretiert. Gesellschaftliche Herrschaft, die das Modell je nachdem, ob es sie dynamisch, funktionell oder topisch betrachtet, als "Widerstand", "Zensur" oder "Ueberich" fasst, wird in diesen kategorialen Formen nicht mehr als das, was sie ist, nicht mehr als exploitativer Mechanismus, als Veranstaltung zur Ausbeutung gesellschaftlicher Kraft zum Nutzen und zur Staerkung der Herrschaft selbst, kurz, als oekonomischer Faktor, als kapitales Verwertungsverfahren, begriffen, sondern nurmehr als repressiver Apparat, als Institution zur Unterdrueckung gesellschaftlichen Widerstands im Interesse einer blossen Selbstbehauptung der Herrschaft als solcher, kurz, als 
buerokratisches Faktum, als gouvernementaler Verwaltungsvorgang in Betracht gezogen. Indem in effigie der von der Psychoanalayse zur Erklaerung gewisser krankhafter Verhaltenssyndrome konstruierten innerpsychischen Mechanismen die Dynamik gesellschaftlicher Herrschaft nicht mehr politisch-oekonomisch, das heisst in ihrer "positiven" Form einer an der energetischen Substanz der Gesellschaft geuebten Umwandlungs- und Enteignungspraxis zwecks progressiver Erzeugung und Etablierung von Herrschaft, thematisiert, sondern bloss noch politisch- buerokratisch, das heisst in ihrer "negativen" Bedeutung einer gegen das moegliche Aufbegehren der energetischen Substanz gerichteten Umfunktionierungs- und Entstellungstechnik zwecks repressiver Erhaltung und Kontinuierung der etablierten Herrschaft wahrgenommen wird, buesst gesellschaftliche Herrschaft zwangslaeufig jedes Moment von genetischer Begruendung in beziehungsweise Herleitbarkeit aus dem gesellschaftlichen 
Reproduktionsprozess ein und nimmt die Zuege einer Struktureigentuemlichkeit und relationslos fixen Gegebenheit des Systems an, gegen die man zwar jederzeit symptombildnerisch aufbegehren, die systemveraendernd anzugreifen, man aber schlechterdings nicht mehr hoffen kann. Eine genetische Komponente eignet Herrschaft hoechstens noch im initiativ- historischen Sinne, das heisst im Blick auf ihre erstmalige Entstehung in grauer Vorzeit, nicht aber mehr im konstitutiv- systematischen Verstand, das heisst unter dem Blickwinkel ihrer staendigen Erneuerung unter den um ihretwillen herrschenden Bedingungen. Dem so in unvermitteltem Nebeneinander existierenden abstrakten Bewusstsein vom historisch-prozessualen Gewordensein einerseits und konkreten Wissen vom systematisch- kategorialen Gegebensein der Institution Herrschaft andererseits entspricht die Kritik an ihr, die zwischen der in kulturtheoretischer Radikalitaet auftrumpfenden abstrakten Forderung nach Befreiung von ihr und der in der psychoanalytischen Praxis gestaltgewordenen konkreten Bemuehung um Versoehnung mit ihr haltlos hin- und herwechselt.

Es ist dieser durch die Psychoanalyse paradigmatisch entfaltete Begriff von gesellschaftlicher Herrschaft als einer um das Moment ihrer systemimmanenten Genese gekuerzten, relationslos- kategorialen oder grundlos-fixen Gegebenheit des Systems, den Postone mit seiner strukturalistischen Wertabstraktionsvorstellung uebernimmt. Eben das Konstrukt einer um den Preis aller produktiv-oekonomischen Bedeutung aufs rein repressiv-politische Verwaltungshandeln reduzierten Herrschaft, das die Psychoanalyse unter dem Deckmantel ihrer Beschaeftigung 
mit innerpsychischen Vorgaengen einfuehrt, wird von Theorien wie der Postoneschen aus dem psychologischen Bereich in die gesellschaftliche Sphaere zurueckprojiziert und dort als zureichendes Beschreibungsmodell fuer die Wirkungsweise der die buergerliche Gesellschaft und ihre Entwicklung bestimmenden oekonomischen Macht und Staatsgewalt zur Geltung gebracht. Die ubiquitaer determinierende Wertabstraktion spielt in der Theorie Postones exakt die Rolle, die in der psychoanalytischen Theorie das repressiv-zensurierende Ueberich spielt: die Rolle einer Instanz, die deshalb, weil sie nicht mehr als produktiver Faktor und alldurchdringendes Expropriationsverhaeltnis, sondern nur noch als konstitutives Transzendental und allgegenwaertige Strukturbestimmung zur Geltung kommt, auch hoechstens noch in abstracto des geschichtsphilosophischen Begriffs als eine historisch gewordene Realitaet gewusst und in concreto aller gesellschaftstheoretischen Analyse vielmehr als ein systematisch unaufhebbares Existential erfahren wird. Was Wunder, dass gegen dieses alle gesellschaftlichen Verhaeltnisse strukturierende Existential, das Veraenderung nicht mehr im Sinne einer es selber betreffenden qualitativen Entwicklung, sondern bloss noch in der Funktion einer quantitativ extensiveren oder intensiveren Erfassung des von ihm Strukturierten zulaesst, nur noch verkuerzt triebhafte symptomatische Aus- und marginale Durchbrueche, nicht hingegen mehr historisch bestimmte objektive Gegenentwicklungen oder fundamentale Unterminierungsprozesse denkbar sind.

3
Dass die im Postoneschen Wertabstraktionsbegriff nicht anders als in der psychoanalytischen Zensurinstanzfigur durchgesetzte Formalisierung gesellschaftlicher Herrschaft zur aller oekonomischen Genese baren rein buerokratischen Repressionsfunktion kein Phantasieprodukt Freuds oder Postones ist, versteht sich von selbst. Voraussetzung dieser theoretischen Transzendentalisierung gesellschaftlicher Herrschaft ist vielmehr deren die Geschichte der buergerlichen Gesellschaft der letzten beiden Jahrhunderte bestimmende praktische Etablierung als Leviathan, als hybrides Geschoepf aus oekonomischer Macht und politischer Autoritaet, ist mit anderen Worten der geschichtsmaechtige Umstand, dass die buergerliche Klasse in dem Augenblick, in dem sie oekonomisch an die Macht gelangt, dieser Macht sich politisch auch schon wieder entaeussert und sie in Staat wirft, das heisst, sie sei's einem direkten Erben des vorbuergerlichen Staatswesens, sei's einem dem traditionellen Staatwesen nachgebildeten Kunststaat zu treuen Haenden uebergibt, damit dieser sie im Interesse des Buergertums zwar, aber auch in entscheidenden Punkten ueber dessen Kopf hinweg, verwalte und als dem Anschein nach gesamtgesellschaftliches Gut zur Geltung beziehungsweise als vorgeblich klassenuebergreifende Bestimmung zum Tragen bringe. Indem sich so die oekonomische Macht in den Panzer der politischen Gewalt huellt, das Kapital sich hinter dem Pseudos des Staatsapparats verbirgt, legt es die empirische Erkennbarkeit eines aus den gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen hervorgehenden sozialen Unterwerfungs- und Expropriationsmechanismus ab und nimmt statt dessen den transzendentalen Charakter eines quasi herkunftslos ueber den Reproduktionsprozessen thronenden und nurmehr der eigenen Herrschaftslogik verpflichteten, gouvernementalen Unterdrueckungs- und Organisationsinstanz an. Diese zunehmende "Verstaatlichung" des Kapitals, dieses fortschreitende Verschwinden der oekonomischen Macht in und hinter der Maske 
einer mit innergesellschaftlichen Kraefte- und Ausbeutungsverhaeltnissen nichts mehr zu tun habenden und damit aller historischen Dynamik entzogenen uebergesellschaftlichen Gewaltausuebung ist dazu angetan, noch dem beherztesten und unbestechlichsten Gesellschaftskritiker den Sinn zu verwirren. Im Normalfall bringt solche Maskierung des Kapitals, die sich im Unterschied zur traditionellen indirekten politischen Funktion der Oekonomie als direkte "Politisierung" begreifen laesst und die ihren vorlaeufigen historischen Hoehepunkt im Faschismus gefunden hat, die Gesellschaftskritik dazu, die oekonomische Dimension an gesellschaftlicher Herrschaft ueberhaupt aus den Augen zu verlieren und gesellschaftliche Veraenderung fuer ein reines Problem paedagogisch-psychologischer Einwirkungen und herrschaftsfrei intersubjektiver Diskurse zu erklaeren. Im Falle der impliziten Gesellschaftskritik der Psychoanalyse und der expliziten Postones hingegen zeitigt die Maskierung den fast schon komplementaeren Effekt, dass der oekonomische Hintergrund sich in der Theorie nicht etwa verfluechtigt, sondern im Gegenteil zum irrationalen Moment der Identitaet und Beharrungskraft politischer Herrschaft, zu ihrem integralen Strukturmerkmal oder eingefleischten Skelett verfestigt und damit eine distanzlose Aktualitaet und geschichtslose Praesenz gewinnt, die, wie geschildert, gesellschaftliche Veraenderung nur noch als eruptives Aufbegehren, als symptomatisch-fruchtloses Loecken wider den Stachel des in Wahrheit bereits als der gesellschaftseigene Knochenbau anerkannten staatskapitalen Zwangsapparats vorstellbar sein laesst (wobei natuerlich die Psychoanalyse mit ihrem praktisch-analytischen Verfahren doch wieder auf die Linie des herrschaftsfreien Diskurses einschwenkt, um mit seiner Hilfe ihre eigene Diagnose vom [psycho]oekonomisch strukturierten, unaufhebbaren Zwangsapparat therapeutisch-aufklaererisch Luegen zu strafen). Die Bereitschaft Postones, die empirische Amalgamierung der oekonomischen Macht mit der politischen Herrschaft, die praktische Identifizierung des Kapitals mit dem Staat theoretisch festzuschreiben, wie sie in der Vorstellung von der Wertabstraktion als einer ebenso alldurchdringenden wie alles dominierenden gesellschaftlichen Kategorie zum Ausdruck kommt, die selber keiner qualitativen Entwicklung mehr, sondern hoechstens noch quantitativer Entfaltung zugaenglich ist, - diese Bereitschaft zur Anerkennung des faschistischen Status quo als eines fuer die buergerliche Gesellschaft insgesamt konstitutiven Transzendentals hat uebrigens auch verheerende Auswirkungen fuer Postones Verstaendnis historischer Vorgaenge und die Beurteilung ihrer spezifischen Funktion und Bedeutung. So etwa und paradigmatisch, wenn Postone zwischen oekonomischer und politischer Egalitaet, zwischen der abstraktiven Gleichmacherei im Zuge der Universalisierung der Wertbeziehung und der legislativen Gleichmacherei im Rahmen der Durchsetzung eines allgemeinen Staatsbuergertums eine auf schiere Austauschbarkeit hinauslaufende Parallele zieht und mithin dem modernen Staat von Beginn seiner Entstehung Ende des 18. Jahrhunderts an eine der Kapitalherrschaft und ihrer Entwicklung ebenso getreulich nachgebildete wie vorbildlich zuarbeitende Konsequenz unterstellt. Postone uebersieht, dass diese der oekonomischen Identifizierung aller Verhaeltnisse durch die Wertabstraktion ebenso analog wie dienstbar gesetzte politische Egalisierungsfunktion allererst Charakteristikum jenes Staates ist, den das Kapital als faschistischen Einheitsstifter und Sozialfriedensgarant, mithin als politisch maskierten Vertreter rein oekonomischer Interessen mit Beschlag belegt hat. Unter dem Eindruck des mit dem faschistischen Staat erreichten Status quo kann Postone offenbar nicht mehr wahrnehmen, dass etwa der staatlich-politische Gleichheitsgrundsatz der Franzoesischen Revolution noch eine wesentlich andere Funktion hat als die staatlichen Gleichschaltungsprogramme des 20. Jahrhunderts und naemlich mit der Befreiung der buergerlichen Marktgesellschaft von aristokratisch-staendischer Ungleichheit und Privilegierung nach dem Bekunden von Aufklaerern wie Rousseau und Kant zugleich die Sicherstellung der egalitaeren buergerlichen Gesellschaft gegen die Ungleichheit und Diskriminierung intendiert, die von der 
buergerlichen Oekonomie selbst, der kapitalakkumulativen Reichtumsbildung, her droht. Die Art, wie Postone diese historischen Differenzen aus dem Auge verliert beziehungsweise zugunsten einer von politischer Romantik nicht eben weit entfernten Fundamentalkritik an den Prinzipien der egalitaeren Gesellschaft der Neuzeit einebnet, legt beredtes Zeugnis ab von dem praegenden und vielmehr deformierenden Einfluss, den der faschistische Egalitarismus der Moderne mit seiner Degradierung von Staat und Politik zum Hilfsmittel oekonomischer Gleichschaltung auf die Reflexion seiner Kritiker nicht weniger als auf die Ideologie seiner Repraesentanten ausuebt.

4
Die spezifische Modalitaet, in der Postone nach dem Modell der Psychoanalyse gesellschaftliche Herrschaft wahrnimmt und kritisiert, ist also keineswegs eine Willkuertat des reflektierenden Subjekts, sondern hat vielmehr durchaus ihr historisches Realfundament. Aber den Faschismus des kapitalen Staats als Struktureigentuemlichkeit der Moderne zu reflektieren ist eines, ein anderes ist, ihn als diese Struktureigentuemlichkeit strukturalistisch zu akzeptieren und das heisst, ihn in der enthistorisierten Form eines fuer alle buergerliche Gesellschaft verbindlichen Transzendentals zur Rahmenbestimmung auch und gerade der eigenen Reflexion zu erheben. Insofern Postone dies tut, bleibt die Frage, warum er es tut. Was die mit der faschistischen Herrschaftsform bei aller Kritik an ihr dennoch auf vertrackte Weise einverstaendige Betrachtungsweise Postones theoretisch wegschafft, ist die durch diese Herrschaftsform in praxi eskamotierte oekonomische Genese von Herrschaft aus den gesellschaftlichen 
Reproduktionsverhaeltnissen beziehungsweise ihre politische Entstehung aus dem Kampf sozialer Klassen. Herrschaft wird theoretisch als das vorgestellt, als was sie in praxi des faschistischen Staats erscheint: als ein der Gesellschaft unvermittelt uebergestuelpter, ebenso uniformistisch integrativer wie buerokratisch repressiver Mechanismus. Dafuer, dass er in merkwuerdiger theoretischer Konspiration mit der Praxis des Faschismus darauf verzichtet, den Kapitalprozess und den Klassenkonflikt, die oekonomische Quelle und die soziale Basis gesellschaftlicher Herrschaft in die Reflexion der letzteren aufzunehmen, kann Postone eigentlich nur eines von zwei moeglichen Motiven haben: entweder er will von jener Quelle und Basis der Herrschaft als von einer realen Macht nichts mehr wissen, oder er kann an sie als an eine revolutionaere Kraft nicht mehr glauben. Ist ersteres der Fall, so handelt es sich bei der Postoneschen Gesellschaftskritik einfach nur um liberale Ideologie, um den Versuch des aufgeklaerten Buergers, Kritik am politischen System zu ueben, ohne die oekonomische Grundlage des Systems, von der man als Buerger selbst profitiert, in Gefahr zu bringen, kurz gesagt, um den systemstabilisierenden Versuch, Staatskritik zu ueben, ohne an den anatomischen Kern des kritisierten Gebildes zu ruehren. Ist hingegen letzteres der Fall, so handelt es sich bei Postones Gesellschaftskritik um linke Melancholie, um den Versuch des desillusionierten Intellektuellen, den faschistischen Status quo "realistisch" zu denken und das heisst, als einen jeder qua Oekonomie inneren Sprengkraft beraubten, jeden klassenfoermig revolutionaeren Subjekts baren Verblendungszusammenhang zu thematisieren. Weil den oekonomischen Bedingungen und sozialen Klassenverhaeltnissen keine erkennbare Eigendynamik, keine mobilisierbare Kraft zur Veraenderung mehr eignet, weil der faschistische Staat beides fest im Griff beziehungsweise ueberhaupt als Problem erledigt zu haben scheint, sieht sich der Intellektuelle berechtigt, die Analyse kapitalistischer Produktionsprozesse und Klassenkonflikte ueberhaupt ad acta zu legen und seine Gesellschaftskritik auf Staatskritik einzuschraenken, anders gesagt, die Kritik der politischen Oekonomie zu einer Kritik der buerokratischen Despotie sich verkruemeln zu lassen. Nirgends indes steht geschrieben, dass sich die Kritik der buergerlichen Gesellschaft mit Oekonomie und Klassentheorie nur zu befassen brauche, solange noch Hoffnung auf eine proletarische Revolution, eine durch die Produzentenklasse getragene Veraenderung der Gesellschaft bestehe. Wer seine politisch- oekonomische Analysebereitschaft auf solche Weise konditioniert und einschraenkt, setzt sich vielmehr dem Verdacht aus, dass er die revolutionaere Perspektive nur im Augenblick ihres historischen Untergangs noch einmal verklaerend aufgegriffen und romantisierend kultiviert hat und dass er ihr endgueltiges Verschwinden nutzt, um zusammen mit ihr gleich auch den Zwang  zur Reflexion auf die oekonomischen Grundwidersprueche der Gesellschaft und auf die in unserem gesellschaftlichen Reproduktionsmechanismus angelegte katastrophische Konstitution loszuwerden. Das heisst, der melancholische Linke unterliegt dem Verdacht, dass er sich ganz aehnlich wie sein ideologisches Pendant, der liberale Buerger, nur deshalb auf Staatskritik beschraenkt und Kapitalkritik als eine ebenso gleichgueltig vorausgesetzte wie endgueltig abgeschlossene Disziplin links liegen laesst, weil ihm die Stabilitaet des von ihm gescholtenen staatsfoermig organsierten Verblendungszusammenhangs insgeheim zusagt und er von dem wesentlich oekonomisch bedingten Potlatch, in das die kapitalistische Verfassung der gesellschaftlichen Reproduktion unsere Gesellschaften hineintreibt, lieber nichts wissen will. Schliesslich ist bloss deshalb, weil kein revolutionaeres historisches Subjekt mehr existiert, die kapitalistische Gesellschaft nicht schon gegen Veraenderung gefeit: diese nimmt im Gegenteil hoechstens jene naturkatastrophisch subjekt- und ziellose Unaufhaltsamkeit wieder an, die vor Entstehen der buergerlichen Gesellschaft mit dem Begriff der Revolution als einem kosmisch-astronomischen Ereignis verknuepft war. Und diesen naturkatastrophischen Prozess der Gesellschaft zu erkennen und zur Diskussion zu stellen, bleibt fuer uns buergerliche Intellektuelle, die der Schwerkraft ihres Buergerseins nichts als die Kraft des Gedankens, der melancholischen Gemuetlichkeit im "Hotel Abgrund" nichts als die Anstrengung des Begriffs entgegenzusetzen haben, allemal eine lohnende Aufgabe.

Dass die Gesellschaftskritik Postones mit ihrem um jede produktive politische Oekonomie gekuerzten und rein staatsfoermig repressiv gedachten Wertabstraktionsbegriff am Ende wirklich eher zur Beschwoerung als zur Kritik der kapitalistischen Verhaeltnisse taugt und mithin von einer heimlichen Lust an dem mit der staatsfoermigen Repression einhergehenden Stabilitaetsversprechen zeugt, genau dafuer steht symptomatisch der Strukturalismus des Postoneschen Ansatzes ein: dies, dass ihm die wesentlich historische Bestimmtheit des Bildes, das er von der Gesellschaft als einer wertabstraktiv-staatsrepressiv formierten entwirft, gar nicht mehr in den Blick geraet, dass ihm vielmehr der dieses Bild praegende Faschismus der Gegenwart als transzendentaler Rahmen der buergerlichen Gesellschaft ueberhaupt erscheint.

aus: Kritik und Krise 6 (1993), hrsg. von der Initiative Sozialistisches Form, ça ira Verlag 1993

Red. Anmerkung: den Postone-Aufsatz Nationalsozialismus und Antisemitismus gibt es als Download-Datei in der Linkskurve