ak - analyse & kritik / Nr. 446 / 18.01.2001

Für ein soziales Europa
Europäische Versammlung von Erwerbslosen und prekär Beschäftigten in Paris

von Phylax, Hamburg

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Zur Vorbereitung auf den EU-Gipfel in Nizza und zur Koordination der weiteren Arbeit fand vom 2. bis 4. Dezember 2000 in Paris eine Versammlung auf europäischer Ebene von Menschen aus Erwerbsloseninitiativen und von prekär Beschäftigten statt. Eingeladen hatte die Initiative der Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung, die seit 1997 schon zu mehreren EU-Gipfeln zu Gegenkundgebungen und Demonstrationen mobilisiert hat. Die Europäischen Märsche setzen sich für ein soziales Europa von unten und für ein garantiertes Mindesteinkommen ein. Unser Autor war vor Ort.

Am Sonnabend, dem 2.12.00 eröffneten in der "Bourse de Travail" 150 TeilnehmerInnen die Versammlung der Erwerbsloseninitiativen. Die TeilnehmerInnen kamen mehrheitlich aus Frankreich, Spanien, Italien, Belgien, den Niederlanden und Deutschland. Anwesend waren einige wenige VertreterInnen aus England, Griechenland und den skandinavischen Ländern. Aus Deutschland waren der Arbeitslosenverein (ALV) aus Thüringen und Mecklenburg-Vorpommmern, Arbeitsloseninitiativen aus Oldenburg (ALSO) und Nordrhein-Westfalen, sowie einige gewerkschaftliche BasisaktivistInnen zur Versammlung nach Paris gereist. Von offizieller gewerkschaftlicher Seite wird diese Form des Austausches weiterhin ignoriert.

Während sich die Regierungschefs in Nizza um die Verteilung des Einflusses der erweiterten EU rangelten, diskutierte die Versammlung in Paris über die Auswirkungen des neoliberalen Projektes der Konzerne, über Fragen der Armutsbekämpfung, die Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze, die Alters- und Gesundheitsvorsorge sowie die Rechte von Flüchtlingen, die auf dem Altar der Globalisierung geopfert werden.

In ihrem Eröffnungsreferat verwies Angela Klein von Euromarsch/Deutschland auf den krassen Widerspruch hin, dass in den letzten Jahren die offizielle Zahl der Erwerbslosen in der EU zwar von 20 Millionen auf 16 Millionen sank, hingegen die Anzahl der von Armut betroffenen Menschen innerhalb der Länder der EU von 50 Millionen auf 65 Millionen angestiegen ist. Während die Zahl der Erwerbslosen unter die 10%-Marke gedrückt wurde, liegt die Quote der Armen in der EU mittlerweile bei 18%. Das Phänomen der Zunahme von Armut und der gleichzeitigen Abnahme der Erwerbslosenrate lässt sich vorrangig mit dem drastischen Anstieg von Teilzeitarbeit und Formen geringfügiger Beschäftigung erklären. Als arm gilt dabei, wer weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens erhält. Der konkrete Geldbetrag, mit dem in dem jeweiligen EU-Land die Armutsgrenze gemessen wird, ist sehr unterschiedlich. Deshalb haben sich die Euromärsche auf länderspezifische Geldbeträge je nach EU-Staat als Forderung für das Existenzminimum verständigt. In Deutschland sind es 703 Euro, in Portugal 216 Euro.

In einem weiteren Referat mit dem bezeichnenden Titel "Nasse Füße im Poldermodell" berichtete ein Vertreter aus den Niederlanden, dass die Armut in den Niederlanden vorrangig weiblich ist. 700.000 Frauen sind auf soziale Unterstützung angewiesen, davon sind 190.000 allein Erziehende mit 250.000 Kindern; 350.000 Frauen sind von Altersarmut betroffen.

Druck ohne Ende

Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland sehen sich die Erwerbslosen verstärkt Kontrollen unterworfen und dem Zwang ausgesetzt, Arbeit auch unabhängig von der eigenen Qualifikation anzunehmen. In Deutschland gehen die Sozialämter verstärkt dazu über, SozialhilfeempfängerInnen, unter Androhung der Streichung von Leistungen in tariflose Billigjobs und an Zeitarbeitsfirmen zu vermitteln. Reicht der gezahlte Lohn der so vermittelten Zwangsarbeit nicht aus, wird die aufstockende Sozialhilfe gewährt. Viele Firmen organisieren sich auf diesem Weg Arbeitskräfte zu Dumping-Preisen. Staatlich gefördert werden allgemein verbindliche Tarifverträge und gültige Rechte abhängig Beschäftigter unterlaufen. Von den Betroffenen können diese Arbeitsstellen nicht abgelehnt werden. Mit diesen Methoden soll ein weiteres "Jobwunder" geschaffen werden? Gewerkschaftsvertretern, wie dem DAG-Vorsitzenden Issen, reicht auch dieser Druck noch nicht aus. Er forderte unlängst, voll im Sinne der rotgrünen Politik, eine noch stärkere Zwangsausübung auf Erwerbslose um sie in Arbeit zu zwingen. Angesichts des überschäumenden Optimismus der Regierungen, der Arbeitgeberverbände und der Medien, die Arbeitslosigkeit im Griff zu haben, versuchen die Euromärsche die verzerrte Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zurechtzurücken. Mit der Forderung nach einem staatlich garantierten Existenzminimum in jedem Einzelstaat der EU soll die Debatte um ein soziales Europa von unten belebt und ein Gegenpol zur grenzenlosen Absenkung des Lebensstandards gebildet werden.

Marie-Paule Connan von den Europäischen Märschen aus Belgien machte in ihrem Referat zur Auseinandersetzung mit der EU-Charta deutlich, dass es die Euromärsche nicht hinnehmen werden, dass die existierenden sozialen Rechte in den Mitgliedsstaaten der EU durch die Verabschiedung der EU-Charta ausgehebelt werden. Die EU-Charta sieht eine Entwicklung eines Europas mit Arbeitenden ohne garantierte soziale Rechte im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit vor, eine EU ohne Mindestlöhne, ohne garantiertes Existenzminimum für SozialhilfeempfängerInnen und RentnerInnen, sowie die Ablehnung eines allgemeinen Wohnrechtes. Alle diese aufgezählten Fälle werden nach "Maßgabe der Gemeinschaft und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" geregelt. Im Kapitel IV der Charta, unter der Überschrift "Solidarität", werden die sozialen Rechte als nicht einklagbar festgelegt und dem Subsidiaritätsprinzip der Einzelstaaten unterworfen. Damit ist ein Wettbewerb der Einzelstaaten um die weitere Absenkung sozialer Rechte eingeläutet. Das Motto lautet: Wer bietet seinen arbeitenden Menschen die schlechtesten Arbeitsbedingungen?

Die Sprecher der nordrhein-westfälischen Arbeitsloseninitiativen wiesen darauf hin, dass in § 136 der EU-Verträge die Zahlung von Arbeitslosengeld auf sechs Monate beschränkt werden soll. Für die Erwerbslosen in Deutschland würde dies eine weitere drastische Verschlechterung gegenüber der jetzigen Regelung bedeuten.

Erwerbslosigkeit sinkt - Armut steigt

Auf der anderen Seite garantiert die EU-Charta unter dem Kapitel II "Freiheiten" das Recht auf uneingeschränkte Nutzung des eigenen Eigentums (§ 17) sowie die unternehmerische Freiheit (§ 16). Eine Richtlinie für eine europäische Aktiengesellschaft ist gerade ergangen. Im selben Kapitel II wird den arbeitenden Menschen immerhin das Recht zu gestanden, arbeiten zu dürfen und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben. Alle UnionsbürgerInnen haben das freie Niederlassungsrecht in jedem Mitgliedsstaat und ArbeitsmigrantInnen mit Arbeitserlaubnis(!) haben einen Anspruch auf gleiche Arbeitsbedingungen wie die UnionsbürgerInnen. Jegliches einklagbare Recht auf Arbeit oder gar Rechte für Illegale (Flüchtlinge, Asylsuchende) wird in der EU-Charta abgelehnt. Maßgabe für die Gestaltung dieser Charta ist die Vernutzungsmöglichkeit der Arbeitskraft, aber wer hätte anderes erwartet? Damit fällt die EU-Charta weit hinter die Menschenrechtsdeklaration der UNO von 1948, den Menschenrechtskatalog des Europarates sowie einzelner Verfassungen, wie der Frankreichs oder der der Bundesrepublik Deutschland, zurück.

Sehr plastisch schilderte ein Delegierter die Situation der Erwerbslosen und ungeschützt Beschäftigten südlich von Neapel. Dort sind 25% erwerbslos und diejenigen, die Arbeit haben, müssen diese überwiegend in ungeschützten Arbeitsverhältnissen leisten. Jeden Mittwoch demonstrieren in Neapel Arbeitslose und prekär Beschäftigte gemeinsam gegen die neoliberale Politik und gegen die Privatisierungsstrategie der italienischen Mitte-Links-Regierung in Rom und für den Erhalt der öffentlichen Dienstleistungen und gesicherte Beschäftigungsverhältnisse.

Aktionen gegen Unternehmenswillkür

Von zwei besonders krassen Fällen von Behinderungen bei der Wahrnehmung gewerkschaftlicher Rechte in Deutschland, aber auch von der Gegenwehr wurde ebenfalls berichtet. Ein Betriebsrat einer McDonalds-Filiale in Wiesbaden, in der 15 Vollzeit-, 30 Teilzeitangestellte und 30 geringfügig Beschäftigte arbeiten, schilderte, wie McDonalds mit allen Mitteln die Bildung von Betriebsräten zu verhindern sucht. So wird den Filialleitern, die Betriebsratswahlen verhindern, eine Sonderprämie gezahlt. Die Begründung des Konzerns ist so einfach wie unsinnig. McDonalds versteht sich als amerikanischer Konzern, für den das deutsche Betriebsverfassungsgesetz nicht gilt und dem die Mitbestimmungsregelungen ein Dorn im Auge ist. McDonalds steht dabei durchaus als Trendsetter für die anderen Unternehmen der Systemgastronomie.

Auch die Citibank legte besondere antigewerkschaftliche Aktivitäten an den Tag. Sie weigerte sich, einen Haustarif mit der Gewerkschaft HBV für ein Call-Center in Duisburg abzuschließen. Daraufhin streikten die Beschäftigten und wurden von der Citibank gefeuert. Da recht schnell deutlich wurde, dass Streiks als alleiniges Kampfmittel nicht mehr ausreichen, um Unternehmen unter Druck zu setzen (zumal wenn die Belegschaft gekündigt ist), startete die HBV mit anderen gesellschaftlichen Kräften eine Kampagne gegen die Citibank. Ziel war und ist es, den ehemals Beschäftigten wieder ihre Arbeitsplätze zu organisieren. Das Soziale Netzwerk Duisburg, in dem die HBV mit kirchlichen Gruppen und anderen Initiativen zusammenarbeitet, bezieht in dieser Kampagne gegen die Machenschaften der Citibank auch den Boykott der Bank mit ein, ein bisher unübliches Vorgehen bei gewerkschaftlichen Aktivitäten. Viele negative Presseberichte über die Machenschaften der Citibank sind bisher erschienen; das Image der Bank erhielt einige Kratzer. Darauf reagierte die Citibank äußerst empfindlich und überzog ihre KritikerInnen mit Gerichtsprozessen; die allerdings von den KritikerInnen gewonnen wurden. Auch das Fußballstadion des Zweitligisten MSV Duisburg - die Citibank ist neuerdings Sponsor des Vereins - wurde zum Schauplatz gewerkschaftlicher Aktivitäten. Konkrete Erfolge konnten bisher nicht erzielt werden, und es scheint noch ein langer Weg vor den Betroffenen zu liegen, bis die Citibank einlenkt.

Diese Auseinandersetzungen geben einen Vorgeschmack auf die Wünsche der Kapitalisten für das Europa von morgen: Löhne ohne Tarifverträge und die Abschaffung der betrieblichen Mitbestimmung. Zum Abschluss der Erwerbslosenversammlung in Paris wurde ein Delegiertenmodell verabschiedet, das die Kontinuität der Arbeit der Europäischen Märsche im Jahr 2001 gewährleisten soll und die Kampagne für die sozialen Rechte und das Exstenzminimum fortsetzen wird.

Weitere Informationen zu Euromarsch bzw. zur Kampagne zur Citibank unter:
www.euromarches.org
www.citi-critic.de