Editorial
Nützliche Theorie
von M.I.R.I.A.M.
01/02
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10937 BerlinGewöhnlich schreiben Redaktionen ihren LeserInnen zum Beginn des Jahres auf, was sie im verflossenen Jahr geleistet haben und was sie für das kommende planen. Diesen Brauch werden wir in diesem Jahr nicht pflegen. Wenngleich der Beginn des siebten trend-Produktionsjahres dafür Anlass genug wäre. Tatsächlich beschäftigen uns zur Zeit Fragen des Arbeitsstils und der -methoden. Der virtuelle Raum, in den wir hineinproduzieren, vergrößert sich täglich - zumindest im Hinblick auf die Zahl derer, die über einen Internetzugang verfügen. Im reziproken Verhältnis wachsen die Zugriffszahlen auf unsere Seiten. Doch täuschen wir uns nicht gewaltig, wenn wir die politische Bedeutung unseres Internetprojektes von daher bestimmen und unsere Arbeitstilfragen von dort her ihre Konturen erhalten? Hat nicht eher Sven Glückspilz recht, wenn er uns Hamstern gleich rät, auf den Ausgang zu achten, wenn wir im Käfig Internet herumturnen, statt unreflektiert weiter zu machen? Glückspilz Thesen dürften in etwa dem autonomen Mainstream in Sachen neue Medien entsprechen: Durch misstrauische Distanziertheit verkürzen sich die Maßstäbe der Beurteilung - linke Internetpraxis ist für ihn kaum mehr als sinnentleerte Fakten- und Infohuberei, die mit der Mär vom unaufhaltsamen Aufstieg des Indymedia.de-Projekts zum linken CNN illustriert wird. Von daher ist es nur folgerichtig, wenn Sven Glückspilz lieber von wirklichen Lohnschreibern redigierte Printmedien als Nachrichtenquelle zu rate zieht, um sich jenseits seines autonomen Mikrokosmos zurecht zu finden.
Der trend ist - wie etliche andere linke Internetprojekte - ein theoretisches Magazin für eine linke&radikale Praxis und eben kein Nachrichtendienst, insofern könnten uns Sven Glückspils´ Thesen eigentlich "am Arsch vorbei gehen". Doch ein nicht unwichtiges Quäntchen Wahrheit lässt sich bei Glückpilz sehr wohl finden. Es ist einfach Fakt, dass heute jede Kampagnen-, jede Infoladen- und Projektgruppe ihre bunte Werbetafel ins WWW hängt. Und angesichts der (Arbeits-)Zeit, die dafür verausgabt wurde, ist die Frage mehr als legitim, warum diese Zeit nicht für die Aneignung von Theorien zur Gesellschaftsanalyse verwandt wird, um eben diese Gesellschaft in eine freie aufzuheben.
Bekanntlich ist die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie eine sehr nützliche Theorie zur Umwälzung dieser kapitalistisch-imperialistischen Verhältnisse. Und - bleiben wir beim Gegenstand Internet; ist es nicht wert zu untersuchen, welche Potenzen in dieser neuen Produktivkraft stecken, um den Arbeitstag in einer Gesellschaft zu verkürzen, die keine Lohnarbeit mehr kennt, wo das Individuum sich seiner Vergesellschaftung bewusst ist und Muße und Genuss den Alltag bestimmen?
So heterogen die trend-Redaktion aufgrund ihrer Virtualität auch sein mag, das Gemeinsame und Bindende ist bei allen die konkrete Utopie einer Gesellschaft jenseits von Ausbeutung und Unterdrückung. Die Befreiung aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit bleibt von daher gerade auch für 2002 Ziel und Inhalt unser journalistischen Praxis.