Unter Bauern
von Justus Wertmüller

Verzicht vs. Überfluß, Zwangskollektiv vs. Subjekt: Über die falschen Prioritäten des gegenwärtigen Antikapitalismus. Ein Beitrag zur Diskussion

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»Mit der Antisemitismuskeule in der Hand ist die ultradeutsche Fraktion der Antideutschen gerade gegenüber dem intellektuell etwas arrivierteren linken Spektrum zur moralischen Instanz aufgestiegen und hat folgende Vorgaben durchzusetzen verstanden: Die Globalisierung kapitalistischer Wirklichkeit ist immer und überall unter dem erkenntnisleitenden Gesichtspunkt fortlebender deutscher Ideologie und des eliminatorischen Antisemitismus zu betrachten ...« Ernst Lohoff: Alles auf Kursk, www.krisis.org, 13.11.2001

»Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ahnliches geschehe.« Theodor W. Adorno, 1966

Ein Freund, der jüngst den Iran, aus dem er hatte fliehen müssen, wieder besuchte, berichtet mit glänzenden Augen. Es sei unter der städtischen Jugend eine wilde Partyzeit ausgebrochen. Im privaten Raum, der aber längst nur noch vorgeblich privat sei, ertöne aktuelle Popmusik, insbesondere Mitschnitte des Lieblingssenders der Jugend, Radio Israel. Männer wie Frauen tanzten ausgelassen, Beziehungen bahnten sich an, deren Legitimität sich nur dem Entschluß der Beteiligten verdanke und nicht dem Staat, der Religion oder den Eltern. Dazu gebe es schwarzgebrannten Gin und aus der Türkei eingeschmuggeltes Tu-borg-Bier in Massen, und in den Ecken werde fleißig gekiftt. Die jungen Frauen hätten eine neue Art des Schadors erfunden, der gerade noch einen Teil des Hinterkopfs bedecke; auf kunstvolle Weise werde das verordnete Gewand inzwischen auf Kniehöhe gerafft und gebe den Blick frei auf dünne Strumpfhosen und Füße in hochhackigen Schuhen. Diese Kleidung werde keineswegs nur auf den Parties, sondern immer häufiger auch öffentlich getragen. Die bekannten Fußballriots dieses Sommers seien sicherlich auch aus Lust an der Randale entstanden, wichtiger aber sei, daß die Leute nach dem Spiel nicht mehr geordnet nach Hause gingen, sondern ihre Partys auf der Straße feiern wollten. Irgendwoher sei noch jedesmal ein Ghettoblaster aufgetaucht, man habe zu westlichem Pop getanzt, und viele Frauen, die bekanntlich nicht ins Stadion dürfen, seien dazugekommen. Ob er den Eindruck habe, diese Leute agierten politisch? Nein, sicherlich nicht so wie früher. Die Leute hätten einen Haß auf den Staat und besonders auf die Religionsbehörden, viele wollten von Religion überhaupt nichts mehr wissen und seien wild entschlossen, ihren Spaß zu haben. Nichts Antikapitalistisches also läßt sich aus dem iranischen Widerstand schließen.

Von der ersten öffentlichen Frauenversammlung Afghanistans seit mehr als sechs Jahren berichteten die Medien im November. Es sind zu diesem Treffen kaum mehr als 500 gekommen, und ihre Forderungen klingen moderat. Sie fordern die Rechte, die die Frauen in der Türkei haben, also Gleichstellung mit den Männern vor dem bürgerlichen Gesetz, gleichen Zugang zu Bildung und Beruf, gleiche Rechte in der Ehe, gleiches Recht auf Ehescheidung. Auch im befreiten Kabul ist also keine antikapitalistische Revolte in Sicht.

In der Türkei fuhren Revolutionäre ihren Endkampf seit nunmehr fast einem Jahr unter weitgehendem Ausschluß einer Öffentlichkeit, die daran kein Interesse mehr hat. Es ist das Todesfasten, das von politischen Gefangenen, die sich gegen Kleingruppenisolation wehren, angeführt wird. In diesem Jahr sind mehr als 50 zumeist junge Leute verhungert, und ein Ende des selbstmörderischen Tuns ist nicht absehbar. Die Slogans des Todesfastens lauten, »Wir kämpfen bis zum Tod« und »Unsere Märtyrer sind unsterblich!« Die wohl einflußreichste der beteiligten Parteien, die maoistische DHKPC, hat 1998 in einer Grundsatzerklärung Auskünfte über eine revolutionäre Moral gegeben, die vor Selbstzerstörung nicht zurückschreckt. Darin wird aufgelistet, welche schlechten Sitten sich für einen Revolutionär verböten. Zum Beispiel: sich lässig in ein Sofa hineinzufläzen, Alkohol- und Drogenkonsum, aber auch der intime Umgang zwischen den Geschlechtem. Es wird Männern, besonders aber auch Frauen genau aufgegeben, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, damit die äußere Erscheinung nicht etwa die Rundungen des Körpers betont oder sonstwie Begierden erweckt: keine hautengen Hosen bei Männern, keine hochhackigen Schuhe, ausgeschnittenen Oberteile, kurzen Röcke, auffällige Kosmetik bei den Frauen. Begründet wird der strenge Katalog damit, daß man sich immer die natürlichen und bewährten Moralvorstellungen des einfachen Volkes zum Vorbild nehmen müsse und alles zu vermeiden habe, was »lumpen« sei. Lumpen ist der aus dem Französischen ins Türkische eingeschleppte Marx-sche Begriff des Lumpenproletariats, der in stalinistischen Parteien schon seit über 30 Jahren eine Kampfparole gegen jeden Versuch ist, Luxus und Sinnlichkeit bereits hier und heute zu verwirklichen. Solche illegitimen Wünsche seien von den imperialistisch kontrollierten Medien popularisiert worden, um die Bevölkerung zu verderben. Soviel vom türkischen Abschnitt der antikapitalistischen Front.

Während die Teheraner und zunehmend auch die algerische Jugend sich vom Islam ab- und Luxus und Lust zuwendet, also keine Volksrepubliken zur Elendsselbstverwaltung herbeisehnt, sondern an sich selbst zuerst denkt, gehen die Bestrebungen in den Metropolen einen anderen Weg. Nicht nur islamische Faschisten und türkische Maoisten weisen die Orientierung an kapitalistischen Vergesellschaftungsstandards zurück, auch die westliche Welt fällt in Depression angesichts der eigenen Geschöpfe. In den USA geloben Studenten zu Tausenden, keusch in die Ehe gehen zu wollen. Der Krieg gegen Alkohol-, Drogen- und Zigarettenkonsum nimmt hysterische Formen an, die neuesten Schlager werden akri-bisch auf »explicit lyrics« untersucht, und eigenartige Bekenntnisse zu christlichen Werten greifen um sich. Im aufgeklärten Kalifornien tritt gleichzeitig die Bewegung für die Gleichberechtigung der Geschlechter an und publiziert an einer Universität einen alle Studenten verpflichtenden Grundlagenvertrag, dessen Befolgung das Problem der sexuellen Gewalt ein für alle Mal beheben soll: Die Annäherung zwischen möglichen Sexualpartnem habe einem Verhandlungsmodell zu folgen, demzufolge jede »Grenzüberschreitung«, beginnend mit dem schüchternen Griff nach der Hand des begehrten anderen bis zu den Varianten des Sexualakts, nur nach verbalem Übereinkommen legitim sei. Soviel vom aktuellen Zustand des bürgerlichen Glücksversprechen.

Skepsis ist angebracht gegenüber der Mahnung, nach dem 11. September 2001 bei aller Aufregung über die Anschläge nicht die antikapitalistische Ausrichtung der Gesellschaftskritik aus den Augen zu verlieren. Sollen etwa die Teheraner Kids in einen antikapitalistischen Konsens aufgenommen werden, ausgerechnet sie, die offensichtlich die drei großen Versprechungen spätkapitalistischer Zivilisation - sex and drugs and rock 'n' roll - auf ihre Fahnen geschrieben haben, oder sind sie nicht doch »lumpen«? Schließlich wollen sie jene Verhältnisse wieder aufrichten, in denen, weil alles, auch jedes menschliche Miteinander käuflich ist. Auch afghanische Frauen, die nach dem bürgerlichen Gesetzbuch statt der Sharia verlangen, um sich dem Zugriff des moralischen Terrors zu entziehen, sind nicht nach dem Geschmack westlicher Wertesucher, die allem mißtrauen, was Wertvergesellschaftung an privatem Glück in Aussicht stellt.

Man kann lange über die Begrenztheit der Wünsche der Teheraner Partykids räsonieren. Man kann ihnen nachweisen, daß nicht wahr werden wird, was sie sich von der Rückkunft westlicher Zivilisation versprechen, aber man wäre ein Schuft, wollte man ihnen vorrechnen, daß die Musik, die sie hören, aus den Konserven der Kulturindustrie kommt, und daß ihr sexuelles Verlangen sich als ein häufig unbefriedigender Hindemislauf zu einem nie wirklich erreichbaren Ziel erweisen wird. In solch ermahnender Pose schwingt die Enttäuschung über das eigene Leben mit, die sich in Abscheu vor den verwirrenden Reizen äußert, die gerade vom Showbusiness ausgehen, ohne daß sich Erfüllung im wirklichen Leben je eingestellt hätte. Unfreiwillig sind viele, die meinen, den Kapitalismus zu kritisieren, schon Komplizen seiner negativen Aulhebung geworden. Die Hingabe, mit der in den letzten Jahren wieder vor falschen Bedürfnissen gewarnt wird, ist nicht Indiz dafür, daß in revolutionärer Absicht Genüsse versprochen werden, die erst mit der vollständigen Abschaffung von Staat und politischer Ökonomie zu verwirklichen sind. Nein, -statt die Verlockung, die in den Produkten des Kulturbetriebs häufig noch steckt, anzuerkennen und an ihrer Verwirklichung in freieren Zeiten zu arbeiten, wird ein solcher Anspruch verworfen und der Verzicht auf den Luxus als Tugend deklariert.

In Zeiten, in denen Antikapitalismus häufig genug den Wunsch nach einem Rückfall hinter die beängstigenden Hervorbringungen der kapitalistischen Welt meint, bedarf der Ruf nach Abschaffung kapitalistischer Vergesellschaftung einer umfassenderen Begründung als der Bilanzierung von Millionen Hungertoten und der vielen anderen alltäglichen Scheußlichkeiten. Diese Bilanzen nämlich haben Antikapitalisten höchst unterschiedlicher Prägung zum Beweis der Richtigkeit ihrer Lehren gemacht, welche nicht mehr als die negative Gleichheit in einer total moralisierten Welt bereithalten. Ein Kritiker der totalen Vergesellschaftung müßte dagegen im Auge behalten, daß die Forderung nach Gleichheit allein den freien Zugang aller zum gesellschaftlichen Reichtum meinen kann und darüber hinaus das Versprechen des Kommunismus gerade die Ungleichheit ist, die schrankenlose Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit. Der gesellschaftliche Reichtum, auf den auch der Kritiker der kapitalistischen Gesellschaft sich positiv zu beziehen hätte, hat einen in langer grausamer Geschichte er-strittenen Sieg über die erste Natur zur Voraussetzung. Ein Sieg über die unmittelbare Natur, die einem nicht mehr geheimnisvoll und allmächtig entgegentritt, aber auch über jene vorgeschichtliche Natur, die als Schicksalsverfallenheit in menschliche Naturzusammenhänge wie Familie, Volk oder gar Ethnie den einzelnen in Sippenhaftung nimmt. Kompromißlose Gegnerschaft zur Tauschgesellschaft müßte sich bewußt sein, daß sie das Unheil auf seinem höchsten Niveau aufheben muß, soll etwas besseres herauskommen als die moralische Welt der totalen Herrschaft der zweiten Natur. Sie müßte begreifen, daß Kapitalismus keine vom Wertgesetz angelegte systematische Blutspur durch geschichtslose Zeiten ist, daß theoretische oder künstlerische Hervorbringungen nicht allein der Befestigung unmenschlicher Zustände dienten, sondern die Stimme des unglücklichen Bewußtseins sind, die die Subjekte des Kapitalismus an ein Versprechen der eigenen, ihnen längst fremd gewordenen Zivilisation erinnert, nämlich das auf Glück und Erfüllung jenseits von Mangel und Zwang.

Der Kapitalismus, die Zivilisation des freien Tausches, hat das Individuum zwar nur negativ gestiftet, ist aber allen anderen Zivilisationsmodellen gerade deshalb weit überlegen, weil er den Menschen zwingt, sich als einzelner zu vergleichen, und weil er als Maßstab der Vergleichung nicht irgendwelche ewigen, natürlichen Gesetze postuliert, sondern die Marktkonkurrenz. Kapitalismus wird in entlegenen Landstrichen seine Anziehungskraft nie ganz einbüßen, denn nur diese Vergesellschaftung kann dem einzelnen Hinweis sein, daß es noch etwas anderes geben könnte als die Hölle, die die Vergottung von Volk, Familie und Geschlecht ihm bereiten: die Hoffnung auf persönliche Lust im Überfluß und den Antrieb, nicht alles Leben als so geschichts-los und elend hinzunehmen, wie das eherne Moralgesetz es vorschreibt.

Aber die Vordenker in Metropole und Peripherie sind längst auf der Flucht in eine Heimat, die lebensgeschichtlich die scheinbar so glückliche Kindheit meint und zivilisationsgeschichtlich die Rückkehr aus den großen Städten ins Dorf. »Daß diese idyllischen Dörfgemeinschaften, so harmlos sie auch aussehen mögen, seit jeher die feste Grundlage des orientalischen Despotismus gebildet haben, daß sie den menschlichen Geist auf den engsten Gesichtskreis beschränkten, ihn zum gefügigen Werkzeug des Aberglaubens, zum unterwürfigen Sklaven traditioneller Regeln machten und ihn jeglicher Größe und geschichtlicher Energien beraubten« - diese »explicit lyrics« formulierte schon vor 150 Jahren ein besonders perfider eurozentristischer Imperialist, Karl Marx. »Wir dürfen nicht die barbarische Selbstsucht vergessen, die, an einem elenden Stückchen Land klebend, ruhig dem Untergang ganzer Reiche, der Verübung unsäglicher Grausamkeiten, der Niedermet-zelung der Einwohnerschaft großer Städte zusah, ohne sich darüber mehr Gedanken zu machen als über Naturereignisse« (MEW, Band 9, S. 132).

Die Antikapitalisten im Westen treibt eine allzu deutliche Sehnsucht nach dem gerecht verteilten Elend um. Ihre Denunziation ausgelebter Individualität, verbunden mit dem Hohelied auf das einfache und gerechte Leben jenseits der dauernden Herausforderung an den einzelnen, sich tätig vergleichen zu müssen, diese Sehnsucht nach der Infantilgesellschaft hält noch Schlimmeres als die Schrecknisse des gelobten Landlebens bereit. In ihr ist der Alptraum des autarken bäuerlichen Kommunismus der Roten Khmer genauso enthalten wie die Lust auf die fürchtbare Abstrafung von »Verrätern«, die man vom infantilen Zerrbild von Gesellschaft, den Banden, kennt. Noch hinter den Nationalismus von Befreiungsbewegungen zurückfallend, verkündet der moderne Antikapitalismus den Regionalismus als regredierte Utopie, die sich nur noch auf Gemeinschaften und ihre Rechte bezieht, die wiederum auf uralter Volkstradition oder eth-nisierter Lebensweise gründen. Wenn Jose Bove, ein Heroe der Antiglobalisierungsbe-wegung, vermerkt, »ich fühle mich Proud-hon näher als Marx«, umreißt er das gar nicht neue antikapitalistische Programm prägnant: Der Kampf gegen Globalisierung meint die Zerstörung der einzigen Instanz internationaler Vergleichung, des Weltmarkts, und nicht seine Aufhebung durch eine höhere, kosmopolitische Form der Vergesellschaftung. Statt dessen wird der Einrichtung eines weltweiten regionalisierten Netzwerkes von Kleinproduzenten das Wort geredet, die so sehr an ihre verdammte Scholle gebunden sein sollen wie ihre Vorfahren, die einst der Kapitalismus aus dem moralischen Tiefschlaf gerissen hat. Wer die Überwindung des Kapitalismus als Chiapasierung der Welt proklamiert und den Menschen nur etwas zurückgeben will, was sie angeblich einmal hatten, anstatt sich mit ihnen anzueignen, was ihnen von jeher verweigert wurde, der kommt zwangsläufig zu Einsichten wie dieser: »Jede Geschichte, jedes Volk hat seine eigene Art, sich zu ernähren. Wenn man aber diese Vielfalt zerstört, greift man etwas Grundlegendes an. Man kann die Ernährung nicht vereinheitlichen, das wäre ein direkter Angriff auf das Leben der Menschen.« Wer wie Bove, von dem das Zitat stammt, das Versprechen des Roquefortkäses gegenüber Hamburgern ernährungsontologisch auf die völkische Überlebensfrage seiner Nation bringt, der vögelt auch nicht, weil er Lust hat: »Die Ehe ist in unseren Augen nicht einzig und allein Versprechen zwischen zwei Menschen, sondern eine Verpflichtung der Gruppe gegenüber.«

Die beklemmende Nähe solcher Einlassungen zu den Glaubensbekenntnissen anderer, auch eher Proudhon als Marx verpflichteter Feinde des Kapitalismus, die im Schweinefleisch den Angriff auf die Volksgesundheit sehen und durchaus anschlußfähig den gemeinschaftsverpflichtenden Charakter der gegenseitigen Benutzung der Geschlechtswerkzeuge betonen, ist alles andere als Zufall. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft ohne materielles und individuelles Glücksversprechen zielt auf Säuberung vom falschen Denken und von falschen Sehnsüchten. Als wäre alles, was Weltmarkt und Tauschvergesellschaftung hervorgebracht haben, geistige, genetische und kulturelle Verschmutzung, machen sich die Vertreter des moralischen Antikapitalismus an die ideologische und zunehmend auch praktische Zertrümmerung einer Zivilisation, die immerhin mit Erfolg die »Blutsurenge« (Marx), in der die vorkapitalistische Welt befangen war, zerschlagen hat. Die iranischen Medien verarbeiteten die sogenannten Fußballriots und andere Störungen der islamischen Ordnung als gezielte imperialistische Infiltration. Den daran Beteiligten wird nachgesagt, Agenten volksfremder Mächte zu sein, und konsequent wurden die jüngsten Razzien nach Parabolantennen mit der Verseuchung des Äthers durch Feindsender begründet. In Ägypten wurde jüngst ein Schauprozeß gegen Schwule, von denen nicht wenige sich öfters in Israel aufgehalten haben sollen, mit drakonischen Haftstrafen beendet, und in der Landespresse wird die Kastrierung von Homosexuellen als probates Mittel gegen die von ihnen ausgehende moralische Zersetzung empfohlen. Als dem Bauernrevolutionär Bove angesichts des Polizeiterrors während der G-8-Konferenz in Genua nichts anderes einfiel als das Bekenntnis, er fühle sich wie in Ramallah, also jüdischem Staatsterror ausgesetzt, schien in der spontanen Meinungskundgabe der methodische Verfolgungswahn durch, der die globale Bewegung moralischer Antikapitalisten zusammenhalten läßt gegen einen Feind, der in Kairo der gleiche ist wie in der französischen Provinz, wenn der Bauernmob sein Mütchen an McDonald's-Lokalen kühlt.

Wer sich dem kategorischen Imperativ Adornos verpflichtet sieht, weiß natürlich, daß jedes Hohelied auf den regredierenden Stand der kapitalistischen Vergesellschaftung in den Metropolen in die gleiche Sackgasse führen muß, wie die Verzichtsmetaphysik von Globalisierungsgegnern und anderen Feinden Israels. Er wird erkennen können, daß die scheinbaren Verwalter der kapitalistischen Weltordnung nach dem Untergang ihres einzigen, eher halluzinierten als wirklichen Gegners, nicht mehr der bösen Logik der Blockkonfrontation folgen können, sondern sich zunehmend mit der unterschiedslosen Raserei ihrer von jeder Hoffnung befreiten Geschöpfe konfrontiert sehen. Seit die bewaffnete Option der Befreiungsbewegungen einem Antiimperialismus der Zerstörung gewichen ist, der die ihm unterworfenen Gesellschaften ebenso an den Rand des Abgrunds führt, wie er alles bedroht, was seinem Feindbild, dem jüdischen US-Kapital entspricht, können, um des Fortbestands des Weltmarkts willen, selbst Kriegseinsätze der US-Army zur Verbesserung der Lebensverhältnisse in Afghanistan und anderswo rühren. Allerdings liegt in der nach 1990 aufgekommenen Ahnung, daß ein funktionierender Weltmarkt einen »westlichen« Vergesellschaftszustand zur Voraussetzung haben müßte, kein Trost, denn der internationale Verwertungszusammenhang kann diese Voraussetzung nicht stiften.

Es muß also um die Aufhebung von Verhältnissen gehen, die den antisemitischen Furor der Abgehängten in der Peripherie und ihrer zivilisationsfeindlichen Wiedergänger in den Metropolen dauernd neu stiften. Dieser Kampf muß zum Ausgangspunkt die egoistische Einsicht jedes einzelnen haben, in dieser Welt ums eigene Leben betrogen zu sein. Vom wirklichen Leben wird ihm kaum mehr als das im unglücklichen Bewußtsein aufbewahrte Wissen eben dieser westlichen Zivilisation bleiben: daß es Glück in ungeahnter Mannigfaltigkeit, verrücktester Künstlichkeit und Grenzenlosigkeit geben könnte. Diese Kritik am nicht nur eigenen Unglück in der total vergesellschafteten Welt ist der Kritik der politischen Ökonomie verpflichtet, die seit dem letzten gescheiterten Versuch der Befreiung 1917 ff. als Ideologiekritik einen Begriff von der durchaus materiellen Gewalt entwickelt hat, zu der sich die Herrschaft der zweiten Natur aufwerfen kann - in Auschwitz und im Weiterleben seiner Voraussetzungen, denen zuletzt die Twintowers zum Opfer gefallen sind. Von der Praxis wird zunächst kaum mehr bleiben als die schonungslose Kritik einer öffentlichen Meinung, die nicht den Überfluß, sondern den Verzicht, nicht das Subjekt, sondern das Zwangskollektiv will, und eine internationale Solidarität, die sich den Gegnern und Opfern der zivilisationsfeindlichen Raserei zuwendet. Das sind die Juden (nicht nur in Israel), die Frauen, die in Kabul demonstrieren, die verfolgten Schwulen Ägyptens und natürlich die Teheraner Kids.

Editoriale Anmerkung:

Dieser Artikel erschien in KONKRET 01/02. OCR-Scan by Red. trend.

Justus Wertmüller schrieb in KONKRET 5/01 über den Öko-Jihad im Wendland.

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