Gleichheit in der Differenz  
Zur Aktualität von Frantz Fanon in der Antiglobalisierungsdebatte

01/02  trend online zeitung

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Obwohl heute fast vergessen, gehört »Die Verdammten dieser Erde« (1) von Frantz Fanon zu den wichtigsten Büchern des zwanzigsten Jahrhunderts. Der 1925 in der französischen Inselkolonie Martinique geborene Farbige hatte eine völlig neuartige Theorie darüber entwickelt, wie die in Gang gekommenen antikolonialen Bewegungen zur Aufhebung der Entfremdung der Kolonisierten führen könnten, zu ihrer Teilnahme an dem, was damals »Entwicklung« hieß. Der Ton seiner Schriften ist freilich nicht triumphalistisch. Weil er die Realisierungsmöglichkeiten seiner Vorschläge äußerst skeptisch beurteilte und - als aufschreckende Warnung - bereits auch das pessimistische Gegenszenario entwarf, das sich welthistorisch dann realisiert hat: Zunächst nannte man das Phänomen Neokolonialismus, dann Globalisierung.

Fast überall in den ehemaligen Kolonien kamen Politiker an die Macht, die die Volksmassen um die Früchte der Unabhängigkeit betrogen. Statt selbstzentrierte ökonomische Entwicklungen einzuleiten, wurden sie Agenten der ökonomischen und politischen Interessen der alten Kolonialmächte. Insofern erscheint Fanon heute als genialer Prophet der Katastrophen, die in Afrika eingetreten sind. Er sah vorher, daß ohne wirklich demokratische Entwicklungen ethnische Konflikte und weiterhin ökonomische sowie kulturelle Auszehrung verursacht würden.

In den sozialistischen Ländern schlug Fanon nicht nur deshalb Skepsis entgegen, weil er sich gegen das Einparteiensystem aussprach. Seine Theorie vom Menschen war zwar materialistisch, aber nicht ökonomistisch. Komplexlos bediente sie sich einer auf Psychoanalyse beruhenden Kulturtheorie der Moderne, die es in den sozialistischen Ländern nicht gab. Das Nachwort der 1986 in der DDR doch erschienenen Anthologie seiner Schriften (2) stieß sich noch daran, daß die Subjekte, über und für die Fanon seine Theorien entwickelte, Bauern und nicht das Proletariat waren. Im Gegensatz zur von der Geschichte schon längst widerlegten Verherrlichung des Proletariats durch den Realsozialismus verherrlichte Fanon die Bauern jedoch überhaupt nicht. Er hatte sich nur auf den Boden der Realität gestellt. In den meisten Kolonien gab es eben nur bäuerliche Subjekte, die in den Unabhängigkeitskampf geführt werden konnten und denen eine Perspektive erschlossen werden mußte. Der offiziellen sozialistischen Theorie war auch Fanons Überzeugung fremd, daß die bislang unterdrückten Völker die kapitalistischen Länder weder »einholen« noch »überholen« sollten: »Es handelt sich ganz konkret darum, die Menschen nicht auf Wege zu zerren, auf denen sie verstümmelt werden, dem Gehirn keinen Rhythmus aufzuzwingen, der es rasch auslöscht und zerrüttet. Es darf nicht geschehen, daß der Mensch unter dem Vorwand, Europa einzuholen, hin und her gezerrt, sich selbst, seiner Intimität entrissen, zermürbt und getötet wird.«

Den hier von Fanon anvisierten Verzicht auf Konkurrenz nennt man heute »Entschleunigung«. Von der westlichen Linken ist Fanon als »Maoist« oder Apologet jener Vorstellung mißverstanden worden, die die Entkolonialisierungsrevolutionen auf die kapitalistischen Länder übertragen wollte. Und nicht zuletzt meinte man bei ihm auch eine Befürwortung von Gewalt auszumachen, mit der man sowohl in den Kolonien als auch im Westen agieren müsse. Fanon wurde zu einem Vorläufer Che Guevaras umgedeutet, zu einer Gewährsperson der Black Panthers und auch der RAF.

So mag es erstaunen, daß eine historische Sicht auf sein Leben und Werk einen höchst aktuellen Theoretiker der Gewalt, nicht aber ihren Apologeten zu Tage fördert. Und daß er auf Demokratie und Universalismus zielte, ohne auf die Differenz zu verzichten, macht ihn ebenfalls aktuell. Diese Qualitäten heraus gearbeitet und für die Probleme der heutigen Zeit fruchtbar gemacht zu haben ist das Verdienst eines bislang nur in Frankreich erschienenen Buches von Alice Cherki, einer algerischen Jüdin, die Fanons Berufskollegin war und ihm auch in das Engagement für die Unabhängigkeitsbewegung folgte (3). Aussagekräftig ist Cherkis Blick auf Fanons Jugend in Martinique. Weil es hier nur wenige Weiße gab, die sehr isoliert von den schwarzen Mehrheiten lebten, erschienen die Probleme des Rassismus verhaltener. Der aus der Mittelklasse stammende Fanon profitierte von französischer Schulbildung und scheint sehr an die Werte der Republik geglaubt zu haben. Als Hitler angetreten war, um diese Werte auf dem europäischen Kontinent auszurotten, wies er die von vielen Martiniquanern - u. a. auch von dem von ihm bewunderten Aimé Césaire - geteilte Meinung zurück, daß es für die Schwarzen nur gut sein könne, wenn sich die Weißen untereinander bekämpften. Er sah vielmehr im Weltkrieg den Versuch, das weltweit im Rückzug befindliche rassistische Paradigma wieder zu stärken. Deshalb meldete er sich freiwillig zum Kriegseinsatz für die französischen Streitkräfte. In Marokko, später im Elsaß, erlebte er jedoch, daß die aus afrikanischen, bzw. den maghrebinischen Ländern stammenden Soldaten keineswegs die gleichen Rechte hatten wie die »weißen« Franzosen. »Ich habe mich getäuscht«, schrieb Fanon an seine Eltern. Die Republik war nicht das, wofür er sie gehalten hatte. Aber gerade deshalb wird er nun zum entschiedenen Kämpfer für ihre Vollendung.

Fanon ist 1945 wieder in Frankreich, um zu studieren. Lange bleibt er nicht im »Ghetto« der jungen Leute von den Antillen, die in ehemaligen, baufällig gewordenen Bordells der Rue Blondel leben. Er will als Franzose unter Franzosen leben. In Lyon schreibt er sich für das Medizinstudium ein, hört aber auch Philosophie und Literatur, interessiert sich für Ethnologie, liest etwas Trotzki und Marx (»Das Kapital« wird er niemals lesen). Am meisten interessierten ihn der Existentialismus und Freud. Er entscheidet sich für die Spezialisierung zum Psychiater. Fanon lernt profilierte Vertreter der damals erst im Entstehen begriffenen Soziopsychiatrie kennen, die Krankheitsphänomene und Heilungschancen nicht in bezug auf rassische Zugehörigkeit oder auf eine essentialistische Vorstellung weißer Kultur, sondern auf das soziale und familiäre Milieu sehen. Sein später unter dem Titel »Schwarze Haut, weiße Masken« 4) berühmt werdender Text, in dem er sozialpsychologische Wurzeln und Effekte des Rassismus analysierte, wurde als Abschlußarbeit nicht anerkannt. Er mußte eine akademische Studie über die Wirkungen eines Medikaments nachreichen.

Nach kurzer Tätigkeit in Nordfrankreich wurde Fanon 1953 leitender Arzt einer Klinik in Blida-Joinville bei Algier. Hier herrschten noch die überkommenen psychiatrischen Methoden. Die Kranken wurden mit Medikamenten und oft auch mit Gewalt ruhiggestellt und lebten quasi wie im Gefängnis. Im Pavillon der europäischen Frauen begann Fanon mit einem soziopsychiatrischen Experiment. Kranke, Ärzte und Pflegepersonal wurden angeregt, ein gesellschaftliches Leben mit Rechten und Pflichten zu entwickeln, dessen konkretes Ziel zunächst die Ausrichtung des bevorstehenden Weihnachtsfestes war.

Mindestens einmal pro Wache fand ein Plenum statt, in dem jeder seine Kritik vorbringen konnte bzw. sollte. Der Zustand der Kranken besserte sich so spektakulär, daß Fanon ein ähnliches Experiment im Pavillon muslimischer Männer begann, das jedoch zunächst scheiterte. Weder durch die Vorbereitung der Feste noch durch Beschäftigungstherapie in einer Korbflechterei ließen sich die Patienten aus ihrer Lethargie locken. Fanon kannte die algerische Kultur nicht und brauchte ein paar Monate engster Zusammenarbeit mit den muslimischen Pflegern sowie zahlreiche Exkursionen in Dörfer der nahegelegenen Kabylei, um zu verstehen, daß der Mißerfolg darin begründet war, daß man den Männern Beschäftigungen angeboten hatte, die in ihrem Milieu als Frauenarbeit galten. Positive Resultate brachte erst die Einrichtung einer Moschee und eines maurischen Cafés. (Analog dazu sollten die europäischen Männer später ein französisches Café bekommen.)

Kurze Zeit nach Fanons Ankunft begann der algerische Unabhängigkeitskampf. Er bekam bald Patienten, deren Symptome durch Folterungen ausgelöst waren. Fanon mußte auch psychisch gestörte Folterer behandeln. Dieser Koinzidenz hätte es nicht bedurft, um ihm die Unhaltbarkeit der Situation für Kolonisierte und Kolonisatoren bewußt zu machen. Die Klinik in Blida lieferte dem Widerstand Medikamente und bot nicht nur den Kämpfern Unterschlupf, die wirklich krank waren. Dies blieb den Behörden nicht verborgen. Doch ehe sie ihren Verdacht erhärten konnten, reichte Fanon einen später als Plädoyer für die Unabhängigkeit Algeriens berühmt werdenden Demissionsbrief ein. Mit einem Teil seiner Mitarbeiter - darunter auch Alice Cherki - ging er nach Tunis. Dort befand sich die algerische Exilregierung. Einige der zurückgebliebenen Mitarbeiter gerieten jedoch in Haft, die manche nicht überlebten. In Tunesien befanden sich auch Zehntausende Flüchtlinge und Kämpfer (die spätere »Grenzarmee« Houari Boumedienes).

Fanon und seine Equipe beschäftigten sich nicht nur mit den Traumatisierungen der Flüchtlinge. Er konnte auch ein neuartiges sozialherapeutisches Experiment in Tunis beginnen. Es beruhte auf dem Gedanken, daß permanente Hospitalisierung für zahlreiche Patienten nicht nützlich (und für arme Länder auch kaum finanzierbar) ist. Fanon richtete eine Tagesklinik ein, wo die Kranken therapiert wurden, ohne vollkommen aus ihrer sozialen Umgebung gerissen zu werden. Außerdem arbeitete er als Autor und Redakteur beim Moudjahid, der Zeitung der Exilregierung. Schließlich wurde er ihr Botschafter bei vielen, 1960 unabhängig werdenden afrikanischen Staaten.

Damals wurde eine rasch voranschreitende Leukämie bei ihm festgestellt, die weder bei einem mehrmonatigen Aufenthalt in der Sowjetunion noch in den USA geheilt wurde. Fanon starb, sechsundreißigjährig, ein halbes Jahr vor der algerischen Unabhängigkeit, in einer Washingtoner Klinik. Drei Tage vor seinem Tod hielt er noch ein Exemplar von »Die Verdammten dieser Erde« 5) in der Hand, das er seiner französischen Frau Josie diktiert hatte. Alice Cherki macht klar, daß die falsche Sicht auf Fanon als undifferenzierten Apologeten der Gewalt durch das Vorwort von Jean Paul Sartre provoziert worden ist. 6) Fanon schlägt zwar tatsächlich vor, Aggressivität und Gewalt vor allem als Reaktion derer anzusehen, die von der Teilhabe an der Entwicklung der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Aber er differenziert doch deutlich zwischen der Herrschaftssituation in den »Demokratien« und den »Kolonien«. »In den kapitalistischen Ländern schiebt sich zwischen die Ausgebeuteten und die Macht eine Schar von Predigern und Morallehrern, die für Desorientierung sorgen. Das Unterrichtswesen, gleichgültig ob weltlich oder religiös; die Ausbildung von moralischen Reflexen, die vom Vater auf den Sohn übertragen werden; die vorbildliche Anständigkeit von Arbeitern, die nach fünfzig Jahren guter Dienste mit einer Medaille bedacht werden; die allgemein ermunternde Liebe zur Eintracht und zur bürgerlichen Bravheit - all diese geradezu ästhetischen Formen des Respekts vor der etablierten Ordnung schaffen um den Ausgebeuteten eine Atmosphäre der Unterwerfung und Entsagung, welche den Ordnungskräften ihre Arbeit beträchtlich erleichtert. Dagegen sind es in den kolonialen Gebieten der Gendarm und der Soldat, die, ohne jede Vermittung, durch direktes und ständiges Eingreifen den Kontakt zum Kolonisierten aufrechterhalten und ihm mit Gewehrkolbenschlägen und Napalmbomben raten, sich nicht zu rühren. Man sieht, der Agent der Macht benutzt die Sprache der reinen Gewalt. Der Agent erleichtert nicht die Unterdrückung und verschleiert nicht die Herrschaft. Er stellt sie zur Schau, er manifestiert sie mit dem guten Gewissen der Ordnungskräfte. Der Agent trägt die Gewalt in die Häuser und in die Gehirne der Kolonisierten.«

Fanon unterschied also zwischen den Kolonien und Gesellschaften, in denen sich Demokratie und Zivilgesellschaft herausbilden konnten und deren Weiterentwicklung offenbar andere, eben »zivile« Kampfformen erforderte. Die Kolonisierten indes waren sowohl aus dem zivilgesellschaftlichen als auch aus dem ökonomischen Leben der sie beherrschenden »Demokratien« ausgeschlossen. Weil sich ihnen gegenüber Herrschaft nur in der Form von Gewalt ausdrückte, blieb ihnen nach Fanon auch nur die Gewalt, um sich zu befreien.

Fanons Vorstellung, daß die Wahrscheinlichkeit und auch die Legitimität von Gewalt steigt, wenn die Marginalisierung von Bevölkerungsgruppen zunimmt, ist auch nach der Entkolonisierung aktuell geblieben. Alice Cherki verweist hier nicht nur auf die desaströse Situation in den ehemaligen Kolonien, sondern auch auf die von politischen, kulturellen und ökonomischen Rechten weitgehend ausgeschlossenen Flüchtlingsgruppen in den westlichen Ländern, die in der Tat ein unberechenbares Gewaltpotential darstellen.

So überzeugt Fanon war, daß nicht nur der psychisch Kranke, sondern auch die unterdrückten Völker nur durch Wiederaneignung ihrer Kultur zu sich selbst finden können, so entschieden verurteilte er alle statischen Konzepte traditioneller Kulturen.

Fälschlich auf Fanon beruft sich daher die im Iran und auch im Westen verbreitete Ethnopsychiatrie, die sowohl den »Entkolonisierten« als auch den Immigranten in Europa durch eine ghettoartige Rekonstruktion ihrer traditionellen Kultur und Religion helfen will. Das Stehenbleiben oder gar der Rückfall auf eine kulturelle Stufe der Vergangenheit führt für Fanon nur zur »Versteinerung«. Zwar ist die Anerkennung der Würde der traditionellen und der Alltagskultur der Ausgangspunkt jeder Verständigung. Eine Konfliktlösung erfolgt jedoch nur durch die Einbeziehung der Marginalisierten in die allgemeine Entwicklung, d.h. durch die Aufhebung der Marginalisierung. Und die selbstbestimmte Bewegung, in die alle Menschengruppen kommen sollen, wird zwar einen jeweils eigenen Rhythmus, aber durchaus dasselbe Ziel haben: eine Weltrepublik von Gleichberechtigten: »Nein, wir wollen niemanden einholen. Aber wir wollen die ganze Zeit, Tag und Nacht, in Gesellschaft des Menschen marschieren, in Gesellschaft aller Menschen. Es kommt darauf an, den Zug nicht auseinanderzuziehen...«

1) Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Reinbeck, 1969
2) Frantz Fanon: Das kolonisierte Ding wird Mensch, Ausgewählte Schriften. Leipzig 1986.
3) Alice Cherki: Frantz Fanon - Portrait. Paris 2000

4) Frantz Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt/Main 1980.
5) Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Reinbeck 1969
6) Alice Cherki: Frantz Fanon - Portrait. Paris 2000

 

Editoriale Anmerkung:  

Dieser Artikel ist eine Spiegelung von: http://www.roteswinterhude.de/fanon.htm