Fanons Lehre von der befreienden Gewalt*

von Karl Theodor Schuon

01/02  trend online zeitung

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„Entschließen wir uns, Europa nicht zu imitieren. Spannen wir unsere Muskeln und Gehirne für einen neuen Kurs an. Versuchen wir den totalen Menschen zu erfinden, den zum Siege zu führen Europa unfähig war (240)." Dieser Satz des großen Schlußappells aus dem Hauptwerk Frantz Fanons enthält die Quintessenz seines revolutionären Programms: gegen ein korruptes Europa, „das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft" (239), wird die Welt der Kolonisierten aufgerufen, „durch die absolute Gewalt" (29) die Kolonialherrschaft zu brechen und einen neuen Mensehen, den „totalen Menschen" zu schaffen - eine neue Qualität in der Entwicklung der Geschichte der Menschheit. Das ist, man möchte fast sagen, die ideologische Einkleidung einer Theorie der afrikanischen und südamerikanischen Revolution, die Fanon in mitreißenden Formulierungen, pathetischen Ausbrüchen, aber auch detailierter Beschreibung gesellschaftlicher Zustände in diesem seinem Hauptwerk gleichsam als Testament hinterließ - am Tage seines Todes im Dezember 1961 wurde das Buch in Paris veröffentlicht. Inzwischen ist es nicht nur das meistgelesene Buch der Revolutionäre Afrikas und Südamerikas. Es ist auch die Bibel der „Black Power"-Bewegung geworden und Fanon ihr Prophet. Der 1924 in Martinique geborene Bauernsohn studierte in Frankreich Philosophie und Medizin, ging 1953 als Arzt nach Algerien und wurde Chefarzt der psychiatrischen Klinik in Blida-Joiville. Drei Jahre später demissionierte er und unterstützte nun den Kampf der Nationalen Befreiungsfront, zeitweilig als Botschafter der provisorischen algerischen Regierung in Accra, bis er einer unheilbaren Krankheit erlag.

Fanons Theorie der kolonialen Revolution basiert auf den Grunderkenntnissen von Marx, kann aber starke Einflüsse Hegels nicht verleugnen. Die Dialektik von Herr und Knecht (von Sartre unnötigerweise im Vorwort noch einmal ausgebreitet, doch ohne empirische Relevanz) wird von Fanon massenpsychologisch fundiert und ausgeweitet, nicht so sehr ökonomisch, was ihm ermöglicht, den „totalen Menschen" zu fordern, der im Prozeß der Dekolonisation entsteht, der in diesem Befreiungsprozeß geschaffen wird aus einem Wesen, das bis dahin kein Mensch, sondern ein Halbtier oder Halbmensch war. Denn der Gegensatz des Kolonisierten zum Kolonialherrn ist kein menschlicher Gegensatz, sondern der Gegensatz zwischen Mensch und Unmensch. Nur die gewaltsame Revolution schafft den Eingeborenen wieder als Mensch, befreit ihn von Frustration, Repression und ungerichteter, selbstzerstörender Aggression, lenkt diese auf das einzig sinnvolle Ziel, seinen Unterdrücker und Zerstörer seines Menschseins. Die Analyse der Kolonialwelt als einer zweigeteilten Welt, einer in Abteile getrennten Welt liefert die Basis dieser radikalen Forderungen, wie sie seit Sorel nicht mehr gehört wurden. Sorels Theorie einer befreiend wirkenden Gewalt entbehrt allerdings einer vergleichbaren empirischen und rationalen Basis. Die zweigeteilte Welt des Kolonisierten ist gekennzeichnet durch nackten Terror der Polizei und der Armee; keine Manipulationsmechanismen, keine tradierte Moral oder eingespielte Verhaltensmuster halten die Herrschaft aufrecht, sondern unverhüllte, zur Schau gestellte Gewalt. Die Wohnplätze sind räumlich getrennt in Beton- und Asphaltstädte und ausgehungerte, unzivilisierte Negerdörfer. Keine autochthone Herrenschicht, sondern eine fremde Rasse zieht eine genaue Grenze zwischen sich und den farbigen Unmenschen. Die Ökonomie ist damit Unterbau und Überbau zugleich, die rassische Unterteilung ist nicht zu überspringen. Bis hinein in die Sprache wird der Kolonisierte als Nicht-Mensch behandelt; die Sprache ist eine zoologische, wenn sie vom Kolonisierten spricht:

seinen Ausdünstungen, seinem Gestank, von den Horden, dem Gewucher und Gewimmel. „Der Kolonisierte weiß das alles und lacht,

wenn er in den Worten des ändern als Tier auftritt. Denn er weiß, daß er kein Tier ist. Und genau zur selben Zeit, da er seine Menschlichkeit entdeckt, beginnt er seine Waffen zu reinigen, um diese Menschlichkeit triumphieren zu lassen (33)."

Als Unterdrückter richtet der Kolonisierte seine Aggressivität zunächst gegen seinesgleichen. Periodische blutige Explosionen in Stammesfehden, Cof-Kämpfen und Schlägereien sind kollektive Formen von Ersatzhandlung. „In den Stammesfehden leben die alten, in das kollektive Gedächtnis eingegangenen Ressentiments wieder auf. Der Kolonisierte stürzt sich mit Haut und Haaren in derartige Racheakte und will sich dadurch einreden, daß der Kolonialismus nicht existiere, daß alles so geblieben sei wie früher, daß seine Geschichte einfach weitergehe (42)." Die Kriminalität, die von den Psychologen der psychiatrischen Schule von Algier auf die besondere Gehirnstruktur und Anlage des Nervensystems des Nordafrikaners zurückgeführt wurde, ist in Wirklichkeit die Reaktion auf eine Atmosphäre der Unterdrückung, in der leben nicht mehr „Werte verkörpern" heißt, sondern lediglich: nicht sterben. Fanon liefert in einem Anhang eine vernichtende Kritik dieser Theorie der Kolonialprofessoren, die jahrzehntelang auf den Lehrstühlen für Psychiatrie in Algier vertreten wurde und jetzt zusammenbrechen muß, weil sie nicht mehr erklären kann, warum seit 1954, dem Beginn des Befreiungskampfes, ein fast vollständiges Verschwinden der Verbrechen registriert wird und vor allem: „In den schon befreiten Ländern des Maghreb bleibt... diese während der Befreiungskämpfe festgestellte Erscheinung bestehen und konsolidiert sich mit der Unabhängigkeit (236)." Die andere Art mit der ständigen Bedrohung fertig zu werden ist die Flucht in eine fatalistische, magische Religion, mit ihren Tänzen und ihrer „Besessenheit" als Entladung von Aggressivität.

In dieser Situation gibt es nach Fanon nur ein Mittel, das wirklich helfen kann: den offenen, bewaffneten Kampf gegen den Kolonialherrn. Nur in diesem Kampf kann der Kolonisierte sich als Mensch wieder finden. Der Kampf gegen den Kolonialherrn ist seine „Arbeit", die ihn zum Menschen macht. Der Marxsche Arbeitsbegriff bekommt hier eine andere Grundlage, jedoch kaum eine neue Bedeutung. Fanon geht damit - wenn auch unausgesprochen -, auf eine Erkenntnis von Hegel zurück, der die Selbstbestätigung des Menschen als konstitutive Bedingung des menschlichen Seins auch im Kampf des Menschen gegen seinesgleichen gegeben sieht, diese Form allerdings verwirft, weil sie keine Dauer habe. Für Fanon stellt sie eine Übergangsform dar, die integrierend und bestätigend wirkt. „Arbeiten heißt, am Tod des Kolonialherrn arbeiten (66)." Durch diese „Arbeit" werden die subjektiven und objektiven Möglichkeiten einer neuen Nation geschaffen. Es entsteht eine neue integrierte Gesellschaft, die den Kampf gegen Elend, Analphabetentum und Unterentwicklung ermöglicht und deren einzelne Glieder ihren Minderwertigkeitskomplex und ihre kontemplative Haltung verwandelt haben in Aktivität.

Fanons politisches Konzept mündet in eine kühne Vision, wenn er es auf die internationale, globale Machtkonstellation bezieht. Aus eigener Kraft und ohne Unterstützung durch die Länder, die jahrhundertelang die Kolonisierten beraubten und ausbeuteten, würden diese wiederum Jahrhunderte brauchen, um die ehemaligen „Mutterländer" einzuholen. Geht man aber auf die Bedingungen der Schutzmacht ein, die sie für ihre Hilfe stellt, wird man ein „ökonomisch abhängiges Land" (76). In dieser Lage hilft nur eine „autarke Kollektivwirtschaft" (82) aller unterentwickelten Länder, die die westliche Industrie ihrer Absatzmärkte beraubt, damit Arbeitslosigkeit in den Industrieländern erzeugt und so den Kampf des Proletariats gegen das Kapital entzündet und verschärft. Die Monopole müssen nun den unterentwickelten Ländern „massiv und ohne allzu viele Bedingungen" (82) helfen. Aber, so möchte man fragen, wenn nun dieses „Proletariat" lieber in einen Krieg zieht? Das sei, nach Fanon, nicht mehr möglich, da jeder „Aufstand, jede Erhebung in der Dritten Welt... im Rahmen des Kalten Krieges Bedeutung" gewinnt. Keine Seite könne sich eine solche Blöße geben. Wenn aber nun der Kalte Krieg zu Ende geht? Fanon hat es nicht mehr erlebt.

Die große, gewaltsame Revolution der Befreiung hat sich in den Ländern der Kolonisierten nach Fanon nicht auf das Proletariat, eine privilegierte kleine Schicht von kaum mehr als l % der Bevölkerung zu stützen, sondern auf die Masse der Verarmten und Hungernden, die Bauern. Vietnam beweist die Richtigkeit dieser These täglich. Fanons Argumentationen sind in diesem zweiten Teil seines Buches schwächer, weil sie konkreter sein müssen. Seine Stärke liegt in allgemeineren, philosophischen oder psychologischen Aussagen, doch deren Richtigkeit müßte konkret begründbar sein. - Die bäuerliche Masse verteidigt nach Fanon „hartnäckig (ihre) Traditionen und stellt in der kolonisierten Gesellschaft das disziplinierte Element dar, dessen Sozialstruktur eine gemeinschaftliche bleibt" (87). Hier bietet sich der Ansatzpunkt revolutionärer Praxis, denn das Proletariat der Städte neigt zum Kompromiß mit den Kolonialisten und das Lumpenproletariat der städtischen Slums braucht eine Führung, ohne die es jederzeit konterrevolutionär mobilisiert und in Söldnerheeren aktiviert werden kann. Die bürgerliche Oberschicht kennt lediglich den Handel oder landwirtschaftliche Großunternehmungen. Sie ist niemals an industrieller Produktion und Aufbau interessiert, sondern lediglich an Vermittlungstätigkeiten und „gefällt sich... in der Rolle eines Geschäftsvertreters der westlichen Bourgeoisie" (118). Gewinn wird nicht investiert, sondern in Luxuskonsum verbraucht oder ins Ausland abgeschoben. Die politische Form der Herrschaft dieser bürgerlichen Oberschicht ist die Diktatur eines Führers, der „Schmalspur-Faschismus" (132) lateinamerikanischer Prägung. „Eine bürgerliche Phase ist in den unterentwickelten Ländern unmöglich". (134) Die Bauern also sind das revolutionäre Subjekt. Sie lassen sich allerdings nur gewinnen, wenn man die Geschichte des Dorfes, die Geschichte der traditionellen Klan- und Stammeskonflikte „harmonisch in die entscheidende Aktion ... einfügen" (88)

kann. Wie aber soll das geschehen? Fanon antwortet darauf mit der Forderung, die ländlichen Massen zu organisieren und zu politisieren, sie in einen rasanten Bildungsprozeß einzubeziehen. Anknüpfend an bestehende Institutionen des Landes, wie z. B. Dorfversammlungen, sollen die Massen in einer demokratischen Organisation von einem undifferenzierten Nationalismus zu sozialem und wirtschaftlichem Bewußtsein gelangen. Fanons Vision ist ebenso einleuchtend wie nichtssagend. Denn daß eine demokratische Organisierung der bäuerlichen Massen allein eine diktatorische Manipulation verhindern kann, ist auch dann eine Binsenweisheit, wenn man sie mit dem schillernden Begriff „dialektisch" auf ein vorgeblich sozialistisches Begriffsniveau hebt. Es leuchtet nicht ein, daß diese in magischen Riten und uralten Stammestraditionen erzogenen ländlichen Massen z. B. Afrikas innerhalb kurzer Zeit, wie lange auch der Revolutionsprozeß im einzelnen dauern mag, in der Lage wären, auf der Grundlage rationaler Einsicht demokratisch zu agieren. Daß Fanon das Problem der Führung der Massen nicht eingehend reflektiert, macht sein Buch fast gefährlich. Die revolutionäre Mobilisierung der Massen ist ohne Zweifel als notwendig nachgewiesen, doch wozu kann sie führen, wenn das Problem ihrer rationalen Führung bei nur bedingter demokratischer Kontrolle durch allgemeine Phrasen der Demokratisierung des Volkes beiseitegeschoben wird!? Die schnell herbeigezauberte Formel des „Dialektischen Widerspruchs" sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß nur eine detaillierte ökonomische wie sozialpsychologische Analyse und Theorie die Garantie dafür liefern kann, daß die revolutionäre Praxis auch das intendierte Ergebnis zeitigt.

Im Anhang trägt Fanon einige Beispiele psychischer Störungen im Kolonialkrieg (nicht in der vorrevolutionären Kolonialepoche!) zusammen. Fanon stellt hier an einer einzigen Stelle die Frage, die Europäer vielleicht mehr bewegt, als die, für die Fanon geschrieben hat: Welchen Preis zahlt der Revolutionär oder hat er nur zu gewinnen? Der durch die Revolution zum „Menschen" gewordene Halbmensch leidet nun z. B. periodisch an Schwindelanfällen. Fanon beschließt diesen Abschnitt mit dem Satz: „Wer wagte zu behaupten, daß das Schwindelgefühl nicht jede Existenz heimsucht? (193)" Diese Anthropologisierung kommt uns ihrerseits gewagt vor. Sie ist ein wesentliches Element in Fanons Theorie der Menschwerdung durch Gewalt. Wo bleibt aber dann die neue Qualität eines „totalen Menschen"? - Trotzdem bleibt diese Theorie die große geistige Herausforderung der von Europa geprägten Zivilisation. Vietnam und „Black Power" sind heute die Parallelen der Realität.

* Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean Paul Sartre. Aus dem Französischen von Traugott König. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1966 (242 S., kart., 12,- DM).

Editoriale Anmerkung:  

Dieser Artikel erschien in Das Argument Nr. 45, 9 Jhg., Dezember 1967, Heft 5/6, S. 417ff. OCR-Scan by Red. trend