Frantz Fanon
"Los meine Kampfgefährten..."

01/02  trend online zeitung

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Los, meine Kampfgefährten, es ist besser, wenn wir uns sofort entschließen, den Kurs zu ändern. Die große Nacht, in der wir versunken waren, müssen wir abschütteln und hinter uns lassen. Der neue Tag, der sich schon am Horizont zeigt, muß uns standhaft, aufgeweckt und entschlossen antreffen.

Unsere Träume, unseren alten Glauben und unsere Freundschaften aus der Zeit vor dem Leben müssen wir aufgeben. Verlieren wir keine Zeit mit sterilen Litaneien oder ekelhafter Nachäfferei. Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt.

Ganze Jahrhunderte lang hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und zu seinem Ruhm unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im Namen seines angeblichen "geistigen Abenteuers' fast die gesamte Menschheit erstickt. Seht, wie es heute zwischen der atomaren und der geistigen Auflösung hin und her schwankt.

Und trotzdem kann man von ihm sagen, daß es alles erreicht hat. 

Mit Energie, Zynismus und Gewalt hat Europa die Führung der Welt übernommen. Seht, wie der Schatten seiner Monumente sich ausbreitet und vergrößert. Jede Bewegung Europas hat die Grenzen des Raumes und des Denkens gesprengt. Europa hat jede Demut, jede Bescheidenheit zurückgewiesen, aber auch jede Fürsorge, jede Zärtlichkeit. 

Nur beim Menschen hat es sich knauserig gezeigt, nur beim Menschen schäbig, raubgierig, mörderisch.

Brüder, wie sollten wir nicht begreifen, daß wir etwas Besseres zu tun haben, als diesem Europa zu folgen.

Dieses Europa, das niemals aufgehört hat, vom Menschen zu reden,-niemals aufgehört hat, zu verkünden, es sei nur um den Menschen besorgt: wir wissen heute, mit welchen Leiden die Menschheit jeden der Siege des europäischen Geistes bezahlt hat.

Los, Genossen, Europa hat endgültig ausgespielt, es muß etwas anderes gefunden werden. Wir können heute alles tun, vorausgesetzt, daß wir nicht Europa nachäffen, vorausgesetzt, daß wir nicht von der Begierde besessen sind, Europa einzuholen.

Europa hat ein derart wahnsinniges und chaotisches Tempo erreicht, daß es heute jedem Piloten, jeder Vernunft davonrast und sich in einementsetzlichen Taumel auf Abgründe hin bewegt, von denen man sich lieber so schnell wie möglich entfernen sollte... 

Entschließen wir uns, Europa nicht zu imitieren. Spannen wir unsere Muskeln und Gehirne für einen neuen Kurs an. Versuchen wir, den totalen Menschen zu erfinden, den zum Siege zu führen Europa unfähig war. Vor zwei Jahrhunderten hatte sich eine ehemalige europäische Kolonie in den Kopf gesetzt, Europa einzuholen. Es ist ihr so gut gelungen, daß die Vereinigten Staaten ein Monstrum geworden sind, bei dem die Geburtsfehler, die Krankheiten und die Unmenschlichkeit Europas grauenhafte Dimensionen angenommen haben. 

Genossen, haben wir nichts Besseres zu tun, als ein drittes Europa zu schaffen? Der Okzident hat ein Abenteuer des Geistes sein wollen. Im Namen des Geistes, des europäischen Geistes, versteht sich, hat Europa seine Verbrechen gerechtfertigt und die Versklavung legitimiert, welcher es vier Fünftel der Menschheit unterworfen hatte. 

Ja, der europäische Geist hat merkwürdige Grundlagen. Das europäische Denken ist auf immer ödere und abschüssigere Bahnen geraten. So wurde es ihm zur Gewohnheit, immer weniger auf den Menschen zu stoßen.

Ein permanenter Dialog mit sich selbst, ein immer obszönerer Narzißmus haben einer Art Delirium das Bett bereitet, in dem die Arbeit des Gehirns zum Leiden wird, weil die Realitäten gar nicht mehr die des lebendigen, arbeitenden und sich schaffenden Menschen sind, nur noch Wörter, verschiedene Zusammenstellungen von Wörtern, die Spannungen der in den Wörtern enthaltenen Bedeutungen. Es haben sich dennoch Europäer gefunden, die die europäischen Arbeiter aufriefen, diesen Narzißmus zu zerstören und mit dieser Entwicklung zu brechen. 

Die europäischen Arbeiter sind diesen Appellen im Allgemeinen nicht gefolgt, denn auch sie glaubten sich von dem wunderbaren Abenteuer des europäischen Geistes betroffen. 

Alle Elemente einer Lösung der großen Probleme der Menschheit sind zu verschiedenen Zeiten im Denken Europas aufgetaucht. Aber in seinem Handeln hat der europäische Mensch die ihm zufallende Mission nicht erfüllt: mit aller Gewalt auf diese Elemente zu setzen, ihre Anordnung, ihr Sein zu modifizieren, sie zu verändern und schließlich das Problem des Menschen auf eine unvergleichlich höhere Stufe zu heben.

Heute erleben wir eine Stagnation Europas. Fliehen wir, Genossen, diese unbewegliche Bewegung, in der die Dialektik sich ganz allmählich zu einer Logik des Gleichgewichts gemausert hat. Nehmen wir die Frage des Menschen wieder auf. Nehmen wir die Frage nach der Realität des Gehirns, der Gehirnmasse der ganzen Menschheit wieder auf, deren Kombinationen vervielfältigt, deren Strukturen differenziert und deren Botschaften vermenschlicht werden müssen. 

Los, Brüder, wir haben viel zuviel Arbeit, um uns mit Rückzugsgefechten die Zeit vertreiben zu können. Europa hat getan, was es tun mußte, und alles in allem hat es seine Sache gut gemacht. Hören wir auf, es anzuklagen, aber sagen wir ihm ins Gesicht, daß es nicht mehr soviel Wind machen soll. Wir haben es nicht mehr zu fürchten, hören wir also auf, es zu beneiden.

Die Dritte Welt steht heute als eine kolossale Masse Europa gegenüber; ihr Ziel muß es sein, die Probleme zu lösen, die dieses Europa nicht hat lösen können.

Aber dann darf sie auf keinen Fall von Ertrag, von Intensivierung, von Rhythmus sprechen. Nein, es handelt sich nicht um eine Rückkehr zur Natur. Es handelt sich ganz konkret darum, die Menschen nicht auf Wege zu zerren, auf denen sie verstümmelt werden, dem Gehirn keinen Rhythmus aufzuzwingen, der es rasch auslöscht und zerrüttet. Es darf nicht geschehen, daß der Mensch unter dem Vorwand, Europa einzuholen, hin und her gezerrt wird, sich selbst, seiner Intimität entrissen, zermürbt und getötet wird.

Nein, wir wollen niemanden einholen. Aber wir wollen die ganze Zeit, Tag und Nacht, in Gesellschaft des Menschen marschieren, in Gesellschaft aller Menschen. Es kommt darauf an, den Zug nicht auseinanderzuziehen, weil sonst jede Reihe die vor ihr nicht mehr erkennen kann, und Menschen, die einander nicht mehr erkennen, begegnen einander immer weniger und sprechen immer weniger miteinander.

Für die Dritte Welt geht es darum, eine Geschichte des Menschen zu beginnen, die den von Europa einst vertretenen großartigen Lehren, aber zugleich auch den Verbrechen Europas Rechnung trägt, von denen das verabscheuungswürdigste gewesen sein wird: beim Menschen die pathologische Zerstückelung seiner Funktionen und die Zerstörung seiner Einheit; beim Kollektiv der Bruch, die Spaltungen; und schließlich auf der unermeßlichen Ebene der Menschheit der Rassenhaß, die Versklavung, die Ausbeutung und vor allem der unblutige Völkermord, nämlich das Beiseiteschieben von anderthalb Milliarden Menschen. 

Also, meine Kampfgefährten, zahlen wir Europa nicht Tribut, indem wir Staaten, Institutionen und Gesellschaften gründen, die von ihm inspiriert sind.

Die Menschheit erwartet etwas anderes als diese fratzenhafte und obszöne Nachahmung.

Wenn wir Afrika und Lateinamerika in ein neues Europa verwandeln wollen, dann vertrauen wir die Geschicke unserer Länder lieber den Europäern an!  Sie werden es besser machen als die Begabtesten unter uns.

Wenn wir jedoch wollen, daß die Menschheit ein Stück vorwärts kommt, wenn wir sie auf eine andere Stufe heben wollen als die, die Europa innehat, dann müssen wir wirkliche Erfindungen und Entdeckungen machen.

Wenn wir der Erwartung unserer Völker nachkommen wollen, dann müssen wir woanders als in Europa auf die Suche gehen. Mehr noch, wenn wir der Erwartung der Europäer nachkommen wollen, dann dürfen wir ihnen kein, wenn auch noch so ideales, Bild ihrer Gesellschaft und ihres Denkens zurückwerfen, für die sie von Zeit zu Zeit einen ungeheuren Ekel empfinden.

Für Europa, für uns selbst und für die Menschheit, Genossen, müssen wir eine neue Haut schaffen, ein neues Denken entwickeln, einen neuen Menschen auf die Beine stellen. '

Editoriale Anmerkung:  

Auszug aus
"Die Verdammten dieser Erde", entnommen aus: Bahlsen, Rössel, Hoch die Internationale Solidarität, Köln 1986, S. 69ff

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