Frantz Fanon
Von der Gewalt

01/02  trend online zeitung

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Nationale Befreiung, nationale Wiedergeburt, Rückgabe der Nation an das Volk, Commonwealth, wie die verwendeten Rubriken und neu erfundenen Formeln auch heißen mögen - die Dekolonisation ist immer ein gewaltsames Phänomen. Wo man auch hinsieht: »gesellschaftliche Verpflichtungen«, Neubenennungen von Sportclubs, Zusammensetzung der Cocktail-Parties, der Polizei, der Aufsichtsräte staatlicher oder privater Banken - die Dekolonisation ersetzt ganz einfach eine bestimmte »Art« von Menschen durch eine andere »Art« von Menschen. Ohne Übergang findet ein totaler und vollständiger Austausch statt. Natürlich könnte man auch das Auftauchen einer neuen Nation, die Errichtung eines neuen Staates, seine diplomatischen Beziehungen, seine politische und wirtschaftliche Orientierung beschreiben. Wir haben uns jedoch entschlossen, gerade von jener tabula rasa zu reden, die zu Beginn jede Dekolonisation kennzeichnet. Sie stellt vom ersten Tage an die Minimalforderung des Kolonisierten dar. In der Tat ist der Beweis für ihren Erfolg ein von Grund aus verändertes soziales Panorama. Die außerordentliche Bedeutung dieser Veränderung besteht darin, daß sie gewollt, verlangt, gefordert wird. Die Notwendigkeit dieser Veränderung existiert im Rohzustand, übermächtig und zwingend, im Bewußtsein und im Leben der kolonisierten Männer und Frauen. Aber die Eventualität dieser Veränderung wird zugleich als schreckenerregende Zukunft im Bewußtsein einer anderen »Art« von Männern und Frauen erlebt: der Kolonialherren.

Die Dekolonisation, die sich vornimmt, die Ordnung der Welt zu verändern, ist, wie man sieht, ein Programm absoluter Unordnung. Sie kann nicht das Resultat einer magischen Operation, eines natürlichen Erdstoßes oder einer friedlichen Obereinkunft sein. Die Dekolonisation ist bekanntlich ein historischer Prozeß; das heißt, sie kann nur in dem Maße verstanden werden, ihre Intelligibilität finden, sich selbst durchschaubar sein, in dem die geschichtsbildende Bewegung, die ihr Form und Inhalt gibt, erkannt wird. Die Dekolonisation ist das Zusammentreffen zweier von Geburt an antagonistischer Kräfte, die ihre Eigentümlichkeit gerade aus jener Verdinglichung gewinnen, welche die koloniale Situation absondert und speist. Ihre erste Konfrontation hat sich unter dem Zeichen der Gewalt abgespielt und ihr Zusammenleben - genauer: die Ausbeutung des Kolonisierten durch den Kolonialherrn - wurde mit Hilfe von Bajonetten und Kanonen erzwungen. Der Kolonialherr und der Kolonisierte sind alte Bekannte. Und der Kolonialherr kann tatsächlich mit Recht behaupten, »sie« zu kennen. Er ist es, der den Kolonisierten geschaffen hat und noch fortfährt, ihnschaffen. Der Kolonialherr gewinnt seine Wahrheit, das heißt seine Güter, aus dem Kolonialsystem.

Die Dekolonisation geschieht niemals unbemerkt, denn sie betrifft das Sein, sie modifiziert das Sein grundlegend, sie verwandelt die in Unwesentlichkeit abgesunkenen Zuschauer in privilegierte Akteure, die in gleichsam grandioser Gestalt vom Lichtkegel der Geschichte erfaßt werden. Sie führt in das Sein einen eigenen, von den neuen Menschen mitgebrachten Rhythmus ein, eine neue Sprache, eine neue Menschlichkeit. Die Dekolonisation ist wahrhaft eine Schöpfung neuer Menschen. Aber diese Schöpfung empfängt ihre Legitimität von keiner übernatürlichen Macht: das kolonisierte »Ding« wird Mensch gerade in dem Prozeß, durch den es sich befreit. In der Dekolonisation steht also die Forderung einer vollständigen Infragestellung der kolonialen Situation. Ihre Definition ist, wenn man sie genau beschreiben will, in dem altbekannten Satz enthalten; »Die letzten werden die ersten sein«. Die Dekolonisation macht diesen Satz wahr. Deshalb ist, wenigstens von außen gesehen, jede Dekolonisation ein Erfolg.

Die nackte Dekolonisation atmet durch alle ihre Poren brutale Aggressionen, sie läßt blutige Messer ahnen. Denn wenn die letzten die ersten sein sollen, so kann das nur als Folge eines entscheidenden und tödlichen Zusammenstoßes der beiden Protagonisten geschehen. Dieser ausdrückliche Wille. die letzten an die Spitze rücken zu lassen, sie in einem (wie gewisse Leute meinen: allzu schnellen) Tempo die berühmten Sprossen, die eine organisierte Gesellschaft kennzeichnen, hinaufklettern zu lassen, kann nur siegen wenn man alle Mittel, die Gewalt natürlich eingeschlossen, in die Waag schale wirft.

Man desorganisiert keine, wenn auch noch so primitive Gesellschaft mit einem solchen Programm, wenn man nicht von Anfang an, das heißt schon von der Formulierung dieses Programms an, entschlossen ist, alle Hindernisse zu durchbrechen, die man auf dem Weg antreffen wird. Der Kolonisierte, der beschließt, dieses Programm zu realisieren, sich zu seinem Motor zu machen, ist von jeher auf die Gewalt vorbereitet. Seit seiner Geburt ist es für ihn klar, daß diese sperrige, mit Verboten gespickte Welt nur durch die absolute Gewalt in Frage gestellt werden kann.

Die koloniale Welt ist eine in Abteile getrennte Welt. Zweifellos ist es überflüssig, ihre Einteilung in Eingeborenen- und Europäerstädte, in Schulen für Eingeborene und Schulen für Europäer noch einmal zu beschreiben, wie es überflüssig ist, auf die Apartheid in Südafrika hinzuweisen. Trotzdem, wenn wir in das Innere dieser Abtrennung eindringen, so wird das zumindest den Vorteil haben, einige der Kraftlinien, die sie enthält, deutlich zu machen. Eine Analyse der kolonialen Welt, ihrer Einrichtung, ihrer geographischen Gestalt wird uns ermöglichen, das Gerüst zu bestimmen, von dem die dekolonialisierte Gesellschaft ausgeht, wenn sie sich neu organisiert.

Die kolonisierte Welt ist in zwei Teile geschnitten. Die Trennungslinie, die Grenze wird durch Kasernen und Polizeiposten markiert. Der rechtmäßige und institutionelle Gesprächspartner des Kolonisierten, der Wortführer des Kolonialherrn und des Unterdrückungsregimes ist der Gendarm oder der Soldat. In den kapitalistischen Gesellschaften hat der Respekt vor der etablierten Ordnung quasi ästhetische Formen gefunden: die Schule, gleichgültig ob weltlich oder religiös organisiert; die Ausbildung von moralischen Reflexen, die sich vom Vater auf den Sohn übertragen;  die Loyalität des »ehrlichen Arbeiters«, der nach fünfzig Jahren guter Dienste mit einer Medaille bedacht wird; die wohlbelohnte Liebe zur Eintracht und zur bürgerlichen Bravheit - das alles sorgt für eine Atmosphäre der Unterwerfung und Entsagung, welche den »Kräften der Ordnung« ihre Arbeit leicht macht. Es schiebt sich also, in den kapitalistischen Ländern, zwischen die Ausgebeuteten und die Macht eine Schar von Predigern und Morallehrern, die für Desorientierung sorgen. Dagegen sind es in den kolonialen Gebieten der Gendarm und der Soldat, die, ohne jede Vermittlung, durch direktes und ständiges Eingreifen den Kontakt zum Kolonisierten aufrecht halten und ihm mit Gewehrkolbenschlägen und  Grenzen Übergänge zwischen den beiden Zonen einrichten wird. Die koloniale Welt zerstören heißt nicht mehr und nicht weniger, als eine der beiden Zonen vernichten, sie so tief wie möglich in den Boden einstampfen oder vom Territorium vertreiben.

Die Infragestellung der kolonialen Welt durch den Kolonisierten ist keine rationale Konfrontation von Gesichtspunkten. Sie ist kein Gespräch über das Universale, sondern die wilde Behauptung einer absolut gesetzten Eigenart. Die koloniale Welt ist eine manichäische Welt. Dem Kolonialherrn genügt es nicht, den Lebensraum des Kolonisierten physisch, das heißt mit Hilfe seiner Polizei und seiner Gendarmerie, einzuschränken. Wie um den totalitären Charakter der kolonialen Ausbeutung zu illustrieren, macht der Kolonialherr aus dem Kolonisierten eine Art Quintessenz des Bösen. Die kolonisierte Gesellschaft wird nicht nur als eine Gesellschaft ohne Werte beschrieben. Es genügt dem Kolonialherrn nicht, zu behaupten, die Werte hätten die kolonisierte Welt verlassen oder besser, es habe sie dort niemals gegeben. Der Eingeborene wird als ein Wesen hingestellt, das jenseits aller Ethik lebt, unerreichbar für alle Werte, immun gegen sie, also im eigentlichen Sinn als wertlos. Das macht ihn, wenn man offen spricht, zum Feind aller Wertvorstellungen. Insofern ist er das absolute Übel: ein zersetzendes Element, das alles, was mit ihm in Berührung kommt, zerstört, alles, was mit Ästhetik oder Moral zu tun hat, deformiert und verunstaltet, ein Hort unheilvoller Kräfte, ein unbewußtes und nicht faßbares Instrument blinder Gewalten. Und Herr Meyer konnte in der Französischen Nationalversammlung ernsthaft sagen, man dürfe die Republik nicht prostituieren, indem man das algerische Volk eindringen lasse. In der Tat, die Werte werden unwiderruflich vergiftet und infiziert, sobald man sie mit dem kolonisierten Volk in Kontakt bringt. Die Sitten des Kolonisierten, seine Traditionen, seine Mythen, vor allem seine Mythen, sind selbst das Zeichen dieser Armut, dieser konstitutionellen Verderbtheit. Deshalb muß man das DDT, das die Schädlinge, die Krankheitserreger vernichtet, auf dieselbe Stufe stellen wie die christliche Religion, die die Ketzereien, die Instinkte, das Übel an ihrer Wurzel bekämpft. Das Zurückweichen des gelben Fiebers und die Fortschritte der Heidenmission gehören zur selben Bilanz. Aber die triumphierenden Kommuniques der Missionen geben in Wirklichkeit über die Stärke der Entfremdungsfermente Auskunft, die man in das kolonisierte Volk eingeführt hat. Ich spreche von der christlichen Religion, und kein Mensch hat das Recht, sich darüber zu verwundern. Die Kirche in den Kolonien ist eine Kirche von Weißen, eine Kirche von Ausländern. Sie ruft den kolonisierten Menschen nicht auf den Weg Gottes, sondern auf den Weg des Weißen, auf den Weg des Herrn, auf den Weg des Unterdrückers. Und wie man weiß, gibt es in dieser Geschichte viele Berufene und wenige Auserwählte.

Manchmal geht dieser Manichäismus bis ans Ende seiner Logik und entmenschlicht den Kolonisierten. Genau genommen, er vertiert ihn. Tatsächlich ist die Sprache des Kolonialherrn, wenn er vom Kolonisierten spricht, eine zoologische Sprache. Man macht Anspielungen auf die kriecherischen Bewegungen des Gelben, auf die Ausdünstungen der Eingebo-reneiistadt, auf die Horden, auf den Gestank, auf das Gewucher und Gewimmel, auf das Gestikulieren. Wenn der Kolonialherr genau beschreiben und das richtige Wort finden will, bezieht ei sich ständig auf das Tierreich. Der Europäer stößt sich seiter, an diesen »bildhaften« Ausdrücken. Aber der Kolonisierte spürt die Absicht des Kolonialherrn, den Prozeß, den man ihm macht, und weiß sofort, woran man denkt. Diese galloppierende Vermehrung, diese hysterischen Massen, diese Gesichter, aus denen jede Menschlichkeit gewichen ist, diese aufgetriebenen Körper, die an nichts mehr erinnern, diese Kohorte ohne Kopf noch Schwanz, diese Kinder, die niemand zu gehören scheinen, diese der Sonne preisgegebene Faulheit, dieser vegetative Rhythmus, all das gehört zum kolonialen Vokabular. General de Gaulle spricht von »gelben Massen«, Mauriac von schwarzen, braunen und gelben, die bald hereinbrechen werden. Der Kolonisierte weiß das alles und lacht, wenn er in den Worten des ändern als Tier auftritt. Denn er weiß, daß er kein Tier ist. Und genau zur selben Zeit, da er seine Menschlichkeit entdeckt, beginnt er seine Waffen zu reinigen, um diese Menschlichkeit triumphieren zu lassen.

Sobald der Kolonisierte anfängt, an den Fesseln zu zerren, den Kolonialherrn zu beunruhigen, schickt man ihm gute Seelen, die ihm auf »Kulturkongressen« das Wesen und die Reichtümer der westlichen Werte darlegen. Aber jedesmal, wenn von westlichen Werten die Rede ist, zeigt sich beim Kolonisierten eine Art Anspannung, ein Starrkrampf der Negation. In der Dekolonisationsperiode wird plötzlich an die Vernunft der Kolonisierten appelliert. Man bietet ihnen sichere Werte an, man erklärt ihnen bis zum Überdruß, daß die Dekolonisation nicht Regression bedeuten dürfe, daß man sich auf die erprobten, soliden, kanonisierten Werte stützen müsse. Es geschieht aber, daß der Kolonisierte, wenn er eine Rede über die westliche Kultur hört, seine Machete zieht oder sich doch versichert, daß sie in Reichweite seiner Hand ist. Die Gewalt, mit der sich die Überlegenheit der weißen Werte behauptet hat, die Agressivität, die die siegreiche Konfrontation dieser Werte mit den Lebens- oder Denkweisen der Kolonisierten gezeichnet hat, führt durch eine legitime Umkehr der Dinge dazu, daß der Kolonisierte grinst, wenn man diese Werte vor ihm heraufbeschwört. Im kolonialen Kontext hält der Kolonialherr erst dann in seiner Zermürbung des Kolonisierten inne, wenn dieser mit lauter und vernehmbarer Stimme die Überlegenheit der weißen Werte anerkannt hat. In der Dekolonisationsperiode aber macht sich die kolonisierte Masse über eben diese Werte lustig, beschimpft sie und spuckt auf sie aus vollem Halse.

Dieses Phänomen bleibt gewöhnlich verschleiert, weil während der Dekolonisationsperiode gewisse kolonisierte Intellektuelle in einen Dialog mit der Bourgeoisie des kolonialistischen Landes eintreten. Lange Zeit war die autochthone Bevölkerung nur als ununterschiedene Masse wahrgenommen worden. Die wenigen eingeborenen Individualitäten, die die kolonialistische Bourgeoisie hier und da hat kennenlernen können, bildeten kein ausreichendes Gegengewicht gegen diese unmittelbare Wahrnehmung. Nuancen kamen nicht auf. Während der Befreiungsperiode dagegen sucht die kolonialistische Bourgeoisie fieberhaft nach Kontakten zu den »Eliten«. Mit diesen Eliten wird dann der berühmte Dialog über die Werte geführt. Wenn die kolonialistische Bourgeoisie feststellt, daß es für sie unmöglich ist, ihre Herrschaft über die Kolonialländer aufrecht zu erhalten, beschließt sie, ein Rückzugsgefecht zu führen: auf dem Gebiet der Kultur, der Werte, der Techniken usw. Man darf jedoch niemals au' den Augen verlieren, daß die überwältigende Mehrheit der kolonisierter Völker für diese Probleme unerreichbar ist. Für das kolonisierte Volk ist der wichtigste, weil konkreteste Wert zuerst das Land; das Land, da das Brot und natürlich die Würde sichern muß. Aber diese Würde ha' nichts mit der »Menschenwürde« zu tun. Von Jenem idealen Menscher hat der Kolonisierte niemals gehört. Was er auf seinem Boden gesehen hat, ist, daß man ihn ungestraft festnehmen, schlagen, aushungern kann Und niemals ist irgendein Morallehrer, niemals irgendein Pfarrer gekom men, um an seiner Stelle die Schläge zu empfangen oder sein Brot mit ihn zu teilen. Moralist sein heißt für den Kolonisierten etwas Handfestes: es heißt, den Dünkel des Kolonialherrn zum Schweigen zu bringen, seine offene Gewalt zu brechen, mit einem Wort ihn rundweg von der Bildfläche zu vertreiben. Der berühmte Grundsatz, daß alle Menschen gleich seien, läßt in den Kolonien nur eine Anwendung zu: der Kolonisierte wird behaupten, daß er dem Kolonialherrn gleich sei. Ein Schritt weiter, und er wird kämpfen wollen, um mehr zu sein als der Kolonialherr. Tatsächlich hat er schon beschlossen, den Kolonialherrn abzulösen, seinen Platz einzunehmen. Wie man sieht, ist es eine ganze materielle und moralische Welt, die hier zusammenbricht. Der Intellektuelle, der für seinen Teil dem Kolonialisten auf die Ebene des abstrakten Universalen gefolgt ist, wird darum kämpfen, daß Kolonialherr und Kolonisierter in einer neuen Welt friedlich miteinander leben können. Aber was er nicht sieht, eben well der Kolonialismus ihn mit allen seinen Denkweisen infiziert hat, ist die Tatsache, daß der Kolonialherr, sobald der koloniale Kontext verschwindet, kein Interesse mehr hat, zu bleiben, zu koexistieren. Es ist kein Zufall, wenn noch vor jeder Verhandlung zwischen der algerischen und der französischen Regierung die sogenannte »liberale« europäische Minderheit schon ihre Position bekannt gegeben hat: sie verlangt nicht mehr und nicht weniger als die doppelte Staatsangehörigkeit. Man will also, während man sich noch auf der abstrakten Ebene verschanzt, den Kolonialherrn dazu verdammen, einen ganz konkreten Sprung ins Unbekannte zu machen. Sagen wir es offen, der Kolonialherr weiß genau, daß keine Phraseologie die Realität ersetzen kann.

Der Kolonisierte entdeckt also, daß sein Leben, sein Atmen, seine Herzschläge die gleichen sind wie die des Kolonialherrn. Er entdeckt, daß die Haut eines Kolonialherrn nicht mehr wert ist als die Haut eines Eingeborenen. Diese Entdeckung teilt der Welt einen entscheidenden Stoß mit. Jede neue und revolutionäre Sicherheit des Kolonisierten rührt daher. Wenn nämlich mein Leben das gleiche Gewicht hat wie das des Kolonialherrn, dann schmettert mich sein Blick nicht mehr nieder, läßt mich nicht "lehr erstarren, seine Stimme versteinert mich nicht mehr. Ich bin nicht "ehr verwirrt in seiner Gegenwart. Ich pfeife auf ihn. Nicht nur, daß eine Gegenwart mich nicht mehr stört, sondern ich bin schon dabei, ihm eine Falle nach der ändern zu stellen, so daß er bald keinen andern Ausweg mehr haben wird als die Flucht.

Der koloniale Kontext, haben wir gesagt, ist durch die Zweiteilung gekennzeichnet, die er der Welt aufzwingt. Die Dekolonisation vereinigt diese Welt, indem sie durch einen radikalen Beschluß ihre Heterogenität aufhebt und sie auf der Basis der Nation, manchmal der Rasse, zusammenschließt. Man kennt jenes grimmige Wort der senegalesischen Patrioten über die Manöver ihres Präsidenten Senghor: »Wir haben die Afri-kanisierung der Kader verlangt, und siehe da, Senghor afrikanisiert die Europäer.« Das heißt, daß der Kolonisierte die Möglichkeit hat, sofort und auf Anhieb zu erkennen, ob die Dekolonisation stattgefunden hat oder nicht: das geforderte Minimum ist, daß die letzten die ersten werden. Aber der kolonisierte Intellektuelle fügt dieser Forderung Varianten hinzu, und tatsächlich scheint es ihm nicht an Motivierungen zu fehlen: man braucht Verwaltungskader, technische Kader, Spezialisten. Der Kolonisierte Jedoch interpretiert jede Vergünstigung für solche Helfer von außen als ebenso viele Sabotagemanöver, und nicht selten kann man einen Kolonisierten hier oder da erklären hören: »Es hat sich nicht gelohnt, unabhängig zu werden ...«

In den kolonisierten Gebieten, wo ein wirklicher Befreiungskampf geführt wurde, wo das Blut des Volkes geflossen ist und die Dauer der bewaffneten Phase die Rückkehr der Intellektuellen zur Massenbasis begünstigt hat, wird der ganze Überbau abgerissen, den diese Intellektuellen den kolonialistischen bürgerlichen Kreisen entlehnt hatten. In ihrem nar-zistischen Monolog hatte nämlich die kolonialistische Bourgeoisie mit Hilfe ihrer Universitätslehrer in die Köpfe des Kolonisierten die Vorstellung verankert, daß es »bleibende Werte« gebe, allen menschlichen Irrtümern zum Trotz. Die »bleibenden Werte« des Westens, versteht sich. Der Kolonisierte nahm die Berechtigung dieser Ideen hin, und man konnte in einem Winkel seines Gehirns einen wachsamen Posten entdecken, der sich für die Verteidigung des abendländischen Sockels verantwortlich fühlte. Während des Befreiungskampfes geschieht es jedoch, in einem Moment, da der Kolonisierte wieder Kontakt zu seinem Volk bekommt, daß dieser künstliche Wachtposten sich in Staub auflöst. Alle abendländischen Werte, Triumph der Menschenwürde, des Wahren und des Schönen, werden zu leb- und farblosen Nippsachen. Alle diese Reden erscheinen als eine Anhäufung leerer Wörter. Diese Werte, die die Seele zu adeln schienen, erweisen sich als unbrauchbar, weil sie nicht den konkreten Kampf betreffen, in den das Volk eingetreten ist.

Das gilt vor allem für den Individualismus. Der kolonisierte Intellektuelle hatte von seinen Lehrern gelernt, daß das Individuum sich behaupten müsse. Die kolonialistische Bourgeoisie hatte dem Kolonisierten die Idee einer Gesellschaft von Individuen eingehämmert, wo jeder sich in seine Subjektivität einschließt, wo der Reichtum ein Reichtum des Geistes ist. Der Kolonisierte, der das Glück hat, sich während des Befreiungskampfes unter das Volk zu mischen, wird die Falschheit dieser Theorie entdecken. Schon die Organisationsformen des Kampfes bieten ihm ein ungewohntes Vokabular. Der Bruder, die Schwester, der Genösse sind Wörter, die bei der kolonialistischen Bourgeoisie verpönt sind, weil für sie mein Bruder meine Brieftasche und mein Genösse mein Geschäftstrick ist. Der kolonisierte Intellektuelle erlebt, in einer Art Autodafe, die Zerstörung all seiner Idole; er büßt seinen Egoismus, die anklagende Arroganz und den kindischen Eigensinn dessen ein, der immer das letzte Wort haben will. Dieser durch die kolonialistische Kultur zermürbte Intellektuelle wird auch die Beständigkeit der Dorf Versammlungen, die Festigkeit der Volksausschüsse, die außerordentliche Fruchtbarkeit der Bezirks- und Zellenversammlungen entdecken. Die Angelegenheit jedes einzelnen ist von nun an die Angelegenheit aller, weil faktisch alle von den Söldnern entdeckt, also massakriert, oder alle gerettet werden. Das' »Abhauen«, diese atheistische Form des Heils, verbietet sich in diesem Kontext von selbst. Seit einiger Zeit spricht man viel von Selbstkritik: Aber weiß man, daß das zuerst eine afrikanische Einrichtung war? In den Dschemaas, den Dorfversammlungen Nord- und Westafrikas, will es die Tradition, daß die Konflikte, die in einem Dorf ausbrechen, öffentlich verhandelt werden. Selbstkritik vor der Gemeinschaft also, jedoch mit etwas Humor, weil Jedermann entspannt ist und weil wir letztlich alle dasselbe wollen. Seine Berechnung, sein Verstummen, seine Hintergedanken und seine Geheimniskrämerei, all das gibt der Intellektuelle auf, je mehr er ins Volk eintaucht. Und es ist wahr, daß man dann sagen kann, die Gemeinschaft siege schon auf dieser Stufe, sie erzeuge ihre eigene Aufklärung, ihre eigene Vernunft.

Aber es kommt vor, daß die Dekolonisation in Gebieten stattfindet, die nicht genügend vom Befreiungskampf aufgerüttelt worden sind, und man fndet die gleichen Intellektuellen als geschäftstüchtige, gerissene und verschlagene Leute wieder. Sie haben die Verhaltensweisen und Denkformen "'wahrt, die sie im Umgang mit der kolonialistischen Bourgeoisie angenommen hatten. Als verwöhnte Kinder, gestern des Kolonialismus, heute der neuen Staatsmacht, organisieren sie die Plünderung der Reichtümer, die dem Land geblieben sind. Unerbittlich versuchen sie durch Schiebung oder legale Diebstähle, durch. Import-Export, durch Aktiengesellschaften, Börsenspekulation, Schiebungen, sich herauszuziehen aus der Misere, die jetzt eine nationale ist. Sie verlangen nachdrücklich die Nationalisierung des Handels, das heißt die Reservierung der Märkte und guten Gelegenheiten einzig für die eigenen Leute. Doktrinär verkünden sie die Notwendigkeit, die Ausplünderung der Nation zu nationalisieren. In der Phase der austerity und der ökonomischen Dürre ruft der Erfolg ihrer Plünderungen schnell die Wut und die Gewalt des Volkes hervor. Dieses elende und unabhängige Volk kommt im gegenwärtigen afrikanischen und internationalen Kontext immer rascher zu einem sozialen Bewußtsein. Das werden die kleinen Individualitäten sehr bald begreifen.

Der Kolonisierte hat die Kultur des Unterdrückers angenommen und sich auf sie eingelassen; er hat dafür zahlen müssen. Unter anderem damit, daß er sich die Denkformen der kolonialen Bourgeoisie zu eigen machte. Das zeigt sich in der Unfähigkeit des kolonisierten Intellektuellen zum Dialog. Er kann sein Ich nicht hinter dem Gegenstand oder der Idee zurücktreten lassen. Wenn er dagegen mitten unter dem Volk kämpft, fällt er von einem Erstaunen ins andere. Er ist buchstäblich entwaffnet durch die Gutgläubigkeit und Anständigkeit des Volkes. Dann wiederum ist er ständig der Gefahr ausgesetzt, in eine Vergötterung des Volkes zu verfallen. Er sagt zu jedem Satz des Volkes ja und amen, nachdem er ihn zu einer Sentenz gemacht hat. Aber der Fellache, der Arbeitslose, der Ausgehungerte nimmt nicht die Wahrheit für sich in Anspruch. Er sagt nicht, er sei die Wahrheit: er verkörpert sie. Der Intellektuelle verhält sich in dieser Periode objektiv wie ein gewöhnlicher Opportunist. Sein Taktieren hat nicht aufgehört. Das Volk denkt keineswegs daran, ihn zurückzustoßen oder an die Wand zu drücken. Das Volk verlangt nur, daß niemand seine eigene Suppe koche. Der kolonisierte Intellektuelle wird jedoch hinter der Bewegung des Volkes zurückbleiben, weil er einem merkwürdigen Kult des Details frönt. Nicht, daß das Volk rebellisch wäre gegen die Analyse. Es will sich aufklären lassen, es will die Zwischenglieder einer Argumentation verstehen, es will sehen, wie die Dinge laufen. Aber der kolonisierte Intellektuelle bevorzugt zu Beginn seines Zusammenlebens mit dem Volk das Detail und vergißt schließlich die Niederlage des Kolonialismus, den eigentlichen Gegenstand des Kampfes. Mitgerissen von der 'vielfältigen Bewegung des Kampfes, neigt er dazu, sich in lokale Aufgaben zu verbeißen, die er mit Eifer verfolgt, aber fast immer verabsolutiert. Er sieht nicht jederzeit das Ganze. Er möchte seine Disziplinen, Spezialitäten, Bereiche unversehrt in jene furchtbare Zerkleinerungs- und Mischmaschine einführen, die eine Volksrevolution darstellt. An bestimmten Punkten der Front engagiert, passiert es ihm, daß er die Einheit der Bewegung aus dem Auge verliert und im Falle eines lokalen Scheiterns sich dem Zweifel, ja der Verzweiflung hingibt. Das Volk dagegen nimmt von Anfang an allgemeine Positionen ein. Das Land und das Brot: was tun, um das Land und das Brot zu bekommen? Und dieser eigensinnige, scheinbar beschränkte, enge Aspekt des Volkes ist letztlich das umfassendste und wirksamste Operationsmodell.

Auch das Problem der Wahrheit muß berücksichtigt werden. Innerhalb des Volkes ist die Wahrheit von jeher etwas Einheimisches. Keine absolute Wahrheit, keine Rede über die Transparenz der Seele kann diese Position zerbröckeln. Auf die Lüge der kolonialen Situation antwortet der Kolonisierte mit einer gleichen Lüge. Sein Verhalten ist offen gegenüber den eigenen Leuten, verkrampft und undurchsichtig gegenüber den Kolonialherren. Wahr ist, was die Auflösung des Kolonialregimes vorantreibt, was das Entstehen der Nation begünstigt. Wahr ist, was die Eingeborenen schützt und die Ausländer verdirbt. Im kolonialen Kontext gibt es keine unbedingte Wahrheitsregel. Und das Gute ist ganz einfach das, was ihnen schadet.

Man sieht also, daß der ursprüngliche Manichäismus, der die Kolonialgesellschaft beherrschte, in der Dekolonisationsperiode intakt geblieben ist. Und zwar deshalb , weil der Kolonialherr nie aufhört, der Feind, der Antagonist zu sein, mit einem Wort: der Mann, den es zu töten gilt. Der Unterdrücker ruft in seiner Zone die Bewegung hervor: eine Bewegung der Herrschaft, der Ausbeutung, der Plünderung. In der anderen Zone nährt das zusammengekauerte, geplünderte kolonisierte Ding nach Kräften diese selbe Bewegung, die von den Küsten des Landes aus unmittelbar bis in die Paläste und Docks des »Mutterlandes« reicht. In dieser erstarrten Zone ist die Oberfläche unbeweglich, die Palme wiegt sich vor den Wolken, die Wellen des Meeres brechen sich an den Kieselsteinen, dii Rohstoffe kommen und gehen und rechtfertigen die Anwesenheit des Kolonialherrn, während sich der Kolonisierte, hingekauert, mehr tot als lebendig, im immergleichen Traum verewigt. Der Kolonialherr macht die Geschichte. Sein Leben ist ein Epos, eine Odyssee. Er ist der absolute Beginn: »Dieses Land, wir haben es zu dem gemacht, was es ist.« Er ist die immerwährende Ursache: »Wenn wir weggehen, ist alles verloren, dieses Land wird ins Mittelalter zurückfallen.« Schwerfällige, durch Fieber und primitive Bräuche von innen gepeinigte Wesen stehen ihm gegenüber, ein gleichsam mineralischer Rahmen für die alles verändernde Dynamik des kolonialen Handelssystems. Der Kolonialherr macht die Geschichte und weiß, daß er sie macht. Und weil er sich ständig auf die Geschichte seines Mutterlandes bezieht, gibt er deutlich zu verstehen, daß er hier der Vorposten dieses Mutterlandes ist, Die Geschichte, die er schreibt, ist also nicht die Geschichte des Landes, das er ausplündert, sondern die Geschichte seiner eigenen Nation, in deren Namen er raubt, vergewaltigt und aushungert. Die Unbeweglichkeit, zu welcher der Kolonisierte verdammt ist, kann nur dadurch in Frage gestellt werden, daß der Kolonisierte beschließt, der Geschichte der Kolonisation, der Geschichte der Ausplünderung ein Ende zu setzen, um die Geschichte seines Landes, die Geschichte der Dekolonisation beginnen zu lassen. Eine in Abteile getrennte, manichäische, unbewegliche Welt, eine Welt von Statuen: die Statue des Generals, der das Land erobert, die Statue des Ingenieurs, der die Brücke gebaut hat. Eine selbstsichere Welt, die mit ihren Steinen die gepeitschten und zerschundenen Rücken erdrückt. Das ist die koloniale Welt. Der Eingeborene ist ein eingepferchtes Wesen, die Apartheid ist nur eine besondere Form der kolonialen Trennung überhaupt. Als erstes lernt der Eingeborene, auf seinem Platz zu bleiben, die Grenzen nicht zu überschreiten. Deshalb sind die Träume des Eingeborenen Muskelträume, Aktionsträume, aggressive Träume. Ich träume, daß ich laufe, daß ich schwimme, daß ich renne, daß ich klettere. Ich träume, daß ich vor Lachen berste, daß ich den Fluß überspringe, daß ich von Autorudeln verfolgt werde, die mich niemals einholen. Während der Kolonisation hört der Kolonisierte nicht auf, sich zwischen neun Uhr abends und sechs Uhr früh zu befreien. Diese in seinen Muskeln sitzende Aggressivität wird der Kolonisierte zunächst gegen seinesgleichen äußern. Das ist die Periode, wo sich die Neger gegenseitig auffressen und wo die Polizisten, die Untersuchungsrichter sich nicht mehr zu helfen wissen angesichts der erstaunlichen nordafrikanischen Kriminalität. Gegenüber der kolonialen Ordnung befindet sich der Kolonisierte in einem Zustand permanenter Spannung. Die Welt des Kolonialherrn ist eine feindliche Welt, die ihn zurückstößt, aber gleichzeitig Ist sie eine Welt, die seinen Neid erregt. Wir haben gesehen, daß der Kolonisierte immer davon träumt, sich an der Stelle des Kolonialherrn niederzulassen. Nicht, ein Kolonialherr zu werden, sondern den Platz des Kolonialherrn einzunehmen. Dessen feindselige, drückende, aggressive Welt erscheint der kolonisierten Masse, die von ihr gewaltsam ausgeschlossen bleibt nicht als Hölle, der man so schnell wie möglich entkommen möchte, sondern als ein Paradies In greifbarer Nähe, bewacht von furchteinflößenden Bluthunden.

Der Kolonisierte ist Immer auf der Hut, weil er die vielfältigen Zeichen der kolonialen Welt nur schwer entziffern kann; er weiß niemals, ob er die Grenze schon überschritten hat oder nicht. In der vom Kolonialisten eingerichteten Welt gilt der Kolonisierte von vornherein als der Schuldige. Die Schuld des Kolonisierten ist keine übernommene Schuld, eher eine Art Fluch, ein Damoklesschwert. In seinem Innern nämlich erkennt der Kolonisierte keine Instanz an. Er ist unterworfen, aber nicht gezähmt. Er ist erniedrigt, aber nicht von seiner Niedrigkeit überzeugt. Er wartet geduldig, daß der Kolonialherr in seiner Wachsamkeit nachlasse, um sich auf ihn zu stürzen. Die Muskeln des Kolonisierten liegen ständig auf der Lauer. Man kann nicht sagen, daß er beunruhigt, daß er terrorisiert sei. In Wirklichkeit ist er immer bereit, die Rolle des Freiwilds aufzugeben, um die des Jägers zu übernehmen. Der Kolonisierte ist ein Verfolgter, der ständig davon träumt, Verfolger zu werden. Die sozialen Symbole - Gendarmen, Zapfenstreiche in den Kasernen, militärische Paraden und Flaggenhissungen - dienen gleichzeitig als Verbots- und ils Reizmittel. Für den Kolonisierten besagen sie nicht: »Aufruhr ist zwecklos«, sondern: »Bereite dich auf deinen Kampf gut vor«. Und wenn der Kolonisierte wirklich je dazu neigen sollte, einzuschlafen, zu vergessen, die Anmaßung des Kolonialherrn und sein Eifer, die Stabilität des Kolonialsystems zu beweisen, würden ihn immer von neuem daran erinnern, daß die große Konfrontation nicht auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben werden kann. Dieser Drang, den Platz des Kolonialherrn einzunehmen, bewirkt eine ständige Anspannung der Muskulatur. Bekanntlich verstärkt unter gegebenen emotionalen Bedingungen die Anwesenheit eines Hindernisses die Tendenz zur Bewegung.

Die Beziehung zwischen dem Kolonialherrn und dem Kolonisierten ist eine Massenbeziehung. Der Zahl setzt der Kolonialherr seine Stärke entgegen. Der Kolonialherr ist ein Exhibitionist. Sein Sicherheitsbedürfnis führt ihn dazu, den Kolonisierten mit lauter Stimme daran zu erinnern:

»Der Herr hier bin ich«. Der Kolonialherr hält beim Kolonisierten eine Wut aufrecht, die er am Ausbrechen hindert. Der Kolonisierte ist in die engen Maschen des Kolonialismus eingezwängt. Aber wir haben gesehen, daß der Kolonialherr nur eine Pseudo-Versteinerung erreicht. Die Muskelspannung des Kolonisierten befreit sich periodisch in blutigen Explosionen: Stammesfehden, Cof-Kämpfen, in denen sich ganze Gruppen von Einheimischen aufreiben, und Schlägereien zwischen Einzelnen. Auf der individuellen Stufe findet man eine wahre Negation des gesunden Menschenverstandes. Während der Kolonialherr oder der Polizist den Kolonisierten den ganzen Tag lang ungestraft schlagen, beschimpfen, auf die Knie'zwingen kann, wird derselbe Kolonisierte beim geringsten feindlichen oder agressiven Blick eines anderen Kolonisierten sein Messer ziehen. Denn die letzte Zuflucht des Kolonisierten besteht darin, daß er Seine Würde gegenüber seinesgleichen verteidigt. In den Stammesfehden leben die alten, in das kollektive Gedächtnis eingegangenen Ressentiments wieder auf. Der Kolonisierte stürzt sich mit Haut und Haaren in derartige Racheakte und will sich dadurch einreden, daß der Kolonialismus nicht existiere, daß alles so geblieben sei wie früher, daß seine Geschichte einfach weitergehe. Wir haben es hier eindeutig mit einer kollektiven Form von Ersatzhandlungen zu tun. Brüder vergießen ihr Blut, als verhülfe ihnen ein solches Handeln dazu, das wahre Hindernis zu übersehen, die wahre Entscheidung zu vertagen, die auf nichts anderes hinauslaufen kann als auf den bewaffneten Kampf gegen den Kolonialismus. Die leibhaftige Selbstzerstörung eines Kollektivs ist also einer der Wege, auf denen sich die physische Anspannung des Kolonisierten entlädt. Alle diese Verhaltensweisen sind Todesreflexe gegenüber der Gefahr, Selbstmord-Handlungen, die das Leben und die Herrschaft des Kolonialherrn nur noch mehr konsolidieren und ihm zugleich bestätigen, daß diese Menschen nicht vernünftig sind. Auch mit Hilfe der Religion gelingt es dem Kolonisierten, den Kolonialherrn zu vergessen. Der Fatalismus entlastet den Unterdrücker von jeder Initiative, weil er die Ursache der Übel, des Elends, des Schicksals auf Gott schiebt. So nimmt der einzelne die Zersetzung als von Gott beschlossen hin, er wirft sich vor dem Kolonialherrn und dem Schicksal auf den Bauch und gelangt durch eine Art innere Wiederherstellung des Gleichgewichts zu steinerner Gelassenheit. Inzwischen geht das Leben jedoch weiter, und aus den schreckenerregenden Mythen, an denen die unterentwickelten Gesellschaften so reich sind, leitet der Kolonisierte Hemmungen und Verbote ab, die seine Aggressivität eindämmen: unheilvolle Geister suchen ihn jedesmal heim, wenn er einen falschen Schritt tut, Leopardenmenschen, Schlangenmenschen, sechsbeinige Hunde, Zombies, eine ganze Menagerie von winzigen oder riesenhaften Tieren, baut um den Kolonisierten eine Welt von Verboten, Absperrungen, Hemmungen auf, weit schrecklicher als die kolonialistische Welt. Dieser magische Überbau, der die Eingeborenengesellschaft prägt, erfüllt in der Dynamik der Libidostruktur präzise Funktionen. Eines der Kennzeichen der unterentwickelten Gesellschaften ist nämlich, daß die Libido zunächst eine Gruppen-, eine Familienangelegenheit ist. Man kennt dieses von den Ethnologen genau beschriebene Phänomen: in manchen Gesellschaften muß der verheiratete Mann, der von sexuellen Beziehungen mit einer anderen Frau träumt, diesen Traum öffentlich eingestehen und dem Gatten oder der beleidigten Familie eine Steuer in Naturalien oder Arbeitstagen zahlen. Was übrigens beweist, daß die sogenannten prähistorischen Gesellschaften dem Unbewußten eine große Bedeutung beimessen.

Die Atmosphäre von Mythos und Magie verhält sich, indem sie mir Angst macht, wie eine unzweifelhafte Realität. Indem sie mir Sehrecken einjagt, integriert sie mich in die Traditionen, in die Geschichte meines Landstriches oder meines Stammes, aber gleichzeitig beruhigt sie mich, sie gewährt nur einen Status, stellt mir einen Bürgerbrief aus. Das Geheimnis ist in den unterentwickelten Ländern immer eine Sache des Kollektivs: es gründet ausschließlich auf Magie. Wenn ich mich in dieses unentwirrbare Geflecht einspinne, wo die Handlungen sich mit kristallklarer Permanenz wiederholen, so finde ich die Fortdauer einer mir gehörigen Welt, einer uns gehörigen Welt bestätigt. Die Zombies, glauben Sie mir, sind viel schreckenerregender als die Kolonialherren. Und das Problem besteht dann nicht mehr darin, sich nach der eisenstrotzenden Welt des Kolonialismus auszurichten, sondern dreimal nachzudenken, bevor man uriniert ausspuckt oder in die Nacht hinausgeht.

Die übernatürlichen, magischen Kräfte erweisen sich als erstaunlich moik d. h. wirksam und real. Die Kräfte des Kolonialherrn sind unendlich lbeschnitten, von Fremdheit geschlagen. Wozu noch gegen sie kämpfen, wer nichts anderes zählt als die erschreckende Feindlichkeit der mythisch Strukturen? So löst sich das koloniale Problem in einem dauernden Geisterkampf, einem Schattenboxen zwischen Phantasmen, von selber auf.

Dasselbe Volk, einst in unwirkliche Zirkel zerfallen und preisgegeben einem unfaßbaren Schrecken, und dabei noch glücklich in seinem Selbstverlust, seinen geträumten Qualen - es löst sich, kaum daß der Befreiungskampf begonnen hat, aus seinen Befangenheiten, organisiert sich neu und zeigt sich, in Blut und Tränen, ganz realer und direkter Auseinandersetzungen fähig. Den Mudschahidins (den algerischen Partisanen) zu essen geben, Wachen aufstellen, den notleidenden Familien zu Hilfe kommen, den erschlagenen oder eingesperrten Mann ersetzen: das sind die konkreten Aufgaben, denen das Volk im Befreiungskampf sich stellt. In der kolonialen Welt konzentriert sich das affektive Vermögen des Kolonisierten auf der Oberfläche der Haut; sie ist empfindlich wie eine offene Wunde gegen ätzende Stoffe. Und' die psychische Disposition schrumpft ein, verkrampft und entlädt sich in muskulären Reaktionen, die manche Gelehrte auf die Idee gebracht haben, der Kolonisierte sei ein Hysteriker. Sein Affekt, der sich gleichsam in einem Zustand dauernder Erektion befindet, und zugleich von einem inneren Zensor am Ausbruch gehindert wird, reagiert sich in motorischen Entladungen ab und findet in der Krise eine erotische Befriedigung. Andererseits können wir das affektive Leben des Kolonisierten in mehr oder weniger ekstatischen Tänzen sich erschöpfen sehen. Deshalb muß eine Studie über die koloniale Welt unbedingt das Phänomen des Tanzes und der Besessenheit zu verstehen suchen. Der Kolonisierte entspannt sich in diesen Muskelorgien, die seine schärfste Aggressivität und seine unmittelbarste Gewalttätigkeit kanalisieren, verwandeln und ableiten. Im Kreis des Tanzes ist alles erlaubt. Er beschützt und ermächtigt. Zu festgesetzten Stunden, an festgesetzten Daten finden sich Männer und Frauen an einem gegebenen Ort zusammen und werfen sich unter dem strengen Auge des Stammes in eine scheinbar ungeordnete, in Wirklichkeit aber streng geregelte Pantomime, wo sich auf vielfache Weise - Neigungen des Kopfes, Krümmen der Wirbelsäule, Zurückwerfen des ganzen Körpers - handgreiflich die grandiose Anstrengung eines Kollektivs äußert, sich durch Exorzismen zu befreien und auszudrücken. Der kleine Hügel, den man erstiegen hat, wie um dem Monde näher zu sein, das Ufer, das man herabgeglitten ist, wie um die Äquivalenz von Tanz und Waschung, Reinigung auszudrücken, das sind geheiligte Orte. Alles ist erlaubt, denn man versammelt sich nur, um die angestaute Libido, die verhinderte Aggressivität vulkanisch ausbrechen zu lassen. Symbolische Tötungen, bildliche Ritte, vielfältige eingebildete Morde, all das muß herauskommen. Die bösen Säfte ergießen sich wie Lavamassen.

Ein Schritt weiter, und wir verfallen in volle Besessenheit. In Wirklichkeit sind es Bessenheitsübungen zur Befreiung von Besessenheit, die hier organisiert werden: Vampirismus, Besessenheit durch Dschinns, durch Zombies, durch Legba, den berühmten Gott des Vodu. Diese Zerstörungen der Persönlichkeit, diese Verdoppelungen, diese Auflösungen erfüllen eine »ökonomische« Funktion, die für die Stabilität der kolonisierten Welt unentbehrlich ist. Auf dem Hinweg waren die Männer und Frauen ungeduldig, zapplig, nervös. Auf dem Rückweg kehrt die Ruhe ins Dorf zurück, der Frieden, die Unbeweglichkeit. Man wird im Laufe des Befreiungskampfes eine eigenartige Abkühlung gegenüber diesen Praktiken erleben. Mit dem Rücken zur Wand, das Messer an der Kehle oder, um genauer zu sein, die Elektrode an den Genitalien, wird der Kolonisierte begreifen, daß die alten Geschichten ihre Macht verloren haben.

Nachdem er sich jahrelang dem Irrealen, den erstaunlichsten Phantasmen hingegeben hat, geht der Kolonisierte endlich, das Maschinengewehr in der Faust, gegen die einzigen Kräfte vor, die ihm sein Sein streitig gemacht haben: die des Kolonialismus. Und der junge Kolonisierte, der in einer Atmosphäre von Eisen und Feuer aufwächst, kann es sich leisten, über die Zombie-Ahnen, die zweiköpfigen Pferde, die wiedererwachenden Toten, die Dschinns Witze zu reißen, die ein Gähnen ausnutzen, um in den Körper zu fahren. Der Kolonisierte entdeckt die Realität und verändert sie in der Entfaltung seiner Praxis, in der Ausübung der Gewalt, in seinem Befreiungsplan.

Wir haben gesehen, daß diese Gewalt während der ganzen Kolonialperiode, obwohl sie sich unter der Haut ansammelt, leerläuft. Wir haben gesehen, wie sie durch die emotionalen Entladungen des Tanzes oder der Besessenheit kanalisiert wird. Wir haben gesehen, wie sie sich in Bruderkämpfen erschöpft. Das Problem ist jetzt, zu begreifen, wie diese Gewalt sich reorientiert. Während sie sich zuvor in Mythen gefiel und Gelegenheiten für einen kollektiven Selbstmord suchte, werden ihr nun neue Bedingungen ermöglichen, die Richtung zu wechseln. Durch die Befreiung der Kolonien ist der gegenwärtigen Epoche ein theoretisches Problem von entscheidender Bedeutung aufgegeben: Wann kann man sagen, daß die Situation für eine nationale Befreiungsbewegung reif sei? Wer soll ihre Avantgarde stellen? Da die Dekolonisation vielfältige Formen angenommen hat, zögert die Vernunft und verbietet sich zu sagen, was eine wirkliche Dekolonisation und was eine falsche sei. Wir werden sehen, daß es für den Betroffenen eine dringliche Aufgabe ist, über die Mittel, die Taktik, das heißt die Verfahrensweise und die Organisation zu entscheiden. Wird sie nicht gelöst, so liefert man sich einem Voluntarismus aus, der dem blinden Zufall und den schlimmsten Möglichkeiten der Reaktion Tür und Tor öffnet.

Welches sind die Kräfte, die in der Kolonialperiode der Gewalt des Kolonisierten neue Wege, neue Ansatzpunkte bieten? Das sind zunächst die politischen Parteien und die intellektuellen oder kaufmännischen Eliten. Für bestimmte politische Formationen ist es jedoch kennzeichnend, daß sie Prinzipien verkünden, aber keine Parolen ausgeben. Die Aktivität dieser nationalistischen politischen Parteien erschöpft sich solange die Kolonialmacht herrscht, im Wahlkampf-Betrieb und in einer Folge von philosophisch-politischen Abhandlungen über das Selbstbestimmungsrecht der Völker, über das Menschenrecht auf Würde und Brot und in der ununterbrochenen Beteuerung des Grundsatzes; »ein Mensch - eine Stimme«. Die nationalistischen politischen Parteien bestehen nie auf der Notwendigkeit der Kraftprobe, weil ihr Ziel eben nicht die radikale Umwälzung des Systems ist. Als Pazifisten und Legalisten im Grunde Parteigänger der Ordnung (der neuen), stellen diese politischen Kreise der kolonialistischen Bourgeoisie offen die Forderung, die ihnen wesentlich ist:

»Gebt uns mehr Macht«. Gegenüber dem spezifischen Problem der Gewalt verhalten sich die Eliten zweideutig. Sie sind gewalttätig in ihren Worten und reformistisch in ihren Taten. Wenn die bürgerlich-nationalistischen Politiker etwas sagen, so geben sie ohne Umschweife zu verstehen, daß sie es nicht wörtlich meinen.

Dieser Charakter der nationalistischen politischen Parteien ist durch die Qualität ihrer Kader wie ihrer Anhängerschaft zu erklären. Diese Anhängerschaft ist städtisch: sie besteht aus Arbeitern, Lehrern, kleineren Handwerkern und Kaufleuten, die angefangen haben, von der kolonialen Situation zu profitieren - für ein Butterbrot, versteht sich -, und die nun ihre Sonderinteressen anmelden. Sie verlangen die Verbesserung ihrer Lage, die Erhöhung ihrer Löhne. Der Dialog zwischen diesen politischen Parteien und dem Kolonialismus ist niemals abgerissen. Man diskutiert über Verbesserungen, parlamentarische Vertretung, Pressefreiheit, Vereinsfreiheit. Man diskutiert über Reformen. So kann es auch nicht überraschen, daß eine große Zahl von Eingeborenen in den Lokalverbänden der politischen Formationen des »Mutterlandes« aktiv ist. Diese Eingeborenen kämpfen für das abstrakte Schlagwort »Die Macht dem Proletariat« und vergessen dabei, daß in ihrem Land zunächst um die Forderungen dieses Landes gekämpft werden muß. Der kolonisierte Intellektuelle läßt seine Agressivität dem kaum verhüllten Willen zugute kommen, sich der kolonialen Welt anzupassen. Er stellt seine Kraft in den Dienst seiner eigenen, seiner individuellen Interessen. So entsteht leicht eine Klasse von individuell befreiten Sklaven, von Freigelassenen. Was der Intellektuelle fordert, ist die Möglichkeit, die Freigelassenen zu vermehren, die Möglichkeit, eine authentische Klasse von Freigelassenen zu organisieren. Die Massen dagegen wollen nicht die Erfolgschancen von einzelnen sich vergrößern sehen. Nicht den Status des Kolonialherrn verlangen sie, sondern seinen Platz. Die Kolonisierten wollen in ihrer überwältigenden Mehrheit die Farm des Kolonialherrn. Sie haben nicht die Absicht, mit dem Kolonialherrn in einen Wettbewerb zu treten. Sie wollen seinen Platz.

Die Bauernschaft wird von der Propaganda der meisten nationalistischen Parteien systematisch vernachlässigt. Es ist jedoch offenkundig, daß in den Kolonialländern nur die Bauernschaft revolutionär ist. Sie hat nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Der Bauer, der Deklassierte, der Ausgehungerte ist der Ausgebeutete, der am schnellsten entdeckt, daß sich nur die Gewalt bezahlt macht. Für ihn gibt es keinen Kompromiß, keine Möglichkeit, sich zu arrangieren. Kolonisation oder Dekolonisation, das ist ganz einfach eine Frage der Stärke. Der Ausgebeutete entdeckt, daß seine Befreiung alle Mittel voraussetzt, vor allem die Stärke. Als 1956,, nach der Kapitulation Guy Mollets vor den Kolonialherren Algeriens, die Nationale Befreiungsfront in einem berühmten Flugblatt feststellte, daß der Kolonialismus nur nachgebe, wenn ihm das Messer an der Kehle sitze, hat tatsächlich kein Algerier diese Ausdrücke zu gewalttätig gefunden. Das Flugblatt drückte nur aus, was alle Algerier empfanden: der Kolonialismus ist keine Denkmaschine, kein vernunftbegabter Körper. Er ist die Gewalt im Naturzustand und kann sich nur einer noch größeren Gewalt beugen.

Im Moment der entscheidenden Auseinandersetzung tritt die kolonialistische Bourgeoisie, die bis dahin immer ruhig geblieben war, in Aktion. Sie führt einen neuen Begriff ein, der im Grunde nur ein Produkt der kolonialen Situation ist: Gewaltlosigkeit. In ihrer Rohform bedeutet diese Gewaltlosigkeit für die kolonisierten intellektuellen und wirtschaftlichen Eliten, daß die kolonialistische Bourgeoisie die gleichen Interessen hat wie sie, daß es also unvermeidlich und dringlich ist, zu einer Einigung über das gemeinsame Wohl zu gelangen. Die Gewaltlosigkeit ist ein Versuch, das koloniale Problem am grünen Tisch zu regeln, noch vor jeder unwiderruflichen Geste, jedem Blutvergießen, jeder bedauerlichen Handlung. Wenn aber die Massen, ohne darauf zu warten, bis am grünen Tisch Platz genommen wird, nur auf ihre eigene Stimme hören und mit Brandschatzungen und Attentaten beginnen, dann sieht man die »Eliten« und die Führer der nationalistischen bürgerlichen Parteien zu den Kolonialisten stürzen und ihnen sagen: »Es ist sehr ernst! Niemand weiß, wie das enden wird, es muß eine Lösung, ein Kompromiß gefunden werden«. Dieser Begriff des Kompromisses ist sehr wichtig für das Phänomen der Dekolonisation, denn er ist keineswegs einfach. Der Kompromiß betrifft nämlich gleichermaßen das Kolonialsystem wie die junge nationale Bourgeoisie. Die Vertreter des Kolonialsystems entdecken, daß die Massen alles zu zerstören drohen. Die Sabotage der Brücken, die Zerstörung der Farmen, die Strafexpeditionen, der Krieg treffen die Wirtschaft hart. Auch die nationale Bourgeoisie kann die möglichen Folgen dieses Taifuns nicht absehen. Sie muß befürchten, daß dieser gewaltige Sturm sie hinweggefegt, und deshalb beschwört sie die Kolonialherren immer wieder: »Noch können wir das Blutbad aufhalten, noch haben die Massen Vertrauen zu uns, macht schnell, wenn ihr nicht alles verderben wollt.«

Ein Schritt weiter, und der Führer der nationalistischen Partei distanziert sich von aller Gewaltanwendung. Er versichert nachdrücklich, daß er nichts mit diesen Mau-Mau, diesen Terroristen, diesen Mördern zu tun habe. Bestenfalls verschanzt er sich in einem Niemandsland zwischen Terroristen und Kolonialherren und bietet sich als »Unterhändler« an:

Da die Kolonialherren nicht mit den Mau-Mau verhandeln können, ist er gern bereit, Verhandlungen anzubahnen. Auf diese Weise macht sich die Nachhut des nationalen Kampfes, jener Teil des Volkes, der niemals aufgehört hat, auf der anderen Seite zu stehen, durch einen schier akrobatischen Trick zum Vortrupp der Verhandlungen und des Kompromisses - und das gelingt ihr, weil sie sich wohl gehütet hat, den Kontakt mit dem Kolonialismus jemals abzubrechen. Vor der Verhandlung begnügen sich die meisten nationalistischen Parteien damit, jene »Wildheit« zu erklären, zu entschuldigen. Sie identifizieren sich nicht mit dem Kampf des Volkes, und nicht selten lassen sie sich allesamt dazu hinreißen, solche Aufsehen erregenden Aktionen, die der Presse und der Öffentlichkeit des »Mutterlandes« als abscheulich gelten, auch ihrerseits zu verurteilen. Das Bemühen, die Dinge objektiv zu sehen, dient dieser Politik des Immobilismus als Rechtfertigung. Aber die klassische Haltung des kolonisierten Intellektuellen und der Führer der nationalistischen Parteien ist in Wirklichkeit nicht objektiv. Im Grunde bezweifeln diese Leute, daß die ungeduldige Gewalt der Massen das wirksamste Mittel zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen ist. Oft sind sie auch von der Unwirksamkeit der gewaltsamen Methoden überzeugt. Für sie ist ohne Frage jeder Versudi, die koloniale Unterdrückung niit Gewalt zu brechen, ein verzweifeltes, ein selbstmörderisches Verhalten, weil in ihren Gehirnen die Panzer und die Jagdflugzeuge der Kolonialherren einen enormen Platz einnehmen. Wenn man ihnen sagt: »Es gilt zu handeln«, sehen sie schon Bomben auf ihren Kopf fallen, Panzer auf den Straßen heranrücken, das Maschinengewehr, die Polizei... und bleiben sitzen. Sie brechen erst auf als Verlierer. Ihre Unfähigkeit, durch die Gewalt zu siegen, braucht nicht bewiesen zu werden, sie zeigen sie in ihrem täglichen Leben und in ihrer Taktik. Sie stehen immer noch auf jenem puerilen Standpunkt, den Engels in seiner berühmten Polemik gegen Dühring, jenes Monstrum an Knabenhaftigkeit, eingenommen hat:

»Ebensogut wie Robinson sich einen Degen verschaffen konnte, ebensogut dürfen wir annehmen, daß Freitag eines schönen Morgens erscheint mit einem geladnen Revolver in der Hand, und dann kehrt sich das ganze >Gewalt<-Verhältnis um: Freitag kommandiert, und Robinson muß schan zen... Also der Revolver siegt über den Degen, und damit wird es dod wohl auch dem kindlichsten Axiomatiker begreiflich sein, daß die Gewalt kein bloßer Willensakt ist, sondern sehr reale Vorbedingungen zu ihrer Betätigung erfordert, namentlich Werkzeuge, von denen das vollkommnen das unvollkommnere überwindet; daß ferner diese Werkzeuge produziert sein müssen, womit zugleich gesagt ist, daß der Produzent vollkommnerer Gewaltwerkzeuge, vulgo Waffen, den Produzenten dei unvollkommneren besiegt, und daß, mit einem Wort, der Sieg der Gewalt beruht auf der Produktion von Waffen, und diese wieder auf der Produktion überhaupt, also - auf der »ökonomischen Macht<, auf der >Wirtschaftslage<, auf den der Gewalt zur Verfügung stehenden materieller, Mitteln.« Die reformistischen Führer sagen tatsächlich nichts anderes;

»Womit wollt ihr euch gegen die Kolonialherren schlagen? Mit euren Messern? Mit euren Jagdgewehren?« Es ist •wahr, die Instrumente sind im Bereich der Gewalt wichtig, weil letztlich, alles auf die Verteilung dieser Instrumente ankommt. Aber gerade in diesem Bereich kann die Befreiung der kolonialen Territorien zu einer neuen Erkenntnis führen. Man hat zum Beispiel gesehen, daß Napoleon im Spanienfeldzug, einem typischen Kolonialkrieg, trotz seiner Truppenstärke, die während der Frühjahrsoffensiven von 1810 die ungeheure Zahl von 400.000 Mann erreicht hatte, zum Rückzug gezwungen worden ist. Dabei ließ die französische Armee durch ihre Kriegsinstrumente, die Tapferkeit ihrer Soldaten und das militärische Genie ihrer Offiziere ganz Europa erzittern. Angesichts der riesigen Mittel der napoleonischen Truppen haben die Spanier, getragen von einem unerschütterlichen Patriotismus, ihre berühmte Guerilla-Taktik entwickelt, die übrigens schon die amerikanischen Milizen, 25 Jahre früher, gegen die englischen Truppen erprobt hatten. Aber die Guerilla der Kolonisierten wäre als Instrument der Gewalt gegenüber anderen Gewaltinstrumenten nichts, wenn sie nicht zugleich ein neues Element im globalen Konkurrenzkampf der Trusts und der Monopole wäre.

Zu Beginn der Kolonisation konnte eine einzige Marschkolonne riesige Territorien besetzen: Kongo, Nigeria, die Elfenbeinküste usw.... Heute aber fügt sich der nationale Kampf des Kolonisierten in eine absolut neue Situation ein. Der Kapitalismus sah in seiner Blütezeit in den Kolonien eine Quelle von Rohstoffen, die nach ihrer Verarbeitung auf den europäischen Markt geworfen werden konnten. Nach einer Phase der Akkumulation des Kapitals kommt er heute dazu, seine Auffassung von der Rentabilität eines Geschäfts zu modifizieren. Die Kolonien sind ein Markt geworden. Die Kolonialbevölkerung ist eine kaufende Kundschaft. Wenn jetzt aber die Garnison ewig verstärkt werden muß, wenn der Handel nachläßt, das heißt, wenn die Fertigwaren nicht mehr exportiert werden können, so beweist das, daß die militärische Lösung keine Lösung mehr ist. Eine blinde Herrschaft nach Sklavenhaltergeschmack ist für das »Mutterland« wirtschaftlich nicht rentabel. Die monopolistische Fraktion der Bourgeoisie im »Mutterland« unterstützt keine Regierung mehr, deren Politik einzig und allein die des Schwertes ist. Die Industriellen und. Finanzleute des »Mutterlandes« erwarten von ihrer Regierung nicht die Dezimierung der Bevölkerung; sie erwarten, daß diese Regierung ihre »legitimen Interessen« durch Handelsabkommen und Wirtschaftsverträge wahrt.

Es besteht also eine objektive Komplizenschaft zwischen dem Kapitalismus und den gewaltsamen Kräften, die im kolonialen Territorium losbrechen. Außerdem steht der Kolonisierte dem Unterdrücker nicht allein gegenüber. Er kann mit der politischen und diplomatischen Hilfe fortschrittlicher Länder und Völker rechnen. Vor allem aber kann er sich auf die Konkurrenz, den unbarmherzigen Kampf verlassen, den sich die Finanzgruppen liefern. Die Berliner Konferenz hat das zerstückelte Afrika unter drei oder vier Flaggen aufteilen können. Heute dagegen ist es unwichtig, ob irgendein afrikanisches Gebiet unter französischer oder unter belgischer Oberhoheit steht: worauf es ankommt, das ist der Schutz der wirtschaftlichen Einflußzonen. Artilleriefeuer und Politik der verbrannten Erde sind der wirtschaftlichen Unterwerfung gewichen. Man führt Jetzt keine Unterdrückungskriege gegen irgendwelche rebellischen Sultane. Man geht eleganter und weniger blutig vor. Man beschließt die friedliche Liquidierung des Castro-Regimes, man versucht Guinea zugrunde zu richten, man schaltet Mossadegh aus. Der nationale Führer, der vor der Gewalt Angst hat, irrt also, wenn er sich einbildet, der Kolonialismus werde »uns alle massakrieren«. Die Militärs fahren zwar ^°rt, mit den Puppen aus der Eroberungszeit zu spielen, aber die Finanzkreise beeilen sich, sie in die Wirklichkeit zurückzuholen.

Deshalb wird von den vernünftigen nationalistischen Parteien erwartet, daß sie so klar wie möglich ihre Forderungen vorträgen und mit dem kolonialistischen Partner in Ruhe und ohne Leidenschaft eine Lösung suchen, die die Interessen beider Seiten respektiert. Und wenn dieser nationalistische Reformismus, der sich oft als eine Karikatur der Gewerkschaftsbewegung erweist, dann zu handeln beschließt, wird er es auf ganz friedlichen Wegen tun: Arbeitsniederlegungen in den wenigen städtischen Industrien, Massendemonstrationen mit Akklamationen für die Parteiführer, Boykott der Autobusse und der importierten Lebensmittel. Alle diese Aktionen dienen gleichzeitig dazu, den Kolonialismus unter Druck zu setzen und dem Volk zu erlauben, sich auszutoben. Eine solche Schlafkur für das Volk kann zuweilen zum Erfolg führen. In solchen Fällen geht aus der Diskussion am grünen Tisch immer dieselbe politische Lösung hervor. M'ba, der Präsident der Republik Gabun, hat sie beim Antritt seines Staatsbesuches in Paris feierlich zu Ende formuliert: »Gabun ist unabhängig, aber zwischen Gabun und Frankreich hat sich nichts geändert. Alles bleibt wie es war.« In der Tat, die einzige Änderung besteht darin, daß M'ba Präsident der Republik Gabun ist, und daß er vom Präsidenten der französischen Republik empfangen wird. Die kolonialistische Bourgeoisie wird in ihrem Beruhigungswerk an den Kolonisierten von der stets dienstbereiten Religion unterstützt. Alle Heiligen, die die zweite Wange hingehalten, Beleidigungen vergeben, sich nicht gerührt haben, als sie angespuckt und beschimpft wurden, werden zu Vorbildern erklärt und ausgeboten. Wenn die Eliten der kolonisierten Länder, diese freigelassenen Sklaven, endlich an der Spitze der Bewegung stehen, bringen sie unweigerlich einen Ersatz für den Kampf hervor, dem sie ausgewichen sind. Sie benutzen die Versklavung ihrer Brüder, um die Sklavenhalter zu beschämen und den konkurrierenden Finanzgruppen ihrer Unterdrücker ein humanitäres Alibi zu verschaffen. Niemals appellieren sie wirklich an die Sklaven, niemals mobilisieren sie diese konkret. Ganz im Gegenteil, im Moment der Wahrheit, das heißt für sie: der Lüge, drohen sie mit einer Mobilisierung der Massen, als sei diese Drohung die entscheidende Waffe, die wie durch ein Wunder das »Ende des Kolonialregimes« herbeiführen werde. Natürlich gibt es innerhalb dieser politischen Parteien und ihrer Kader auch Revolutionäre, die sich von der Farce der nationalen Unabhängigkeit entschieden abwenden. Aber es dauert nicht lange, bis die Interventionen, die Initiativen, die Wutausbrüche dieser Minderheit dem Parteiapparat lästig werden. Dann isoliert man diese Elemente Schritt für Schritt und schaltet sie schließlich kurzerhand aus. Zur gleichen Zeit, als gäbe es hier ein dialektisches Zusammenwirken, stürzt sich die kolonialistische Polizei auf sie. Ohne sicheren Unterschlupf in den Städten, von den alten Revolutionären gemieden, von den neuen Parteihäuptern verstoßen, werden diese unerwünschten Personen mit dem aufrührerischen Blick auf dem Lande stranden. Dann bemerken sie in einer Art Taumel, daß die bäuerlichen Massen ihre Ansichten auf eine Andeutung hin verstehen und ihnen unvermittelt Jene Frage stellen, auf die sie keine Antwort parat haben: »Wann geht es los?« Diese Begegnung der städtischen Revolutionäre mit den Bauern wird noch genauer zu erörtern sein. Kehren wir zu den politischen Parteien zurück, um zu zeigen, daß ihre Handlungen trotz allem auch fortschrittliche Züge aufweisen. In ihren Reden »nennen« die politischen Führer das eigene Land. Dadurch geben sie den Forderungen des Kolonisierten zwar keinen Inhalt, kein politisches und soziales Programm, aber doch eine einheimische Form, einen Rahmen, also das, was wir die Minimalforderung nennen können. Die Politiker, die das Wort ergreifen, die in den nationalistischen Zeitungen schreiben, lassen das Volk träumen. Sie umgehen den Umsturz, führen jedoch gefährliche Umsturzfermente in das Bewußtsein der Hörer oder Leser ein. Oft wird die National- oder Stammessprache benutzt. Auch das heißt, den Traum nähren, der Phantasie erlauben, sich außerhalb der kolonialen Ordnung zu tummeln. Manchmal sagen diese Politiker noch: »Wir Neger, wir Araber«, und diese während der Kolonialperiode sehr ambivalente Anrede erhält eine Art Weihe. Die nationalistischen Politiker spielen mit dem Feuer. Ein afrikanischer Parteiführer machte neulich einer Gruppe von jungen Intellektuellen das folgende Geständnis: »Denkt nach, bevor ihr zu den Massen sprecht, sie entzünden sich schnell.« Das heißt, daß es eine List der Geschichte gibt; sie spielt in den Kolonien eine grausame und eine große Rolle.

Wenn ein politischer Führer das Volk zu einer Versammlung zusammenruft, liegt sozusagen Blut in der Luft. Trotzdem beschäftigt sich der Redner oft vor allem damit, seine Macht zu zeigen. Er zeigt sie, damit er sie nicht benutzen muß. Aber die derart geschürte Unruhe - gehen, kom-men, Reden anhören, das Volk versammelt sehen, die Polizisten drumherum, dazu die militärischen Demonstrationen, die Verhaftungen, die Deportationen politischer Führer - dieses ganze Durcheinander gibt dem Volk den Eindruck, daß seine Stunde gekommen ist, die Stunde der Tat. In solchen Momenten der Instabilität vermahnen die politischen Parteien die Linke zur Ruhe, während sie auf der Rechten den Horizont absuchen, um die liberalen Absichten des Kolonialismus zu enträtseln. Auch bestimmte Episoden aus dem Leben des Kollektivs dienen dem Volk dazu, sich in Form zu halten, sich seine revolutionäre Leistungsfähigkeit zu bewahren. Der Bandit zum Beispiel, der sich tagelang gegen die auf seine Spur gesetzten Gendarmen behauptet, derjenige, der in einem Einzelkampf unterliegt, nachdem er vier oder fünf Polizisten niedergeschlagen hat, derjenige, der sich das Leben nimmt, um seine Komplizen nicht »dranzugehen«, sie dienen dem Volk als Leitsterne, Aktionsmodelle, »Helden«. Da nutzt es gar nichts zu sagen, dieser Held sei ein Dieb, ein Schurke oder ein Verbrecher. Wenn die Tat, deretwegen er von den Behörden verfolgt wird, ausschließlich gegen eine kolonialistische Person oder Sache gerichtet war, dann ist die Demarkation deutlich, flagrant. Der Identifikationsprozeß vollzieht sich von selbst. Man muß auch auf die Rolle hinweisen, die die Geschichte des einheimischen Widerstandes gegen die Eroberung in diesem Reifungsprozeß spielt. Die großen Figuren des kolonisierten Volkes sind immer die, die den Widerstand gegen die Invasion geleitet haben. Behanzin, Soundiata, Samory, Abdel Kader erwachen in der Zeit, die der Aktion vorausgeht, mit besonderer Intensität zu neuem Leben. Das ist ein Zeichen dafür, daß das Volk dabei ist, wieder aufzubrechen, die vom Kolonialismus eingeführte tote Zeit hinter sich zu lassen, Geschichte zu machen. Neue Nationen sind nur dort aufgetaucht, alte Kolonialstrukturen nur dort zerstört worden, wo das Volk selbst sich seine Unabhängigkeit gewaltsam erkämpft hat, oder wo ein solcher gewaltsamer Umsturz in der unmittelbaren Nachbarschaft die Kolonialmacht zum Rückzug gezwungen hat. Das kolonisierte Volk ist nicht allein. Trotz der Bemühungen des Kolonialismus bleiben seine Grenzen durchlässig für Nachrichten und Echos. Es entdeckt, daß die Atmosphäre geladen ist mit Gewalt, die hier und dort ausbricht, hier und dort das Kolonialregime wegfegt. Jede gewaltsame Aktion, die Erfolg hatte, spielt eine nicht nur informative, sondern auch operative Rolle für den Kolonisierten. Der große Sieg des vietnamesischen Volkes in Dien-Bien-Phu ist keineswegs nur ein Sieg für Vietnam. Vom Juli 1954 an hieß die Frage, welche die Kolonialvölker sich stellten: »Was ist zu tun, um ein Dien-Bien-Phu zu verwirklichen? Wie muß man es anfangen?« An der Möglichkeit dieses Dien-Bien-Phu konnte kein Kolonisierter mehr zweifeln. Die Frage war nur noch, wie die Kräfte einzuteilen und zu organisieren, und wann sie einzusetzen waren. Die in der Luft liegende Gewalt verändert aber nicht nur die Kolonisierten, sondern auch die Kolonialisten, die ein vielfaches Dien-Bien-Phu auf sich zukommen sehen. Deshalb bemächtigt sich der kolonialistischen Regierungen eine regelrechte Panik. Sie versuchen, der Befreiungsbewegung zuvorzukommen, sie nach rechts zu drücken, das Volk zu entwaffnen: Schnell, dekolonisieren wir! Dekolonisieren wir den Kongo, bevor er sich in ein Algerien verwandelt! Verabschieden wir das Rahmengesetz für Afrika, schaffen wir die Communaute, reformieren wir diese Communaute, aber, ich beschwöre Sie, dekolonisieren wir, ehe es zu spät ist! Dieser Eifer geht so weit, daß man einem Mann wie Houphouet-Boigny die Unabhängigkeit förmlich aufzwingt. Auf die Strategie von Dien-Bien-Phu antwortet der Kolonialist mit der Strategie der Eindämmung... bei allem Respekt vor der Souveränität der neuen Staaten!

Aber kommen wir auf die Gewalt zurück, die überall in der Luft liegt. Wir haben gesehen, wie sie reift, wie sie sich mitteilt und überträgt, und wie sie schließlich zum Ausbruch kommt. Das koloniale Regime versucht sie abzulenken auf lokale Stammesfehden. Sie aber macht sich dennoch auf ihren Weg; der Kolonisierte identifiziert seinen Feind, gibt allen seinen Mißgeschicken einen Namen und wirft die ganze, bis zum Äußersten gereizte Kraft seines Hasses und seiner Wut in die Waagschale. Aber We kommen wir von der atmosphärischen Gewalt zur aktiven Gewalt? Was läßt das Wasser überkochen? Da ist zunächst zu bedenken, daß die Entwicklung den Kolonialherrn nicht ungeschoren läßt. Er, der die Eingeborenen »kennt«, bemerkt allerlei Anzeichen dafür, daß sich etwas tut, daß etwas in der Luft liegt. Die »guten« Eingeborenen machen sich rar, das Schweigen nimmt zu, wenn der Unterdrücker sich nähert. Manchmal sind die Blicke eisig, die Haltungen und Äußerungen rundweg aggressiv. Die nationalistischen Parteien regen sich, vermehren ihre Versammlungen, und gleichzeitig werden die Polizeikräfte vergrößert, es treffen Truppenverstärkungen ein. Die Kolonialherren, besonders die auf ihren Farmen isolierten Landwirte, schlagen als erste Alarm. Sie fordern energische Maßnahmen.

Die Behörden ergreifen tatsächlich aufsehenerregende Maßnahmen, verhaften ein oder zwei Parteiführer, organisieren militärische Aufmärsche Manöver, Flugübungen. Die Machtdemonstrationen, die militärischen Übungen, dieser Pulvergeruch, der die Atmosphäre jetzt erfüllt, lassen das Volk nicht zurückweichen. Die Bajonette und Kanonaden verstärken seine Aggressivität. Eine dramatische Atmosphäre entsteht, in der jeder beweisen will, daß er zu allem bereit ist. In dieser Situation geht der Schuß von alleine los, denn die Nerven sind überreizt, die Furcht hat sich eingestellt, man hat den Finger am Abzug. Ein banaler Vorfall und das Maschinengewehrfeuer beginnt: das ist Serif in Algerien, das sind du Carrieres Centrales in Marokko, das ist Moramanga auf Madagaskar. Die Unterdrückungsaktionen, weit davon entfernt, den Elan zu brechen. beschleunigen noch den Fortschritt des nationalen Bewußtseins. Von einem bestimmten Stadium der Bewußtseinsentwicklung an verstärken die Blutbäder in den Kolonien dieses Bewußtsein; sie machen deutlich, daß zwischen Unterdrückern und Unterdrückten keine Frage gelöst wirtl. es sei denn durch Gewalt. Man muß hier daran erinnern, daß die politischen Parteien die Parole zum bewaffneten Aufstand nicht ausgegeben. diesen Aufstand nicht vorbereitet haben. All diese Unterdrückungsaktionen, all diese von der Angst hervorgerufenen Handlungen kommen den politischen Führern eher ungelegen. Die Ereignisse überraschen sie. Derweil kann der Kolonialismus beschließen, die nationalistischen Führer zu verhaften. Inzwischen haben die Regierungen der kolonialistischen Länder jedoch begriffen, daß es sehr gefährlich ist, den Massen ihre Führer zu nehmen. Denn dann stürzt sich das nicht mehr gezügelte Volk in den Aufstand, den Aufruhr, die »bestialischen Morde«. Die Massen geben ihren »blutrünstigen Instinkten« freien Lauf und erzwingen vom Kolonialismus die Befreiung der politischen Führer, denen nun die schwierige Aufgabe zufällt, die Ruhe wiederherzustellen. Das kolonisierte Volk, das seine Gewalt spontan in die kolossale Aufgabe der Zerstörung des Kolonialsystems investiert hatte, sieht sich in kurzer Zeit auf die passive unfruchtbare Losung; »Befreit X oder Y« zurückgeworfen. Dann wird der Kolonialismus diese Personen befreien und mit ihnen verhandeln. Die Stunde der Volksfeste hat begonnen. (Es kann allerdings vorkommen, daß der verhaftete Führer der authentische Ausdruck der kolonisierten Massen ist. In diesem Fall wird der Kolonialismus von seiner Verhaftung profitieren; er wird versuchen, neue Führer zu lancieren.)

In anderen Fällen bleibt der Apparat der politischen Parteien vielleicht intakt. Aber im Zuge der kolonialistischen Unterdrückung und der spontanen Reaktion des Volkes werden die Parteien von ihren Mitgliedern überrannt. Die Gewalt der Massen leistet den militärischen Kräften des Okkupanten heftigen Widerstand, die Situation verschlimmert sich und wird vollkommen verfahren. Die befreiten politischen Führer bleiben dann zurück. Mit ihrer Bürokratie und ihrem vernünftigen Programm plötzlich überflüssig geworden, sieht man sie, weitab von den Ereignissen, ihren letzten Trick ausspielen. Jetzt sprechen sie plötzlich »im Namen der geknebelten Nation«. Der Kolonialismus wirft sich begierig auf diesen unverhofften Fund, macht diese Überflüssigen zu seinen Gesprächspartnern und gibt ihnen im Handumdrehen die Unabhängigkeit, unter der Voraussetzung, daß sie die Ordnung wiederherstellen. Man sieht, daß sich jedermann dieser Gewalt bewußt ist und daß sie nicht in jedem Fall mit noch größerer Gewalt beantwortet wird. Für die Kolonialmächte geht es vielmehr darum, die Krise zu entschärfen.

Die Intuition der kolonisierten Massen begreift also plötzlich, daß ihre Befreiung durch Gewalt geschehen muß und nur durch sie geschehen kann. Aber wie können diese ausgehungerten und geschwächten Menschen, ohne Technik, ohne Erfahrung mit den Organisationsmethoden, angesichts der wirtschaftlichen und militärischen Macht des Okkupanten sich zu dem Gedanken versteigen, daß nur die Gewalt sie befreien kann? Wie können sie auf einen Sieg hoffen?

Denn die Gewalt, und das ist der Skandal, kann als Methode sehr wohl die Losung einer politischen Partei bilden. Kader können das Volk zum bewaffneten Kampf aufrufen. Diese Problematik der Gewalt gilt es zu reflektieren. Daß der deutsche Militarismus beschließt, seine Grenzprobleme mit Gewalt zu regeln, überrascht uns keineswegs. Wenn aber, beispielsweise, das angolesische Volk beschließt, zu den Waffen zu greifen, wenn das algerische Volk jede Methode verwirft, die nicht gewaltsam ist, so handelt es sich um etwas .ganz anderes: Hier hat die Gewalt ein neues Gesicht. Die kolonisierten Menschen, diese Sklaven der Moderne, sind ungeduldig. Sie wissen, daß allein diese Tollwut sie der kolonialen Unterdrückung entziehen kann. Eine neue Art von Beziehungen ist in der Welt Erstanden. Die unterentwickelten Völker sprengen ihre Ketten, und das Erstaunliche ist, daß es ihnen gelingt. Man darf behaupten, daß es lächerlich ist, in der Zeit des Sputnik zu verhungern, aber für die kolonisierten Massen betrifft die Erklärung weniger .den Mond. Die Wahrheit ist, daf heute kein kolonialistisches Land in der Lage ist, die einzige Kampffonr zu wählen, die eine Erfolgschance hätte: die fortgesetzte Stationierung einer starken Besatzungmacht.

Im Innern stehen die kolonialistischen Länder Widersprochen und Forderungen der Arbeiter gegenüber, die den Einsatz ihrer Polizeikräfte nötig machen. Und ihre Truppen benötigen diese Länder bei der gegenwärtigen internationalen Lage, um ihr Regime zu schützen. Schließlich kennt man den Mythos der von Moskau gesteuerten Befreiungsbewegungen, der in der panikmachenden Argumentation des Regimes bedeutet: »Wenn das so weitergeht, werden die Kommunisten von diesen Unruhen profitieren, sie werden diese Gebiete unterwandern.«

Die Tatsache, daß der Kolonisierte in seiner Ungeduld nach Kräften mit der Gewalt droht, beweist, daß er sich des außergewöhnlichen Charakters der gegenwärtigen Situation bewußt ist und sie zu nutzen gedenkt. Aber auch durch seine unmittelbare Erfahrung gewinnt der Kolonisierte, der die moderne Welt bis in die entlegensten Winkel des Busches vordringen sieht, ein scharfes Bewußtsein davon, was er nicht besitzt. Eine Art von kindlicher Logik überzeugt die Massen davon, daß man ihnen alle diese Dinge gestohlen hat. Unter diesen Umständen schreiten sie in manchen unterentwickelten Ländern sehr schnell voran und begreifen nach zwei oder drei Jahren der Unabhängigkeit, daß sie frustriert sind, daß »es sich nicht gelohnt hat«, zu kämpfen, wenn in Wirklichkeit alles beim Alten bleibt. Nach der bürgerlichen Revolution von 1789 haben die kleinsten französischen Bauern substantiell von dieser Umwälzung profitiert. Aber es ist allgemein bekannt, daß in der Mehrheit der Fälle, für 95% der Bevölkerung der unterentwickelten Länder, die Unabhängigkeit keine unmittelbare Veränderung bringt. Ein scharfer Beobachter stellt die Existenz einer verhohlenen Unzufriedenheit fest, vergleichbar jener Glut, die nach dem Löschen einer Feuersbrunst immer wieder aufzuflackern droht.

Man sagt dann, die Kolonisierten wollten zu schnell vorwärts kommen. Vergessen wir Jedoch niemals, daß man vor nicht allzu langer Zeit von ihrer Langsamkeit, ihrer Faulheit, ihrem Fatalismus überzeugt war. Man kann schon beobachten, daß die Gewalt, die zur Zeit des Befreiungskampfes in ganz bestimmten Kanälen verlief, durch den Zauber einer neuen Nationalflagge nicht zum Erlöschen gebracht wird. Sie erlischt umso weniger, als der nationale Aufbau mehr und mehr in den Rahmen des entscheidenden Wettstreits zwischen Kapitalismus und Sozialismus tritt.

Dieser Wettstreit gibt den lokalsten Forderungen eine quasi universale Dimension. Jede Versammlung, jeder Unterdrückungsakt hallt in der internationalen Arena wieder. Die Morde von Sharpeville haben die öffentliche Meinung monatelang mobilisiert. Durch Presse und Funk und im privaten Gespräch ist Sharpeville zu einem Symbol geworden. Am Beispiel Sharpevilles haben Männer und Frauen das Problem der Apartheid in Südafrika kennengelernt. Und man kann nicht behaupten, Demagogie allein erkläre das plötzliche Interesse der Großen für die kleinen Angelegenheiten der unterentwickelten Gebiete. Jeder Aufstand, jede Erhebung in der Dritten Welt gewinnt im Rahmen des Kalten Krieges Bedeutung. In Salisbury werden zwei Menschen niedergeknüppelt, und schon gerät ein ganzer Block in Bewegung, spricht von diesen beiden Menschen und wirft, von diesem Fall veranlaßt, das besondere Problem Rhodesiens auf - um es mit dem ganzen Afrikakomplex und mit der Gesamtheit der kolonisierten Menschen in Verbindung zu bringen. Doch auch der andere Block ermißt am Ausmaß dieser Kampagne die schwachen Stellen seines Systems. Die kolonisierten Völker machen die Erfahrung, daß keine Mächtegruppe es sich leisten kann, ihre lokalen Zwischenfälle zu ignorieren. Von dieser Atmosphäre weltweiter Erschütterungen ergriffen, hören sie auf, sich auf ihren regionalen Horizont zu beschränken. Wenn man alle drei Monate erfährt, daß sich die 6. oder 7. Flotte einer bestimmten Küste nähert, wenn Chruschtschow droht, Castro mit Raketen zu retten, wenn Kennedy anläßlich des Laos-Problems beschließt, äußerste Maßnahmen zu ergreifen, gewinnt der Kolonisierte oder der neue Unabhängige den Eindruck, daß er, ob er will oder nicht, in einen entfesselten Aufbruch hineingeraten ist. Tatsächlich marschiert er schon. Nehmen wir zum Beispie! die Regierungen der eben erst unabhängig gewordenen Länder. Die Männer, die dort an der Macht sind, verbringen zwei Drittel ihrer Zeit damit, die Umgebung zu überwachen, um "er Gefahr zuvorzukommen, die sie bedroht: ein Drittel bleibt für ihre Arbeit übrig. Gleichzeitig suchen sie nach Unterstützung. Derselben Dialektik gehorchend wendet sich die nationale Opposition verächtlich von den parlamentarischen Wegen ab. Sie sucht Verbündete, die bereit sind, sie in ihrem brutalen Aufstandsunternehmen zu unterstützen. Die Atmosphäre der Gewalt, die einst die koloniale Phase geprägt hatte, beherrscht auch das Leben der neuen Staaten. Die Dritte Welt steht nicht abseits: sie ist das Sturmzentrum. Deswegen behalten die Staatsmänner der unterentwickelten Länder in ihren Reden unentwegt die alten aggressiven, grollenden Töne bei, die normalerweise hätten verschwinden müssen. Man begreift auch die oft vermerkte Unhöflichkeit der neuen Führer. Was man jedoch weniger sieht, ist die äußerste Höflichkeit derselben Führer in ihren Kontakten zu den Brüdern oder den Genossen. Die Unhöflichkeit ist zunächst ein Verhalten gegenüber den anderen, gegenüber den ehemaligen Kolonialisten, die angereist kommen, um Reportagen zu machen. Der Ex-Kolonisierte hat allzu oft den Eindruck, daß das Fazit aus diesen Reportagen schon gezogen ist. Die Reisen des Journalisten sind nur eine Rechtfertigung. Die Photographien, die den Artikel illustrieren, erbringen den Beweis, daß man kennt, worüber man spricht, daß man da gewesen ist. Die Reportage soll bestätigen, was evident ist: alles läuft schlecht da unten, seit wir nicht mehr da sind. Die Journalisten beklagen sich oft. schlecht empfangen zu werden, unter schlechten Bedingungen arbeiten zu müssen, auf eine Wand von Gleichgültigkeit und Feindschaft zu stoßen. All das ist ganz normal. Die einheimischen Führer wissen, daß die internationale Meinung ausschließlich von der Westpresse gemacht wird. Wenn uns nun ein westlicher Journalist interviewt, so geschieht es selten, um uns einen Dienst zu erweisen. Im Algerienkrieg zum Beispiel haben selbst die liberalsten französischen Reporter es nicht unterlassen, zweideutige Begriffe zur Charakterisierung unseres Kampfes zu verwenden. Wenn man ihnen das vorwirft, antworten sie ganz gutgläubig, sie seien objektiv. Für den Kolonisierten ist Objektivität immer etwas, das sich gegen ihn richtet. Man begreift auch diesen neuen Ton, der im September 1960 in der Vollversammlung der Vereinten Nationen die internationale Diplomatie über den Haufen geworfen hat. Die Vertreter der Kolonialländer waren aggressiv, ungestüm, maßlos, aber die Kolonialvölker waren nicht der Meinung, daß sie übertrieben. Der Radikalismus der afrikanischen Wortführer hat das Geschwür zum Reifen gebracht und ha: jedenfalls deutlich werden lassen, wie unannehmbar die Vetos und die Zwiegespräche der Großmächte sind. Sie haben klar gemacht, daß die Dritte Welt sich mit der winzigen Rolle, die man ihr zubilligt, nicht abfinden wird. Die Diplomatie, wie sie von den seit kurzem unabhängigen Völkern eingeführt wurde, bewegt sich nicht mehr in Nuancen, in geheimen Vorbehalten, hinter den Kulissen. Das liegt daran, daß diese Wortführer von ihren Völkern beauftragt sind, gleichzeitig die Einheit der Nation, den Fortschritt der Massen zum Wohlstand und das Recht der Völker auf Freiheit und Brot zu verteidigen.

Es ist eine Diplomatie in Bewegung, im Fieber, die einen merkwürdigen Kontrast zu der unbeweglichen, versteinerten Welt der Kolonisation bildet. Und wenn Chruschtschow in der UNO mit seinem Schuh auf den Tisch haut, findet das kein Kolonisierter, kein Vertreter der unterentwickelten Länder lächerlich. Denn Chruschtschow zeigt den kolonisierten Ländern, die auf ihn sehen, daß er, der Mushik, der übrigens Raketen besitzt, diese erbärmlichen Kapitalisten so behandelt, wie sie es verdienen. Ebensowenig macht Castro, wenn er in Militäruniform in der UNO sitzt, bei den unterentwickelten Ländern Skandal. Castro zeigt nichts anderes, als daß er sich der fortdauernden Herrschaft der Gewalt bewußt ist. Erstaunlich ist nur, daß er nicht mit seinem Maschinengewehr in die UNO kam; aber wahrscheinlich hätte man dagegen protestiert. Die Aufständischen, die Desperados, die mit Messern und Äxten bewaffneten Gruppen finden ihre nationale Identität im unerbittlichen Kampf, den der Kapitalismus und der Sozialismus gegeneinander führen: in diesem Kampf sind sie Zuhause.

Noch im Jahre 1945 konnten die 4$ ooo Toten von Setif unbemerkt bleiben ; 1947 gaben die 90.000 Toten von Madagaskar eine kleine Meldung in den Zeltungen ab; 1952 nahm die Welt ziemlich gleichgültig von den 200.000 Opfern der Unterdrückung in Kenia Notiz. Die internationalen Widersprüche waren noch nicht genügend zugespitzt. Schon der Korea und der Indochinakrieg hatten eine neue Phase eingeleitet. Doch sind es vor allem Budapest und Suez, die die entscheidenden Momente dieser Konfrontation bilden.

Der bedingungslosen Unterstützung der sozialistischen Länder sicher, Stürzen sich die Kolonisierten mit den Waffen, die sie haben, auf die Festung des Kolonialismus. Mag diese Festung auch für die Messer und die bloßen Fäuste uneinnehmbar sein - sie ist es nicht mehr, wenn man sich entschließt, den Kontext des Kalten Krieges zu berücksichtigen. In dieser neuen Lage nehmen die Amerikaner ihre Führungsrolle im internationalen Kapitalismus sehr ernst. In einer ersten Phase raten sie den europäischen Ländern zur friedlichen Dekolonisation. In einer zweiten Phase zögern sie nicht, zunächst die Respektierung, dann die Durchsetzung des Grundsatzes »Afrika den Afrikanern« zu proklamieren. Heute scheuen sich die Amerikaner nicht einmal, offiziell zu erklären, sie seien die Verteidiger des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung. Die letzte Reise von Mennen-Williams war nur die Illustration ihrer Überzeugung, daß die Dritte Welt nicht preisgegeben werden dürfe. Man versteht jetzt, warum die Gewalt des Kolonisierten nur dann verzweifelt wirkt, wenn man sie in abstracto mit der Militärmaschinerie der Unterdrücker vergleicht. Sieht man sie jedoch innerhalb der internationalen Dynamik, so merkt man, daß sie eine furchtbare Bedrohung für den Unterdrücker darstellt. Die Hartnäckigkeit der Aufstände und der Mau-Mau-Bewegung bringt das Wirtschaftsleben der Kolonie aus dem Gleichgewicht, aber sie gefährdet das »Mutterland« nicht unmittelbar. Entscheidender ist in den Augen des Imperialismus, daß die Chancen der sozialistischen Propaganda, die Massen zu infiltrieren, sie anzustecken, dabei wachsen. Das ist schon in der kalten Periode des Konfliktes eine ernste Gefahr; aber was würde erst im Falle eines heißen Krieges aus dieser durch mörderische Guerillas verpesteten Kolonie werden?

Der Kapitalismus sieht also ein, daß seine militärische Strategie ausgespielt hat, wenn sich die nationalen Befreiungskriege ausbreiten. Deshalb müssen im Rahmen der friedlichen Koexistenz alle Kolonien verschwinden, und der Kapitalismus muß im äußersten Fall auch den Neutralismus respektieren. Zu verhindern gilt es vor allem die strategische Unsicherheit, die Aufgeschlossenheit der Massen gegenüber einer feindlichen Doktrin, den radikalen Haß von einigen zehn Millionen Menschen. Die kolonisierten Völker sind sich dieser Notwendigkeiten, die die internationale Politik beherrschen, vollkommen bewußt. Deshalb entscheiden und handeln selbst die, die gegen die Gewalt wettern, im Sinne dieser globalen Gewalt., Heute unterhält und provoziert die friedliche Koexistenz zwischen den beiden Blöcken die Gewalt in den Kolonialländern. Morgen, nach der vollständigen Befreiung der kolonialen Territorien, wird sich vielleicht die Domäne der Gewalt verlagern, wird sich vielleicht das Minderheitsproblem stellen. Schon zögern einige dieser Minderheiten nicht, gewaltsame Methoden zur Lösung ihrer Probleme zu predigen, und es ist kein Zufall, sagt man uns, wenn schwarze Extremisten in den Vereinigten Staaten Milizen bilden, sich folglich bewaffnen. Es ist ebensowenig Zufall, wenn es in der sogenannten Freien Welt Komitees zum Schutz der jüdischen Minderheiten in der Sowjetunion, und wenn General de Gaulle in einer seiner Reden ein paar Tränen für die Millionen Muiselmanen unter dem kommunistischen Joch vergießt. Der Kapitalismus und der Imperialismus sind überzeugt, daß die nationalen Befreiungsbewegungen und der Kampf gegen den Rassismus nichts weiter als ferngesteuerte, »von außen« geschürte Unruhen sind. Deshalb bedienen auch zum sich dieser vermeintlich so wirksamen Taktik und gründen Komitees zum Schutz unterdrückter Minderheiten... Sie »machen in« Anti-Kolonialismus, so wie die französischen Obersten in Algerien versucht haben mit dem Service de l'Armee Secrete und den psychologischen Abteilungen den subversiven Krieg gleichsam umzudrehen. Sie »benutzten das Volk gegen das Volk«. Man weiß, wohin das führt.

Diese Atmosphäre von Gewalt und Drohung, dieses Drohen mit Raketen erschreckt und verwirrt die Kolonisierten nicht. Wir haben gesehen, daß ihre ganze neuere Geschichte sie dazu prädestiniert, diese Situation zu »verstehen«. Zwischen der kolonialen Gewalt und der friedlichen Gewalt, in der die gegenwärtige Welt schwimmt, gibt es eine Komplizenschaft, eine Homogenität. Die Kolonisierten haben sich dieser Atmosphäre angepaßt. Sie sind zum ersten Male auf der Höhe ihrer Zeit. Man wundert sich manchmal, daß die Kolonisierten, anstatt ihrer Frau ein Kleid zu schenken, lieber einen Transistor kaufen. Das ist gar nicht verwunderlich. Die Kolonisierten sind überzeugt, daß es jetzt um ihr Schicksal geht. Sie leben in einer Weltuntergangsatmosphäre und glauben, daß ihnen nichts entgehen darf. Deshalb verstehen sie Phouma und Phoumi, Lumumba und Tschombe, Ahidjo und Moumie, Kenyatta und diejenigen, die man periodisch an die Spitze stellt, um ihn zu ersetzen. Sie verstehen alle diese Männer sehr gut, denn sie entlarven die Kräfte, die hinter ihnen stehen. Der Kolonisierte, der unterentwickelte Mensch ist heute ein »Zoon poli-tikon« im umfassendsten Sinn des Wortes.

Gewiß hat die Unabhängigkeit den kolonisierten Menschen die moralische Rehabilitierung gebracht und ihre Würde bekräftigt. Aber sie haben noch nicht Zeit genug gehabt, um eine neue Gesellschaft zu entwerfen, neue Werte zu setzen und zu behaupten. Ein eigener sozialer Raum, in dem der Staatsbürger und der Mensch sich immer weiter entfalten und neues Terrain für sich gewinnen könnte, existiert noch nicht. In eine Art Unbestimmtheit geworfen, sind diese Menschen sehr leicht davon zu überzeugen, daß sich alles woanders und für alle Welt zugleich entscheiden wird. Die politischen Führer aber, die sich vor dieser Lage sehen, zögern und wählen den Neutralismus.

Es gäbe viel zu sagen über den Neutralismus. Für gewisse Leute ist er weiter nichts als ein schäbiger Kuhhandel, der darin besteht, von rechts und von links zu nehmen. Der Neutralismus, diese Schöpfung des Kalten Krieges, erlaubt den unterentwickelten Ländern zwar, Wirtschaftshilfe von beiden Seiten zu empfangen, aber dafür erlaubt er keiner der beiden Seiten, den unterentwickelten Gebieten so zu helfen, wie es nötig wäre. Jene buchstäblich astronomischen Summen, die in die militärischen Forschungen investiert werden, jene Ingenieure, die sich in Techniker des Atomkrieges verwandelt haben, könnten in i $ Jahren das Lebensniveau der unterentwickelten Länder um 60 % erhöhen. Man sieht, daß das wohlverstandene Interesse der unterentwickelten Länder weder in der Verschärfung noch in der Verlängerung des Kalten Krieges liegt. Sie werden jedoch nicht um ihre Meinung gefragt. Wenn sie die Möglichkeit dazu haben, entscheiden sie sich für das Disenagement. Aber können sie e«. denn? Frankreich zum Beispiel macht in Afrika seine Atomversuche Sieht man von Resolutionen, Versammlungen und diplomatischen Krachen ab, so kann man nicht behaupten, daß die afrikanischen Völker in dieser Frage gegen die Haltung Frankreichs viel ausgerichtet hätten. Der Neutralismus bringt beim Bürger der Dritten Welt eine merkwürdige Geisteshaltung hervor. Er ist in seinem Verhalten unerschrocken und zeigt einen hieratischen Stolz, der etwas herausforderndes hat. Seine bewußte Ablehnung des Kompromisses, sein fester Wille, sich nicht zu binden, erinnert an das Verhalten eines stolzen und unbemittelten Jünglings, der immer bereit ist, sich für ein Wort zu opfern. All das bringt die westlichen Beobachter aus der Fassung. Was sie empört, ist das Mißverhältnis zwischen dem, was diese Menschen zu sein beanspruchen, und dem, was ihnen tatsächlich zur Verfügung steht. Diese Länder ohne Straßenbahnen, ohne Truppen, ohne Geld rechtfertigen keineswegs den Hochmut, den sie zur Schau stellen. Hat man es am Ende mit lauter Hochstaplern zu tun? Die Dritte Welt macht oft den Eindruck, als gefiele sie sich in theatralischen Auftritten, als brauche sie ihre wöchentliche Dosis an Krisen. Die politischen Führer dieser leeren Länder, die das große Wort führen, erregen Unwillen. Man möchte sie zum Schwelgen bringen. Dennoch hofiert man sie. Man schenkt ihnen Blumen. Man lädt sie ein. Ja, man reißt sich um sie. Das ist Neutralismus. Obwohl sie zu 98% Analphabeten sind, gibt es eine riesige Literatur über sie. Sie reisen maßlos viel. Die Anführer der unterentwickelten Länder und ihre Studenten sind Stammkunden der Fluggesellschaften. Die afrikanischen und asiatischen Verantwortlichen haben die Möglichkeit, in ein und demselben Monat an einem Kursus über die sozialistische Planung in Moskau und an einem Kursus über die Vorzüge der liberalen Wirtschaft in London oder an der Columbia-University teilzunehmen. Auch die afrikanischen Gewerkschaftler schreiten rasch voran. Kaum hat man ihnen Posten in den Führungsorganisationen anvertraut, so beschließen sie schon, sich als autonome Zentralen zu konstituieren. Sie haben nicht ihre fünfzig Jahre Gewerkschaftspraxis im Rahmen eines industrialisierten Landes hinter sich, aber sie wissen bereits, daß eine apolitische Gewerkschaft ein Nonsens ist. Sie haben sich nicht an der bürgerlichen Maschinerie gerieben, sie haben ihr Bewußtsein nicht im Klassenkampf geschärft, aber vielleicht ist das nicht notwendig. Vielleicht. Wir werden sehen, daß dieser Wille, der keine Grenzen kennt, und der sich oft zu weltweiten Machtträumen übersteigert, zu den grundlegenden Merkmalen der unterentwickelten Länder zählt.

Der einzigartige Kampf des Kolonisierten mit dem Kolonialherrn ist, wie gesagt, ein offener, bewaffneter Kampf. Die historischen Beispiele sind Indochina, Indonesien und natürlich Nordafrika. Man darf jedoch nicht außer acht lassen, daß er überall, in Guinea so gut wie in Somalia, hätte ausbrechen können und auch heute noch überall ausbrechen kann, wo der Kolonialismus sich behaupten will, in Angola zum Beispiel. Dieser bewaffnete Kampf beweist, daß das Volk entschlossen ist, sich nur noch auf gewaltsame Mittel zu verlassen. Dieses Volk, dem man immer gesagt hat, daß es nur die Sprache der Gewalt verstehe, beschließt, sich durch die Gewalt auszudrücken. Im Grunde hat der Kolonialherr ihm seit jeher den Weg gezeigt, den es wählen muß, wenn es sich befreien will. Das Argument, das der Kolonisierte wählt, hat ihm der Kolonialherr geliefert, und durch eine ironische Umkehrung ist es Jetzt der Kolonisierte, der behauptet, daß der Kolonialist nur die Gewalt verstehe. Das Kolonialregime gewinnt seine Legitimität aus der Gewalt und versucht keinen Augenblick lang, über diese Natur der Dinge hinwegzutäuschen. Alle Denkmäler, von Faidherbe oder Lyautey, von Bugeaud oder dem Sergeanten Blandan, alle diese auf dem kolonialen Boden aufgebauten Conquistadoren bedeuten immer nur ein und dieselbe Sache: »Wir stehen hier durch die Gewalt der Bajonette...« Die Fortsetzung ist leicht zu finden. Während der Aufstandsphase argumentiert jeder Kolonialherr von der ihm eigenen präzisen Arithmetik her. Diese Logik überrascht die anderen Kolonialherren nicht, aber wichtiger ist, daß sie ebenso wenig die Kolonisierten überrascht. Das Beharren auf dem Grundsatz »Ihr oder wir« bildet zunächst kein Paradox, weil ja der Kolonialismus, wie wir gesehen haben, die Organisation einer manichäischen, in Abteile getrennten Welt ist. Und wenn der Kolonialherr, eindeutige Mittel anpreisend, jeden Vertreter der unterdrückenden Minderheit auffordert, 30 oder 100 oder 200 Eingeborene umzulegen, stellt er fest, daß niemand entrüstet ist und daß das Problem höchstens darin besteht, ob man das auf einen Schlag oder in Etappen erledigen soll.

Es ist evident, daß solche Ausrottungsaktionen die Sache, die man retten wollte, zerstören. Genau das meint Sartre, wenn er schreibt: »Kurz, durch die Tatsache allein, daß man sie wiederholt (gemeint sind die rassistischen Ideen, d. Verf.), entdeckt man, daß die gleichzeitige Vereinigung aller gegen die Eingeborenen nicht realisierbar ist, daß sie nur zirkulierende Rückläufigkeit ist, und daß im übrigen diese Vereinigung als aktive Gruppierung nur den Zweck haben könnte, die Kolonisierten zu erschlagen, eine ständige und absurde Versuchung des Kolonialherrn, die, wenn sie überhaupt realisierbar wäre, darauf hinausliefe, die Kolonisierung schlagartig aufzuheben.« (Critique de la Raison dialectique, Paris 1960, S. 346). Eine Argumentation, die das zahlenmäßige Verschwinden des kolonisierten Volkes vorsieht, stürzt den Kolonisierten nicht in moralische Entrüstung. Er hat schon immer gewußt, daß sich seine Begegnungen mit dem Kolonialherrn in einer geschlossenen Arena abspielen würden. Deshalb verschwendet er seine Zeit nicht mit Lamentieren und bemüht sich fast niemals darum, im kolonialen Rahmen Recht zu bekommen. Die Argumentation des Kolonialherrn kann den Kolonisierten nicht erschüttern, denn diesem stellt sich das Problem seiner Befreiung praktisch in identischen Begriffen: »Bilden wir Gruppen von 200 oder $00, und jede Gruppe nimmt sich einen Kolonialherrn vor.« In dieser wechselseitigen Geistesverfassung beginnt jeder der beiden Protagonisten den Kampf. Für den Kolonisierten bedeutet diese Gewalt die absolute Praxis. Deshalb versteht sich der Kämpfer als Arbeiter. Die Fragen, die dem Kämpfer von der Organisation gestellt werden, sind von dieser Sicht der Dinge geprägt: »Wo hast du gearbeitet? Mit wem? Was hast du gemacht?« Die Gruppe verlangt, daß jeder eine unwiderrufliche Handlung vollbringe. In Algerien zum Beispiel, wo fast alle Menschen, die das Volk zum nationalen Kampf aufgerufen haben, zum Tode verurteilt waren oder von der französischen Polizei gesucht wurden, entsprach das Vertrauen dem Grad der Hoffnungslosigkeit jedes Falles. Ein neuer Kämpfer war zuverlässig, wenn er nicht mehr ins Kolonialsystem zurückkehren konnte. Diesen Mechanismus gab es offenbar auch in Kenia bei den Mau-Mau; sie verlangten, daß alle Mitglieder der Gruppe ein Opfer erschlügen. Jeder war also für den Tod dieses Opfers persönlich verantwortlich. Arbeiten heißt, am Tod des Kolonialherrn arbeiten. Die Gewalt, die sie ausgeübt haben, erlaubt sowohl den Verirrten als auch den Geächteten der Gruppe, zurückzukehren, ihren Platz wiederzufinden, sich zu reintegrieren. Die Gewalt, heißt das, wird als die ideale Vermittlung verstanden. Der kolonisierte Mensch befreit sich in der Gewalt und durch sie. Diese Praxis klärt den Handelnden auf, weil sie ihm Mittel und Zweck zeigt. Die Dichtung von Cesaire nimmt in dieser Perspektive der Gewalt eine prophetische Bedeutung an. Man tut gut, sich an eine entscheidende Stelle seiner Tragödie zu erinnern, wo sich der Rebell vorstellt:

der rebell (hart) Mein Name: Beleidigt; mein Vorname: Gedemütigt; mein Beruf: Aufständischer; mein Alter: das Alter des Steins.

die mutter Meine Rasse: die menschliche Rasse; meine Religion: die Brüderlichkeit...

der rebell Meine Rasse: die gefallene Rasse. Meine Religion... aber nicht ihr werdet sie vorbereiten mit eurer Entwaffnung... sondern ich mit meiner Revolte und meinen armen geballten Fäusten und meinem struppigen Kopf.  (Sehr ruhig) Ich erinnere mich eines Novembertages; er war noch nicht sechs Monate alt, und der Herr ist in die rußige Hütte getreten wie  ein roter Mond. Er betastete seine kleinen muskulösen Glieder. Es war ein sehr guter Herr, zärtlich streichelte er mit seinen dicken Fingern über das kleine Gesicht voller Grübchen. Seine blauen Augen lachten und sein Mund neckte ihn mit Kosenamen: das wird ein gutes Stück sein, sagte er und sah mich an, und er sagte andere liebenswürdige Dinge, der Herr, daß man rechtzeitig anfangen müsse, daß zwanzig Jahre nicht zuviel seien, um einen guten Christen und einen guten Sklaven, untertänig und wohlergeben, einen guten Aufseher mit schnellem Auge und festem Griff aus ihm zu machen. Und dieser Mann sah in die Wiege meines Sohnes wie in die Wiege eines Aufsehers... Wir sind gekrochen, die Messer in der Faust.. 

die mutter Ach, du wirst sterben.  

der rebell Getötet... ich habe ihn getötet mit meinen eigenen Händen ... Ja: das war ein fruchtbarer und üppiger Tod. Es war Nacht. Wir krochen zwischen dem Zuckerrohr. Die Messer glitzerten in den Sternen, aber die Sterne waren uns egal.  Das Zuckerrohr zerschnitt uns das Gesicht mit Büscheln grüner Klingen. die mutter Ich hatte einen Sohn erträumt, der seiner Mutter die Augen schließt.  

der rebell ich habe mich entschlossen, meinem Sohn die Augen auf eine andere Sonne zu öffnen.  

die mutter ... 0 mein Sohn... Sohn eines bösen und verderblichen Todes'  

der rebell Nein Mutter, eines lebenskräftigen und prächtigen Todes die mutter weil du zuviel gehaßt hast 

der rebell weil ich zuviel geliebt habe 

die mutter Schone mich, ich ersticke in deinen Banden. Ich blute aus deinen Wunden.  

der rebell Und die Welt schont mich nicht... Es gibt in der Welt keinen armen Gelynchten, keinen armen Gefolterten, in dem ich nicht ermordet und gedemütigt werde.  

die mutter Gott im Himmel, befreie ihn. 

DER REBELL Mein Herz, du befreist mich nicht von meinen Erinnerungen... Es war an einem Novemberabend... Und plötzlich durchfuhr Lärm die Stille,  Wir waren aufgesprungen, wir, die Sklaven; wir, der Mist; wir, die Tiere mit den geduldigen Hufen. Wir rannten wie Wahnsinnige; Schüsse ertönten... Wir schlugen zu. Der Schweiß und das Blut erfrischten uns. Wir schlugen zu zwischen den Schreien und die Schreie wurden schriller und ein großer Lärm erhob sich gegen Osten, das waren die Wirtschaftsgebäude, die brannten, und die Flamme berührte zart unsere Backen. Dann kam der Sturm auf das Herrenhaus. Man schoß aus den Fenstern. Wir traten die Türen ein. Das Zimmer des Herrn war weit offen. Das Zimmer des Herrn war hell erleuchtet, und der Herr saß da, ganz ruhig... und die unsrigen blieben stehen... es war der Herr... Ich trat ein. Du bist es, sagte er ganz ruhig zu mir... Ich war es, gerade ich, sagte ich ihm, der gute Sklave, der treue Sklave, der sklavische Sklave, und plötzlich waren seine Augen zwei verängstigte Schaben zur Regenzeit... Ich schlug zu, das Blut spritzte: das ist die einzige Taufe, an die ich mich heute erinnern kann. (Aime Cesaire, Et les chiens se taisaient.)

Man begreift, daß in dieser Atmosphäre alles Alltägliche verschwindet. Man kann nicht mehr Fellache, Zuhälter oder Alkoholiker sein wie früher. Die Gewalt des Kolonialregimes und die Gegengewalt des Kolonisierten halten sich die Waage und entsprechen einander in einer außerordentlichen Homogenität. Diese Herrschaft der Gewalt wird umso furchtbarer sein, Je dichter die Besiedlung durch das »Mutterland« ist. Die Entfaltung der Gewalt innerhalb des kolonisierten Volkes wird der Gewalt, die das bekämpfte Kolonialregime ausübt, proportional sein. Die Regierungen des »Mutterlandes« sind in der ersten Phase der Aufstandsperiode Sklaven der Kolonialherren. Diese Kolonialherren drohen gleichzeitig den Kolonisierten und ihrer eigenen Regierung. Sie werden gegen die einen wie gegen die anderen die gleichen Methoden anwenden. Die Ermordung des Bürgermeisters von Evian gleicht in ihrem Mechanismus und ihren Motivierungen der Ermordung von Ali Boumendjel. Für die Kolonialherren gibt es nicht die Alternative algerisches Algerien oder französisches Algerien, sondern: unabhängiges Algerien oder koloniales Algerien. Alles andere ist Literatur oder Verrat. Die Logik des Kolonialherrn ist unerbittlich, und man ist nur dann über die im Verhalten des Kolonisierten erkennbare Gegenlogik entsetzt, wenn man nicht vorher die Denkmechanismen des Kolonialherrn durchschaut hat. Sobald der Kolonisierte die Gegengewalt wählt, ziehen die Repressalien der Polizei automatisch die Repressalien der nationalen Kräfte nach sich. Doch gibt es keine Äquivalenz der Resul-tate, denn Maschinengewehrfeuer aus dem Flugzeug oder Beschuß durch die Flotte übersteigen an Grauen und Ausmaß die Antworten des Kolonisierten. Dieses Hin-und-Her des Terrors klärt endgültig auch die Ent-fremdetsten der Kolonisierten über ihre Lage auf. Sie stellen auf dem Kampfplatz fest, daß alle angehäuften Reden über die Gleichheit der Menschen nicht die Binsenwahrheit verschleiern können, daß die im Saka mody-Paß getöteten oder verletzten sieben Franzosen die Entrüstung de zivilisierten Welt heraufbeschwören, während die Plünderung der Guergour-Dörfer, der Dechra Djerah, das Blutbad unter der Bevölkerung, wo durch Jener Überfall aus dem Hinterhalt erst veranlaßt worden war, nicht zählen. Terror, Gegen-Terror, Gewalt, Gegen-Gewalt... Das ist es, wa die Beobachter voll Bitterkeit feststellen, wenn sie den Zirkel des Hasse beschreiben, der in Algerien so offenkundig und so hartnäckig ist.

In den bewaffneten Kämpfen gibt es einen Punkt, von dem aus kein Zu rück mehr möglich ist. Er wird fast immer durch die riesige, alle Bereichi des kolonisierten Volkes einbeziehende Unterdrückung bestimmt. Algerien erreichte diesen Punkt 1955 mit den 12.000 Opfern von Philippeville und 1956 mit der Aufstellung städtischer und ländlicher Milizen durch Lacoste. Damals wurde für jedermann und selbst für die Kolonialherren deutlich »daß man nicht wieder von vorn anfangen konnte« wie früher Trotzdem führt das kolonisierte Volk nicht Buch. Es vermerkt die riesigen Lücken in seinen Reihen als ein notwendiges Übel. Da es nun einmal beschlossen hat, durch die Gewalt zu antworten, ist es auf alles gefaßt. Er verlangt nur, daß man auch von ihm nicht erwartet, für die anderen buchzuführen. Auf die Formel »Alle Eingeborenen sind gleich« antwortet der Kolonisierte: »Alle Kolonialherren sind gleich.« (Deshalb werden zu Beginn der Feindseligkeiten keine Gefangenen gemacht. Erst durch die Politisierung der Kader gelingt es den politischen Führern, den Massen klar zu machen, daß die Leute, die aus dem »Mutterland« kommen, nicht immer Freiwillige und manchmal sogar von diesem Krieg angeekelt sind;

2. daß es im augenblicklichen Interesse des Kampfes liegt, wenn die Bewegung in ihrer Aktion gewisse internationale Konventionen respektiert;

3. daß eine Armee, die Kriegsgefangene macht, eine Armee ist und nicht länger als eine Bande von Wegelagerern angesehen wird; 

4. daß der Besitz von Kriegsgefangenen auf jeden Fall ein nicht zu vernachlässigendes Druckmittel zum Schutz unserer vom Feind gefangenen Kämpfer darstellt.) Wenn man den Kolonisierten foltert, wenn man seine Frau tötet oder vergewaltigt, so wird er sich bei niemandem beklagen. Die unterdrückende Regierung mag Untersuchungskommissionen ernennen, soviel sie will: in den Augen des Kolonisierten existieren diese Kommissionen nicht. Und tatsächlich ist nach beinahe sieben Jahren Verbrechen in Algerien noch kein einziger Franzose wegen eines Mordes an einem Algerier vor ein französisches Gericht zitiert worden. In Indochina, in Madagaskar, in den Kolonien hat der Eingeborene immer gewußt, daß er von der anderen Seite nichts zu erwarten hat. Die Arbeit des Kolonialherrn ist es, selbst die Freiheitsträume des Kolonisierten unmöglich zu machen. Die Arbeit des Kolonisierten ist es, sich alle nur möglichen Kombinationen zur Vernichtung des Kolonialherrn auszudenken. Der Manichäismus des Kolonialherrn erzeugt einen Manichäismus des Kolonisierten. Der Theorie vom »Eingeborenen als absolutem Übel« antwortet die Theorie vom »Kolonialherrn als absolutem Übel«. Das Auftreten des Kolonialherrn hatte die synkretistische Bedeutung Tod der autochthonen Gesellschaft, kulturelle Lethargie, Versteinerung der Individuen. Das Leben kann für den Kolonisierten nur aus der verwesenden Leiche des Kolonialherrn entstehen. Dergestalt entsprechen sich also, Begriff für Begriff, die beiden Argumentationsweisen.

Aber das kolonisierte Volk erlebt es, daß diese Gewalt, weil sie seine einzige Arbeit darstellt, positive und aufbauende Züge annimmt. Die gewalttätige Praxis wirkt integrierend, weil sich jeder zum gewalttätigen Glied der großen Kette, der großen gewalttätigen Organisation macht, die als Reaktion auf die primäre Gewalt des Kolonialisten aufgestanden ist. Die Gruppen erkennen sich gegenseitig, und die zukünftige Nation ist von Anfang an ein ungeteiltes Ganzes. Der bewaffnete Kampf mobilisiert das Volk, er wirft es in eine einzige Richtung ohne Gegenströmung. Wenn sich die Mobilisierung der Massen anläßlich des Befreiungskrieges vollzieht, führt sie in jedes Bewußtsein den Begriff der gemeinsamen Sache, des nationalen Schicksals, der kollektiven Geschichte ein. Dadurch wird die zweite Phase, die der Bildung einer Nation, erleichtert: es existiert ein in Blut und Zorn geschaffenes Bindemittel. Man begreift nunmehr, daß diese Schlagworte, wenn sie in den unterentwickelten Ländern verwendet werden, einen neuartigen Sinn annehmen. Während der Kolonialperiode wurde das Volk aufgefordert, gegen die Unterdrückung zu kämpfen. Nach der nationalen Befreiung wird es aufgefordert, gegen das Elend, das Analphabetentum, die Unterentwicklung zu kämpfen. Der Kampf geht weiter, versichert man. Das Volk stellt fest, daß das Leben ein unaufhörlicher Kampf ist.

Die Gewalt des Kolonisierten, haben wir gesagt, vereinigt das Volk. Der Kolonialismus ist, seiner Struktur nach, separatistisch und regionalistisch. Er begnügt sich nicht damit, die Existenz von Stämmen festzustellen, er verstärkt ihre Zwietracht, er entzweit sie. Das Kolonialsystem nährt das Häuptlingswesen und läßt die alten marabutischen Brüderschaften wieder aufleben. Die Gewalt dagegen wirkt totalisierend und national. Deshalb schließt sie die Auflösung des Regionalismus und der Stammesverbände ein. Deshalb verfahren die nationalistischen Parteien besonders schonungslos mit den Kaids und den herkömmlichen Häuptlingen. Die Beseitigung der Kalds und Häuptlinge ist eine Vorbedingung für die Vereinigung des Volkes.

Auf der individuellen Ebene wirkt die Gewalt entgiftend. Sie befreit den Kolonisierten von seinem Minderwertigkeitskomplex, von seinen kontemplativen und verzweifelten Haltungen. Sie macht ihn furchtlos, rehabilitiert ihn in seinen eigenen Augen. Selbst wenn der bewaffnete Kampf symbolisch gewesen ist, selbst wenn das Volk durch eine schnelle Dekolonisation demobilisiert wird, hat es Zeit, sich davon zu überzeugen, daß die Befreiung die Sache aller und jedes einzelnen war und daß ihr Anführer kein besonderes Verdienst hat. Die Gewalt hebt das Volk auf die Höhe seiner Anführer. Daher Jenes aggressive Mißtrauen gegenüber dem protokollarischen Apparat, den die jungen Regierungen aufzubauen sich beeilen. Wenn die Massen durch Gewalt an der nationalen Befreiung teilgenommen haben, erlauben sie niemandem, sich als »Befreier« auszugeben. Sie wachen eifersüchtig über dem Resultat ihrer Aktion und hüten sich, ihre Zukunft, ihr Schicksal, das Los des Vaterlandes einem lebendigen Gott auszuliefern. Gestern noch ohne jede Verantwortung, wollen sie heute alles verstehen und über alles entscheiden. Von der Gewalt erleuchtet, rebelliert das Bewußtsein des Volkes gegen jede Pazifizierung. Die Demagogen, die Opportunisten, die Magier haben dann einen schweren Stand. Auf lange Sicht sind alle Verschleierungsversuche hinfällig geworden. Die Praxis, die die Massen in ein verzweifeltes Handgemenge geworfen hat, verleiht ihnen einen gierigen Hunger nach dem Konkreten.

Von der Gewalt im internationalen Kontext

Wir haben auf den vorhergehenden Seiten oft genug darauf hingewiesen, daß in den unterentwickelten Gebieten der politisch Verantwortliche immer dabei ist, sein Volk zum Kampf aufzurufen, zum Kampf gegen den Kolonialismus, zum Kampf gegen das Elend und die Unterentwicklung, zum Kampf gegen die sterilisierenden Traditionen. Das Vokabular, das er in seinen Aufrufen benutzt, ist ein Generalstabsvokabular: »Mobilisierung der Massen«, »Landwirtschaftsfront«, »Front des Analphabetismus«, »erlittene Niederlagen«, »errungene Siege«. Die junge, unabhängige Nation entwickelt sich während der ersten Jahre in einer Schlachtfeldatmosphäre. Das liegt daran, daß der politische Führer eines unterentwickelten Landes mit Schrecken den immensen Weg ermißt, der vor diesem Lande liegt. Deshalb appelliert er ans Volk und sagt ihm: »Krempeln wir die Ärmel auf und machen wir uns an die Arbeit!« Von einer Art Schaffenswut ergriffen, stürzt sich das Land hartnäckig in eine gigantische und übermäßige Anstrengung. Das Programm besteht nicht nur darin, aus dem Schlimmsten herauszukommen, sondern es geht darum, die anderen Nationen mit den vorhandenen Mitteln einzuholen. Die europäischen Völker haben, wie es heißt, diese Entwicklungsstufe dank ihrer eigenen Anstrengungen erreicht. Beweisen wir also der Welt und uns selbst, daß wir zu den gleichen Leistungen imstande sind. Uns jedoch scheint diese Art, das Problem der unterentwickelten Länder zu stellen, weder gerecht noch vernünftig.

Die europäischen Staaten haben ihre nationale Einheit in einem Moment geschaffen, da die nationalen Bourgeoisien die meisten Reichtümer in ihren Händen konzentriert hatten. Kaufleute und Handwerker, Gelehrte und Bankiers monopolisierten im nationalen Rahmen die Finanzen, den Handel und die Wissenschaften. Die Bourgeoisie stellte die dynamischste, die wohlhabendste Klasse dar. Ihr Aufstieg zur Macht machte ihr die entscheidenden Operationen möglich: die Industrialisierung, die Entwicklung der Verkehrsmittel und kurz darauf auch die Suche nach »überseeischen« Absatzmärkten.

Abgesehen von einigen Nuancen (England hatte zum Beispiel einen gewissen Vorsprung) befanden sich in Europa die verschiedenen Staaten, als sie ihre nationale Einheit fanden in einer ziemlich ähnlichen ökonomischen Situation. Alle diese Nationen haben sich entwickelt und ihre Macht entfaltet, ohne daß eine die ändern geradezu herausgefordert und beleidigt hätte.

Heute bietet die nationale Unabhängigkeit, die Bildung neuer Nationen in den unterentwickelten Gebieten total neue Aspekte. Den einzelnen Ländern fehlt dort überall, abgesehen von einigen Schau- und Prunkstücken, die nötige Infrastruktur: Sie haben zuwenig Schulen, Straßen, Bahnen und Krankenhäuser. Die Massen kämpfen gegen das gleiche Elend, mühen sich mit den gleichen Bewegungen ab und lehren mit ihren geschrumpften Mägen, was man die Geographie des Hungers genannt hat. Eine unterentwickelte Welt, eine elende und unmenschliche Welt. Aber auch eine Welt ohne Ärzte, ohne Ingenieure, ohne Administration. Angesichts dieser Welt wälzen sich die europäischen Nationen ostentativ im Überfluß. Dieser europäische Überfluß ist buchstäblich skandalös, denn er ist auf dem Rücken der Sklaven errichtet worden, er hat sich vom Blut der Sklaven ernährt, er stammt in direkter Linie vom Boden und aus der Erde dieser unterentwickelten Welt. Der Wohlstand und der Fortschritt Europas sind mit dem Schweiß und den Leichen der Neger, der Araber, der Inder und der Gelben errichtet worden. Das haben wir beschlossen nicht mehr zu vergessen. Wenn ein kolonialistisches Land, das von den Forderungen nach Unabhängigkeit einer Kolonie belästigt wird, sich an die Adresse der nationalistischen Führer mit der Erklärung wendet: »Wenn ihr die Unabhängigkeit wollt, so nehmt sie euch und kehrt ins Mittelalter zurück«, so neigt das unabhängig gewordene Volk dazu, einzuwilligen und die Herausforderung anzunehmen. Und man wird sehen, wie der Kolonialismus tatsächlich seine Kapitalien und seine Techniker zurückzieht und den jungen Staat ökonomischen Pressionen aussetzt.

Im gegenwärtigen internationalen Kontext übt der Kapitalismus eine ökonomische Blokkade nicht nur gegen die afrikanischen und asiatischen Kolonien aus. Mit der Anti-Castro-Operation eröffnen die Vereinigten Staaten in der amerikanischen Hemisphäre ein neues Kapitel der Geschichte der mühsamen Befreiung des Menschen, Lateinamerika, das aus unabhängigen Ländern besteht, die in der UNO sitzen und eine eigene "Währung haben, sollte eine Lehre für Afrika sein. Seit ihrer Befreiung sehen sich diese ehemaligen Kolonien dem ehernen Gesetz des westlichen Kapitalismus ausgesetzt, der sie einschüchtert und ausplündert.

Die Befreiung Afrikas und die Entwicklung des menschlichen Bewußtseins haben es den latein-amerlkanischen Völkern ermöglicht, aus dem ewigen Reigen der Diktaturen auszubrechen. Castro hat in Cuba die Macht übernommen und sie dem Volk gegeben. Die Amerikaner empfanden diese Ketzerei als eine nationale Katastrophe; die Vereinigten Staaten organisierten konter-revolutionäre Brigaden, bildeten eine provisorische Regierung, steckten die Zuckerrohrernten in Brand und beschlossen endlich, das kubanische Volk unerbittlich zu erdrosseln. Aber das wird nicht leicht sein. Das kubanische Volk wird leiden, aber es wird siegen. Der brasilianische Präsident Janos Quadros hat in einer Erklärung von historischer Bedeutung versichert, daß sein Land die kubanische Revolution mit allen Mitteln verteidigen wird. Auch die Vereinigten Staaten werden vielleicht vor dem Willen des Volkes zurückweichen. An diesem Tag werden wir flaggen, denn er wird für die Männer und Frauen der ganzen Welt entscheidend sein. per Dollar, der im Grunde nur von den Sklaven gedeckt wird, die auf dem Erdball verteilt sind, an den Bohrtürmen des Nahen Ostens, in den Bergwerken Perus oder des Kongos, auf den Plantagen der United Fruit oder der Firestone, wird dann aufhören, diese Sklaven zu beherrschen, die ihn geschaffen haben und die immer noch mit leerem Kopf und leerem Magen fortfahren, ihn mit ihrer Substanz zu speisen.

Die Unabhängigkeit kann sich aus einem Triumph in einen Fluch verwandeln, Wenn die Kolonialmacht die Junge Nation durch gewaltige Zwangsmittel zur Regression verurteilt. Die Kolonialmacht sagt ganz klar: »Da ihr die Unabhängigkeit wollt, nehmt sie und krepiert«. Die nationalistischen Führer haben dann keine andere Möglichkeit, als sich an das Volk zu wenden und ihm eine ungeheure Anstrengung abzufordern. Von diesen ausgehungerten Menschen verlangt man Enthaltsamkeit, von diesen verkümmerten Muskeln verlangt man eine unmäßige Arbeit. Ein autarkes Regime wird errichtet, und jeder Staat versucht mit den armseligen Mitteln, die er hat, mit seinem großen Hunger, seinem großen Elend fertigzuwerden. Man erlebt die Mobilisierung eines Volkes, das sich nun im Angesicht eines vollgestopften und arroganten Europa abmüht und abschindet.

Andere Länder der Dritten Welt weisen diese Kraftprobe zurück und sind bereit, auf die Bedingungen der ehemaligen Schutzmacht einzugehen. Unter Ausnutzung ihrer strategischen Lage, die sie im Kampf der Machtblöcke bevorzugt, schließen diese Länder Abkommen und engagieren sich. diee frühere Kolonie verwandelt sich in ein ökonomisch abhängiges Land. D'e Ex-Kolonialmacht, die ihre alten Handelsverbindungen aufrechterhalten und manchmal sogar verstärkt hat, ist bereit, durch kleine Spritzen den Haushalt der neuen Nation zu speisen. Man sieht also, daß der Aufstieg der Kolonialländer zur Unabhängigkeit die Welt vor ein entscheidendes Problem stellt: die nationale Befreiung der kolonisierten Länder enthüllt ihren wirklichen Zustand und macht ihn noch unerträglicher. Die scheinbar grundlegende Konfrontation, zwischen Kolonialismus und Anti-Kolonialismus, ja sogar diejenige zwischen Kapitalismus und Sozialismus, verliert bereits an Bedeutung. Was heute zählt, das Problem, das den Horizont versperrt, ist die Notwendigkeit einer Neuverteilung der Reichtümer. Die Menschheit muß, unter dem Risiko, aus den Fugen zu geraten, dieser Frage Herr werden.

Man hat allgemein angenommen, daß die Stunde für die Welt gekommen sei, und besonders für die Dritte Welt, zwischen dem kapitalistischen und dem sozialistischen System zu wählen. Die unterentwickelten Länder, die den verbissenen Wettkampf zwischen den beiden Systemen ausgenutzt haben, um den Sieg ihres nationalen Befreiungskampfes zu sichern, müssen es jedoch ablehnen, sich auf diesen Wettstreit einzulassen. Für die Dritte Welt ist es nicht damit getan, daß sie sich den Werten gegenüber definiert, die sie vorgefunden hat. Die unterentwickelten Länder müssen vielmehr alles daran setzen. Werte zu schaffen, die ihnen eigentümlich, Methoden und Lebensformen, die für sie spezifisch sind. Das konkrete Problem, vor das wir uns gestellt sehen, ist nicht unbedingt die Wahl zwischen Sozialismus und Kapitalismus, wie sie von Menschen anderer Kontinente und Epochen definiert worden sind. Wir wissen zwar, daß das kapitalistische Regime und die Lebensform die ihm entspricht, mit unserer nationalen und universalen Aufgabe unvereinbar ist. Die kapitalistische Ausbeutung, die Trusts und die Monopole sind die Feinde der unterentwickelten Länder. Die Wahl eines sozialistischen Regimes, das sich an die Gesamtheit des Volkes wendet und das auf dem Prinzip beruht, nach dem der Mensch das kostbarste Gut ist, wird es uns ermöglichen, schneller und einträchtiger voranzuschreiten. Dadurch bleibt uns das Zerrbild einer Gesellschaft erspart, in der einige wenige zum Schaden des Ganzen, die wirtschaftliche und politische Macht in der Hand haben.

Aber .wenn ein solches Regime wirklich funktionieren soll, wenn wir an den Prinzipien, die uns leiten, in jedem Augenblick festhalten wollen, brauchen wir mehr als nur unsere eigene Arbeitskraft. Manche unterentwickelte Länder entwickeln, was die menschliche Arbeit angeht, kolossale Anstrengungen. Männer und Frauen, Junge und Alte nehmen in ihrem Enthusiasmus eine wahre Zwangsarbeit auf sich und machen sich zu Sklaven der Nation. Die Selbstaufopferung, die Verachtung jeder Beschäftigung, die nicht dem Ganzen zugute kommt, bringt eine nationale Moral hervor, die den Menschen Kraft verleiht und ein neues Vertrauen auf die Zukunft der Welt einflößt, und die auch einen mißtrauischen Beobachter entwaffnen wird. Wir glauben jedoch, daß eine solche Anstrengung nicht lange in diesem höllischen Rhythmus fortgesetzt werden kann. Diese jungen Länder haben nach dem bedingungslosen. Rückzug des Ex-Koloniallandes die Herausforderung angenommen. Das Land befindet sich nun in den Händen einer neuen Mannschaft. Buchstäblich alles muß von vorne begonnen und neu durchdacht werden. Das Kolonialsystem hat sich immer nur für ganz bestimmte Reichtümer interessiert, für bestimmte Rohstoffe, diejenigen nämlich, die seine eigenen Industrien brauchen konnten. Eine ernsthafte Bilanz der Anbaumöglichkeiten und der Bodenschätze war nie gezogen worden. Aus diesen Gründen sieht sich die junge, unabhängige Nation gezwungen, die vom Kolonialregime errichteten Handelsbeziehungen aufrechtzuerhalten. Sie kann zwar nach anderen Ländern, anderen Währungsbereichen exportieren, aber ihre Exportbasis hat sich nicht grundlegend verändert. Das Kolonialregime hat gewisse Handelsverbindungen auskristallisiert, und man ist bei Gefahr einer Katastrophe gezwungen, sie beizubehalten. Man müßte womöglich ganz von vorne anfangen: die Art der Exporte und nicht nur ihre Bestimmungsländer ändern, den Boden und die Bodenschätze, die Flüsse und am Ende auch noch die Sonnenstrahlung nach neuen Möglichkeiten durchforschen. Arbeitskräfte allein genügen dazu nicht. Man braucht Kapital, man braucht Techniker, Ingenieure, Mechaniker usw... Sagen wir es offen, wir glauben, daß die kolossale Anstrengung, zu der die unterentwickelten Völker von ihren Führern aufgerufen werden, nicht die erhofften Resultate haben wird. Wenn die Arbeitsbedingungen nicht verändert werden, wird man Jahrhunderte brauchen, um diese Welt zu vermenschlichen, die der Imperialismus auf die Stufe des Animalischen herabgedrückt hat.

Die Wahrheit ist, daß wir diese Bedingungen nicht annehmen dürfen. Wir müssen die Lage, zu der uns die westlichen Länder verurteilen wollen, rundweg ablehnen. Der Kolonialismus und der Imperialismus sind mit uns nicht quitt, wenn sie ihre Fahnen und ihre Polizeikräfte von unseren Territorien zurückgezogen haben. Jahrhundertelang haben sich die Kapitalisten in der unterentwickelten Welt wie wahre Kriegsverbrecher aufgeführt. Deportationen, Blutbäder, Zwangsarbeit, Versklavung sind die Hauptmittel der Kapitalisten zur Vermehrung ihrer Gold- und Diamantenreserven, ihrer Reichtümer und Machtpositionen gewesen. Vor kurzem hat der Nazismus ganz Europa in eine Kolonie verwandelt. Die Regierungen der europäischen Nationen haben Reparationen und die Rückerstattung der gestohlenen Reichtümer in Geld und natura verlangt Kunstwerke, Bilder, Skulpturen, Glasfenster sind ihren Eigentümern zurückgegeben worden. Alle Europäer waren sich nach dem Sieg von 1945 darüber einig: »Deutschland muß zahlen!« Zu Beginn des Eichmann-Prozesses hat Adenauer selbst das jüdische Volk im Namen der Deutschen noch einmal um Verzeihung gebeten. Adenauer hat die Verpflichtung seines Landes erneuert, dem israelischen Staat weiterhin enorme Summen zu zahlen, die zur Wiedergutmachung für die Naziverbrechen dienen sollen.

Mit dem gleichen Recht sagen wir, daß die imperialistischen Staaten einen schwerwiegenden Fehler und eine unerhörte Ungerechtigkeit begingen, wenn sie es beim Abzug ihrer militärischen Kohorten von unserem Boden und bei der Abberufung ihrer Verwaltungsbeamten und Behörden bewenden ließen, deren Aufgabe es war, unsere Reichtümer zu entdecken, sie auszubeuten und nach den Mutterländern zu befördern. Die moralische Wiedergutmachung, die uns mit der nationalen Unabhängigkeit zuteil wurde, blendet uns nicht; sie kann uns nicht ernähren. Der Reichtum der imperialistischen Länder ist auch unser Reichtum. Europa hat sich an dem Gold und den Rohstoffen der Kolonialländer unmäßig bereichert: Aus Latein-Amerika, China und Afrika, aus all diesen Kontinenten, denen Europa heute seinen Überfluß vor die Nase setzt, werden seit Jahrhunderten Gold und Erdöl, Seide und Baumwolle, Holz und exotische Produkte nach eben diesem Europa verfrachtet. Dieses Europa ist buchstäblich das Werk der Dritten Welt. Die Reichtümer, an denen es erstickt, sind den unterentwickelten Völkern gestohlen worden. Die Häfen von Holland, die Docks von Bordeaux und Liverpool, die sich auf den Sklavenhandel spezialisiert hatten, verdanken ihren Ruf Millionen deportierter Neger. Und wenn wir ein europäisches Staatsoberhaupt mit der Hand auf dem Herzen erklären hören, daß man den unglücklichen unterentwickelten Völkern zu Hilfe kommen müsse, so erzittern wir nicht vor Dankbarkeit. Ganz im Gegenteil, wir sagen uns; Das ist eine gerechte Reparation, die man uns schuldig ist. Deshalb werden wir nicht zugeben, daß die Hilfe an die unterentwickelten Länder als ein Werk der Barmherzigkeit verstanden wird. Vielmehr hat diese Hilfe eine doppelte Bedeutung; sie bestärkt die Kolonisierten in dem Bewußtsein, daß man ihnen etwas schuldig ist, und die kapitalistischen Mächte in der Erkenntnis, daß sie zahlen müssen. Daß die unerbittliche Dialektik ihres eigenen Systems sie ersticken würde, wenn es die kapitalistischen Länder aus Unverstand (um von Undank gar nicht erst zu reden) ablehnen sollten, zu zahlen. Allerdings, für das private Finanzkapital haben die jungen Nationen wenig Anziehungskraft. Diese Zurückhaltung der Monopole versteht sich von selbst. Sobald die Kapitalisten erfahren (und sie erfahren es natürlich als erste), daß ihre Regierung die Preisgabe einer Kolonie vorbereitet, beeilen sie sich, ihre Kapitalien aus dem fraglichen Gebiet abzuziehen. Die galoppierende Kapitalflucht ist eine ständige Begleiterscheinung der Dekolonisation.

Die privaten Firmen, die in unterentwickelten Ländern investieren wollen, stellen dafür Bedingungen, die erfahrungsgemäß unannehmbar oder irreal sind. Sie bestehen darauf, daß sich ihr Kapital sofort verzinst und wollen von langfristigen Investitionen nichts wissen. Dies ist ein traditionelles Prinzip bei allen »Übersee«-Geschäften. Den Wirtschaftsplänen der neuen Regierungsmannschaften stehen diese Kapitalisten ablehnend, oft mit unverhohlener Feindschaft gegenüber. Allenfalls wären sie bereit, den jungen Staaten Geld zu leihen unter der Bedingung, daß mit diesem Geld Fertigwaren und Maschinen aus dem »Mutterland« gekauft werden. Auf diese Weise wollen sie ihre eigene Hochkonjunktur fördern. Die westlichen Finanzgruppen gehen mit äußerster Vorsicht zu Werke. Sie wollen keinerlei Risiko eingehen. Daher fordern sie eine politische Stabilität und ein ruhiges soziales Klima, Bedingungen, wie sie angesichts des Elends der Bevölkerung, unmittelbar nach dem die Unabhängigkeit erreicht ist, unmöglich zu erfüllen sind. Auf der Suche nach solchen Garantien, die eine ehemalige Kolonie nicht geben kann, verlangen sie die Aufrechterhaltung gewisser Garnisonen oder den Eintritt des jungen Staates in ökonomische oder militärische Pakte. Die Privatgesellschaften setzen ihre eigne Regierung unter Druck, damit sie in eben diesen Ländern militärische Stützpunkte errichtet, die den Auftrag haben, ihre Interessen zu schützen. Schließlich verlangen diese Gesellschaften von ihrer Regierung Bürgschaften für alle Investitionen, die sie in unterentwickelten Ländern vornehmen wollen. Nur wenige Länder erfüllen jedoch die von den Trusts und Monopolen geforderten Bedingungen. Deshalb bleiben die Kapitalien mangels sicherer Absatzmärkte in Europa blockiert. Sie liegen fest, und zwar umso mehr, da sich die Kapitalisten weigern, im eigenen Lande zu investieren. Die Gewinnmengen sind dort tatsächlich sehr gering, und die steuerlichen Belastungen entmutigen auch die kühnsten Unternehmer. Die Situation ist auf lange Sicht katastrophal. Das Kapital zirkuliert nicht mehr; zumindest aber verlangsamt sich sein Umschlag beträchtlich. Die Schweizer Banken weisen das »heiße Geld« zurück. Europa erstickt an seinem Überfluß. Trotz der enormen Summen, welche die Rüstung verschlingt, befindet sich der internationale Kapitalismus in einer Sackgasse.

Aber noch eine andere Gefahr bedroht ihn. In dem Maße nämlich, wie die Dritte Welt durch den Egoismus und die Unmoral der westlichen Nationen sich ihrem Schicksal überlassen oder zur Regression, jedenfalls aber zur Stagnation verurteilt sieht, werden die unterentwickelten Völker beschließen, eine autarke Kollektivwirtschaft zu entwickeln. Die westlichen Industrien werden dann bald ihrer überseeischen Absatzmärkte beraubt sein. Die Maschinen werden sich in den Lagerhäusern stapeln, und auf dem europäischen Markt wird ein unerbittlicher Kampf zwischen den konkurrierenden Finanzgruppen und Trusts beginnen. Die Schließung von Fabriken, Aussperrung und Arbeitslosigkeit werden das europäische Proletariat dahin bringen, in einen offenen Kampf gegen das kapitalistische Regime einzutreten. Dann werden die Monopole einsehen, daß es in ihrem wohlverstandenen Interesse liegt, den unterentwickelten Ländern zu helfen, und zwar massiv und ohne allzuviele Bedingungen. Man sieht, daß die jungen Nationen der Dritten Welt keinen Grund haben, den kapitalistischen Ländern zu schmeicheln. Wir sind mächtig durch unser gutes Recht und die Richtigkeit unserer Positionen. Wir müssen den kapitalistischen Ländern sagen, daß das grundlegende Problem der gegenwärtigen Epoche nicht der Kampf zwischen den sozialistischen Regimes und ihnen ist. Dieser Kalte Krieg, der zu nichts führt, muß beendet, die Vorbereitungen zum atomaren Weltkrieg müssen gestoppt, die unterentwickelten Länder mit großzügigen Investitionen und technischer Hilfe unterstützt werden. Das Schicksal der Welt hängt von der Antwort ab, die auf diese Frage gegeben werden wird. Schließlich sollten die kapitalistischen Länder den Versuch aufgeben, ihre sozialistischen Nachbarn für ein »europäisches Schicksal« zu gewinnen, um sie von den farbigen und unterernährten Massen zu trennen. Was auch der General de Gaulle sagen mag: die Leistung Gagarins ist kein Erfolg, der »Europa Ehre macht«. Seit einiger Zeit nehmen die Staatsmänner und die Intellektuellen des kapitalistischen Westens der Sowjetunion gegenüber eine ambivalente Haltung ein. Einst haben sie mit vereinten Kräften versucht, den Sozialismus zu vernichten; heute begreifen sie, daß man mit ihm rechnen muß. Sie zeigen sich infolgedessen liebenswürdig, eröffnen eine Charme-Offensive nach der anderen und erinnern das sowjetische Volk fortwährend daran, daß es »zu Europa gehört«. Wer von der Dritten Welt wie von einer Sturmflut spricht, die ganz Europa zu verschlingen droht, wer durch eine solche Agitation die fortschrittlichen Kräfte in der Welt, die der Menschheit ein künftiges Glück verheißen, zu spalten hofft, der wird sich täuschen. Natürlich hat die Dritte Welt keineswegs vor, einen Kreuzzug des Hungers gegen Europa zu führen. Sie erwartet von denen, die sie jahrhundertelang versklavt haben, nur eines: Der Mensch muß wieder in seine Rechte eingesetzt werden, der Mensch muß endlich und ein für alle Mal überall auf der Welt triumphieren. Dazu verlangen wir die Hilfe Europas. Aber es ist klar, daß wir die Naivität nicht bis zu dem Glauben treiben, die europäischen Regierungen würden uns dabei helfen. Wir rechnen nicht mit ihrer Zusammenarbeit und ihrem guten Willen. Das kolossale Werk, den Menschen, den ganzen Menschen zur Welt zu bringen, wird nur mit der Hilfe der europäischen Massen gelingen. Die Massen Europas müssen sich darüber klar werden, daß sie sich in den kolonialen Fragen oft, allzuoft mit unsern gemeinsamen Herren verbündet haben. Heute müssen sie sich entscheiden, sie müssen aufwachen, zu einem neuen Bewußtsein kommen und ihren verantwortungslosen Dornröschenschlaf ein für allemal aufgeben.

Editoriale Anmerkung:  

Der Essay stammt aus dem Buch Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean Paul Sartre. Aus dem Französischen von Traugott König. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1966

Die deutsche Erstveröffentlichung des Essay erfolgte im Kursbauch 2 bereits im August 1965.

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