Was bin ich ?

E
in Interview mit Pierre Bourdieu 
von Isabelle Graw, The Thing, 1996.

01/02  trend online zeitung

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Isabelle Graw: Man sagt mir nach, in regelmaessigen Abstaenden Fragen an "wissende" Maenner und Frauen zu stellen, um sie u.a. in den Bereich der Aesthetik zu bringen, wo sich oft die Abgruende einer Theorie, bzw. ihr latenter Konservatismus zeigen. Bei Ihnen habe ich nichts gefunden, was sich dergestalt aufdecken oder auf die Spitze treiben liesse. Dieser neuen Lage der Affirmation auf meiner Seite habe ich beschlossen, Rechnung zu tragen, indem ich Ihr Diktum der Selbstreflexivitaet gegen Sie und mich selbst zu kehren versuche.
Wenn ich jetzt waehrend dieses Interviews dessen Bedingungen mitreflektieren wollte, dann muesste ueber das implizite Machtverhaeltnis nachgedacht werden, zwischen mir, die ich die Fragen stelle und wissen will, und Ihnen, der antworten und zu wissen vorgeben muss. Nur: mittlerweile kann man eine Art "inkorporierte Selbstreflexivitaet" vor allem in amerikanischen theoretischen Texten beobachten, die ganz selbstverstaendlich geworden ist. Kann die Selbstreflexivitaet zu einer Stiluebung und nicht zu einer Praxis in Ihrem Sinne werden, wenn sie dazu dient, die eigene Situation (der Institutionalisierung z.B.) im Bewusstsein ihrer Bedingungen besser zu ertragen, sich besser in ihr einzurichten?

Pierre Bourdieu: Klar und eindeutig habe ich das, was Sie sagen, noch nicht gespuert. Aber wenn Sie es so darstellen, dann erkenne ich schon einige Dinge wieder, die mich oft stoeren. Es gibt verschiedene Formen der Selbstreflexivitaet. Einige sind eher psychoanalytisch und andere eher kritisch ausgerichtet. Was sehr selten ist, ist die Selbstreflexivitaet in der Soziologie. Es ist befremdlich und erstaunlich, dass es dort noch nicht mal ein Simulakrum von Selbstreflexivitaet gibt. Ich erkenne schon die Zeichen dessen, wovon sie sprechen - die Leute simulieren die Selbstreflexivitaet. Dabei handelt es sich meiner Meinung nach um einen raffinierten Abwehrmechanismus, eine Selbstreflexivitaet, die von einem Exorzismus herruehrt. Freud spricht permanent vom Abwehrsystem: Es gibt individuelle Abwehrsysteme gegen Infragestellungen und es gibt kollektive Abwehrsysteme.

Graw: Es ist z.B. in Amerika zur politisch-korrekten Gewohnheit geworden, sich am Anfang eines Vortrags als "white male heterosexual" zu bezeichnen, als ob man sich damit hinreichend definiert und positioniert habe. Die Benennung von "race, gender and class" erfuellt zwar in einem Umfeld, das von diesen Dingen absieht, eine politische Funktion; diese nimmt aber mit zunehmender Verbreitung eines rein formalen Selbstbezuges ab.

Bourdieu: Ich glaube, dass es sich da um eine falsche Selbstanalyse handelt, die als Exorzismus fungiert. Sie bedeutet die Moeglichkeit, sich im Einklang zu befinden, mit einer Art Berufsnorm, die Klarsicht vorschreibt. Nach 1968 unterbrach man die Leute oft und fragte sie, von wo aus sie sprechen wuerden. Das ist eine extreme Form der Verneinung von Selbstreflexivitaet.

Graw: Weil sie nur formal geschieht?

Bourdieu: Sie ist nur formal und will nichts sagen. Wenn wir zum Beispiel analysieren wollten, was wir jetzt hier gemeinsam machen, dann wuerde dazu sehr viel gehoeren. Sie muessten sehr viel ueber sich und ich sehr viel ueber mich sagen. Zum Beispiel finde ich Sie spontan sehr sympathisch, was damit zusammenhaengen muss, dass ich Ihre Zeitschrift gesehen habe, und dass ich ein Gefuehl fuer den menschlichen Stil...

Graw: ...Habitus (1)...

Bourdieu: ...ja: Habitus dessen habe, was Sie sind. Dazu gehoert auch Ihr Gesicht. Und man muesste sich fragen: Worauf basiert diese meine Sympathie? Die Antwort waere sehr kompliziert. Welche Dinge koennen wir NICHT sagen, weil Sie nicht nach Ihnen fragen? Und wenn Sie sie gefragt haetten, dann haette ich vielleicht nicht geantwortet. Ich glaube, dass das intellektuelle Leben eine erhebliche Veraenderung erfahren wuerde, und viele Leute vielleicht gar nicht mehr leben koennten, wenn diese Art von Selbstreflexivitaet Verbreitung faende.
Seit ich "Homo Academicus" geschrieben habe, frage ich mich oft, wie es dazu kam, dass ich ein Beduerfnis empfand, ueber Leute zu arbeiten (Philosophen etc.), deren Beruf es ist, reflexiv zu sein. Wie konnte das, was ich sagte, und was jeder irgendwie wusste, einen schweren Skandal hervorrufen? "Homo Academicus" war ein viel riskanteres Buchunternehmen, als wenn ich z.B. irgendetwas ueber das Proletariat geschrieben haette. Warum? Weil es kollektive Abwehrsysteme gibt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Das wissenschaftliche Leben ist sehr hart - das kuenstlerische auch. Laufend stellt sich die Frage nach Tod oder Ueberleben, die Leute fragen sich, ob das was sie tun einen Sinn hat, und ob es das wert ist. Dieses Leben ist also so hart, dass die praktizierte Selbstreflexivitaet das Leben fuer viele Leute schrecklich machen wuerde. Deshalb erlauben die einen den anderen das Recht auf Blindheit.

Graw: Fuer die Soziologie mag dieser Mangel an Selbstreflexivitaet stimmen. Aber in anderen Feldern, z.B. dem der Kunstproduktion, ist die Selbstreflexivitaet eine Art "Doxa" (2) geworden, um in Ihrer Terminologie zu bleiben. Dort liesse sich eine Liste der selbstreflexiven Reflexe aufstellen: Viele Kuenstler referieren automatisch auf die Geschichte der Bedingungen ihrer Produktion und die kuenstlerischen Moeglichkeiten, die sich ihnen bieten, thematisieren den Ort (Galerie) und ihr Publikum, sowie auch die Rezeption und ihr soziales Umfeld. Glauben Sie nicht, dass es Bedingungen geben koennte, unter denen ein blinder Fleck wieder wichtig wuerde?
Im Feminismus gibt es z.B. Diskussionen, ob die allgemeine Akzeptanz von "Antiessentialismus" nicht einen zweckorientierten Essentialismus wieder noetig mache. Koennte sich eine Unterbrechung der Selbstreflexivitaet durch Bedingungen, in denen diese zur Doxa wurde, rechtfertigen?

Bourdieu: Ich habe eher das Gefuehl, dass es nie zu viel Selbstreflexivitaet geben kann. Vor kurzem habe ich fuer eine deutsche Zeitschrift einen Text geschrieben. Das Thema dieses Textes war der Gegensatz zwischen der narzisstischen Reflexivitaet und der Reflexivitaet, die auf eine Objektivitaet ausgerichtet ist. Es gibt da einen Satz von Marx, den ich sehr liebe, der eine bestimmte Form der Reflexivitaet mit der Onanie vergleicht. Bei dieser onanisierenden Form von Selbstreflexivitaet geht es darum, sich Freude zu machen. Die andere Reflexivitaet ist nach aussen orientiert und sucht danach, sich selbst oder die Situation der Gruppe zu ergruenden, zu erforschen, um zu veraendern, um nicht von der Situation manipuliert zu werden, um Subjekt der Situation zu sein. Intellektuelle sind seltsamerweise sehr wenig reflexiv - auch wenn sie doch eigentlich Professionelle der Reflexivitaet sein sollten - wenn es sich darum handelt, sich zu fragen, was es bedeutet, ein Intellektueller zu sein oder das Verhaeltnis der Theorie zum Realen zu untersuchen. Sie zeugen eher von einer aussergewoehnlichen Naivitaet - das ist nicht arrogant gemeint - und man muss zu verstehen versuchen, warum dem so ist. Diese Naivitaet hat schwerwiegende Konsequenzen, denn die Intellektuellen sind wichtiger, als sie glauben. Ich denke z.B. an Louis Althusser. Dieser Mann war in Frankreich sehr einflussreich, und es ist erstaunlich, in seiner Autobiographie zu sehen, wie blind er sich selbst gegenueber war. Es ist sehr schlimm, wenn Leute nicht nur fuer die soziale Welt, sondern ihrem eigenen Universum gegenueber so blind sind. Genauso ist es mit den Kuenstlern, die sehr blind fuer ihre eigenen kuenstlerischen Interessen sind. Blind fuer das, was sie nicht sagen koennen. Wenn diese Kuenstler den kuenstlerischen Akt, die kuenstlerische Handlung demystifizieren, dann machen sie daraus wieder eine kuenstlerische Handlung. Das ist sehr schlimm, weil es sich um Leute handelt, die sich oft als sehr einflussreich erweisen. Ich glaube also, dass es nicht zu viel Selbstreflexivitaet geben kann. Und damit meine ich nicht die selbstgefaellige Selbstreflexivitaet - die ist schrecklich. Sondern eine, die effizient und produktiv ist, aber nicht, um weh zu tun. Es handelt sich nicht darum, anzugreifen. In vielen Situationen beobachte ich mich dabei, wie ich Selbstreflexivitaet herstelle, wenn ich z.B. in einer Gruppe frage, was wir eigentlich gerade tun. So eine Frage aendert alles. Es ist, als ob die Gruppe erleichtert waere. Es stellt sich ein Gefuehl der Erholung ein. Und man wird sprechen koennen. Manchmal entsteht auch Aggressivitaet.

Graw: Ich glaube, dass es auch eine Form von Selbstreflexivitaet sein kann, ueber die Bedingungen einer "inkorporierten Selbstreflexivitaet" und ihre Funktionalisierung nachzudenken.

Bourdieu: Sie haben natuerlich recht. Ich glaube nicht, dass es eine Buerokratisierung von Selbstreflexivitaet geben sollte. Dass sie zu einem Automatismus wird, dem man Tribut zollen muss. Das waere eine Katastrophe. Und ich glaube auch, dass Selbstreflexivitaet nur eine kollektive Arbeit sein kann. Ich predige also nicht, dass jeder seinen Zettel ausfuellt und sich selbst reflektiert. Die Intellektuellen haben das oft gemacht, Sartre z.B. hat "Ich bin ein buergerlicher Intellektueller" von sich gesagt, aber zog keine Konsequenzen daraus, das waren Worte... Das Problem besteht darin, eine reflexive Geisteshaltung zu schaffen. Selbstreflexivitaet sollte so sein wie ein Damoklesschwert, welches ohne Boeswilligkeit ueber den Koepfen jeder Gruppe von kulturellen Produzenten schwebt. Keine Drohung, aber eine Aufmerksamkeit fuer das, was man tut, weil man vorgibt, ein kreatives Subjekt zu sein.

Graw: Es muesste also einen selbstbeobachtenden Blick geben, der immer auch installiert ist.

Bourdieu: Genau. Und der wuerde alles veraendern. Jeden Tag lese ich Dinge und habe den Eindruck, ein Sehender zu sein, der obszoene Dinge sieht. Die Leute schreiben mit einer Naivitaet und ohne dass dies analysiert wuerde. Und diese Leute werden von anderen gelesen. Aehnlich ist es mit den Debatten ueber "Kultur", die wir haben - Bloom in Amerika, der Relativismus, all diese Dinge, die grossen Philosophen - ich sage mir, mein Gott, wenn die Leute sich doch einmal fragen wuerden, was sie tun, wenn sie so etwas schreiben. Was sind die naiven Interessen, die ich mit meinem Schreiben verfolgen koennte. Das wuerde viel Gutes tun.

Graw: Und koennen Sie sich oekonomische und politische Bedingungen vorstellen, in denen Ihre Konzepte "Habitus", "Feld", "Reproduktion" selbstverstaendliche Erklaerungsmuster geworden waeren?

Bourdieu: Ich kann es mir vorstellen, aber das ist nicht sehr wahrscheinlich. Ich zoegere - und bin dabei, Selbstreflexivitaet auszuueben. Was werde ich sagen, wird nicht eine subtile Form des Narzissmus dabei herauskommen, nehme ich nicht die Rolle des verdammenden Propheten ein, eine klassische Rolle des Intellektuellen, und handelt es sich nicht um falsche Bescheidenheit meinerseits?

Ich glaube aber, ohne zu schummeln, sagen zu koennen, dass dies wenig wahrscheinlich ist, weil es sich um scheinbar sehr unschuldige Instrumente handelt, die eine grosse Gewalt beinhalten. Weil sie sehr essentielle Dinge betreffen, die gewoehnlicherweise protegiert werden. Ich glaube also nicht, dass sich Selbstreflexivitaet so einfach ausbreiten wird. Natuerlich wird es polemische Gebrauchsweisen geben, und davor nehme ich mich am meistens in acht, um die anderen zu aergern.

Graw: Wie wuerde man mit Ihren Konzepten daran gehen, eine Verbindung herzustellen, zwischen Selbstreflexivitaet in kuenstlerischer Praxis und der Rezession, die im Kunstmarkt besonders spuerbar ist? Wenn ich nun die Vermutung eines Zusammenhangs zwischen der Verschlechterung und der Reflexion materieller Bedingungen haette, wie wuerde ich mit Ihren Werkzeugen vorgehen?

Bourdieu: Erstmal waere eine historische Arbeit zu leisten. Die Selbstreflexivitaet ist seit langem praesent. Sie ist an den Prozess der Autonomisierung des kuenstlerischen Feldes (3) gebunden. Ich habe aehnliche Prozesse in der Literatur, Poesie und auch in der Musik skizziert. Kuerzlich habe ich ein Buch ueber Schoenberg gelesen, dessen Verfasser - ein franzoesischer Musikologe - bestimmt kein modischer Theoretiker ist. (4) In diesem 1947 geschriebenem Buch wird gezeigt, dass der Prozess der Rueckbesinnung der Musik auf sich selbst bis zum Extrem vorangetrieben wurde. Man hatte einen bestimmten Akkord eingefuehrt und fragte sich, was seine Einfuehrung bedeutet. Das ist genau derselbe Prozess, der gleichzeitig in der Mathematik mit der Axiomatik stattfand. Auch in der Poesie und in der Musik began man sich zu sagen, dass man sich fragen muss, was es moeglich macht, dass man sagen kann, was man sagt.

Man muesste also eine historische und eine vergleichende Studie der verschiedenen Kuenste und Wissenschaften anstellen. Fuer die aktuelle Periode waere es komplizierter. Ich glaube, dass es den selbstreflexiven Prozess in seiner extremen Form schon in den 60ern und 70ern gab, wo keine Krise vorhanden war. Deshalb wuerde ich also kaum eine Verbindung zur oekonomischen Krise ziehen. Die Frage ist eher, ob die Krise die Leute nicht vielmehr dazu bringt, auf sichere Dinge zurueckzukommen. Was mir zum Beispiel augenblicklich in verschiedenen Bereichen auffaellt, in der Malerei und in der Literatur, ist eine Rueckkehr zu sehr traditionellen, archaischen Formen. Wir befinden uns in einer Phase der Restauration. Am eindeutigsten zeigt sich das im Bereich des Romans, wo man mehr und mehr zu einer Kunst vor Joyce und vor Virginia Woolf und vor dem nouveau roman regressiert. Diese Rueckkehr zur Erzaehlung geschieht in einem Kontext des globalen Konservatismus, der das jeweilige Feld beeintraechtigt, und aus spezifischen Gruenden, die fuer das spezifische Feld gelten. Und da denke ich an Ereignisse wie die Studentenrevolte, die sehr tiefe Konsequenzen in den Koepfen der Akademiker hinterlassen hat, von Los Angeles bis nach Moskau.

Graw: Eine Restauration der Malerei kann man z.B. in den kommerziell ausgerichteten Galerien New Yorks (wie z.B. bei Gay Gorney) beobachten, die wissen, dass sich Malerei als sicherer Wert in Krisenzeiten am ehesten verkauft. Aber es gibt andere New Yorker Galerien, die "formal" vorgeben, der Rezession Rechnung zu tragen, in dem sie woechentliche "Aktionen" veranstalten.

Bourdieu: Die Welt der Kunst wird von den oekonomischen Modellen angesteckt. Das geht bis zu den Konservatoren der Museen, die zu sehr wichtigen Agenten im kuenstlerischen Feld geworden sind, und gleichzeitig als Unternehmer fungieren mit diesen grossen Ausstellungen, die mit viel Werbung vorbereitet werden. Augenblicklich gibt es in Paris gerade eine bombastische Ausstellung, die mich so sehr nervt, dass ich ihren Namen vergessen habe...

Graw: Toulouse Lautrec?

Bourdieu: Ja, das ist typisch. Sie wurde als mediales Ereignis geplant.

Graw: Sie charakterisieren das kuenstlerische Feld immer als eines, das die Regeln des oekonomischen Feldes nicht unbedingt anerkennt. Ich bin damit nicht einverstanden. Wenn es etwas im kuenstlerischen Feld zu beobachten gibt, dann die Intensivierung der oekonomischen Mechanismen. Die Selbstausbeutung ist z.B. viel groesser, man beutet sich aus Idealismus fuer die Kunst gerne selbst aus. Das kuenstlerische Feld ist auch weniger geschuetzt, es gibt keine Versicherungen und Altersversorgungen. Und die Tauschbeziehungen sind archaischer, ueberschaubarer. Produzenten sind oft Konsumenten. Man kann also nicht sagen, dass sich das kuenstlerische Feld "ausseroekonomisch" verhaelt.

Bourdieu: Das widerspricht nicht dem, was ich sage. In dem Buch, das ich jetzt gerade geschrieben habe, beschreibe ich die Verhaeltnisse, so wie sie Flaubert in "Die Erziehung des Herzens" beschreibt: das Verhaeltnis zwischen Monsieur Arnoux, der ein Vorlaeufer des Galeriedirektors ist - er leitet eine kleine Zeitschrift, die "Art industrielle" heisst - zu seinen Kuenstlern.

Monsieur Arnaux besitzt einen kleinen Hof von Malern, einer davon heisst Pellerin, und Flaubert gibt einige Hinweise ueber die Verhaeltnisse dieser Leute zueinander. Er sagt, dass er sie so sehr liebte, und dass er sie wunderbar durch Liebe ausbeutete. Ich glaube, dass nichts den Machtverhaeltnissen im kuenstlerischen und literarischen Feld mehr aehnelt, als das Verhaeltnis der Geschlechter: ein Verhaeltnis, das von symbolischer Herrschaft gekennzeichnet ist. Es handelt sich nicht um brutale, oekonomische Ausbeutung, die auf physischer Staerke basiert, sondern um eine Ausbeutung, die auf der Komplizenschaft und Liebe des Ausgebeuteten gruendet. Oder auf dem, in dessen Namen der Ausbeuter ihn ausbeutet: die Kunst, die Kultur oder was auch immer. Gleichzeitig handelt es sich um die Umkehrung der oekonomischen Welt: die Leute werden nicht mechanisch gekauft, sondern werden fast in einem magischen Sinne besessen. Um zu verstehen, dass so ein System funktionieren kann, muss es eine umgekehrte Logik und Leute geben, die darauf vorbereitet sind, zu sagen, dass sie bereit sind, fuer die Kunst zu sterben. Das gilt nicht fuer die oekonomische Welt - in der oekonomischen Welt arbeiten die Leute fuer ihr Gehalt, aber auch da gibt es Formen von Mystifikationen.

Graw: Mehr und Mehr. Auch die Arbeit ausserhalb des kuenstlerischen Feldes wird zunehmend zur kulturellen Arbeit, bei der Identifikation und Spass gefordert wird - die Arbeit muss interessant sein. Fast alle verstehen sich als Kulturarbeiter.

Bourdieu: Ja, Sie haben recht. Das Modell ist dabei, sich zu verallgemeinern.

Graw: Aber Sie schienen mir vorhin den kommerzialisierten Zustand der Kunstwelt, die Tatsache, dass auch das kuenstlerische Feld von oekonomischer Realpolitik durchdrungen ist, zu bedauern.

Bourdieu: Das kuenstlerische Feld ist doch der Ort, wo sich die aussergewoehnlichsten Dinge der Menschheit produzieren. Freiheit, die Revolte Baudelaires gegen die Akademie, die Verweigerungen -sehr mutige Handlungen. Meine Befuerchtung ist nun, dass durch die Wiedereinfuehrung der Oekonomie Untergebenheit und Unterwerfung miteingefuehrt werden. Und ich glaube, dass der Ort, an dem dieser Kampf ausgefochten wird, die Soziologie ist, auch wenn das etwas komisch klingt. So wie die Avantgarde um ihre Haut fuerchten musste, um weiterzumachen - wie Baudelaire, der essentielle Dinge beruehrte - so geht es auch der Soziologie. Es gibt natuerlich den buerokratischen Soziologen, so wie es auch buergerliche Kunst gab. Aber die Leute, die ihre Arbeit machen wollen, sehen sofort, wie sehr die Unterwerfung eines Feldes unter den oekonomischen Zwang des oekonomischen Feldes die Moeglichkeit von Wahrheit selbst verschwinden laesst.

Graw: Die Verhinderung dieser Unterwerfung eines Feldes unter oekonomische Zwaenge ist das, was Sie die "relative Autonomie" eines Feldes nennen?

Bourdieu: Jedes Feld, selbst das fortgeschrittenste wie das Feld der reinen Mathematik, besitzt Autonomie und Unabhaengigkeit. Die Leute machen nur, was sie wollen, sie unterwerfen sich Regeln, die nichts mit den Regeln des Ausserhalb zu tun haben. Aber diese Autonomie bleibt, auch in den reinsten Faellen, immer relativ und wird durch akademische Zwaenge oder die Zwaenge des Marktes bedroht. Diesen Zwaengen gelingt es, in das Feld einzudringen, die Hierarchien umzuwerfen. Jeden Tag gibt es Anthropologen, die sterben, so wie es im 19. Jahrhundert einige Maler gab, die starben. Weil sie auf Abwege geraten waren, einen Verstoss begangen hatten, stellte man sie nicht aus. Und heute glaube ich, dass es viele Leute gibt, junge Leute, Frauen, Leute, die woanders herkommen und die man dadurch perfekt toetet, dass man sie entmutigt.

Graw: Hat das nicht auch etwas mit der Positionierung im sozialen Feld derjenigen zu tun, die sich bewusst ins Abseits begeben, nichts mit den Produktionskaempfen und Anerkennungsmechanismen zu tun haben wollen?

Bourdieu: Die Soziologen gehoeren nicht zu diesen Faellen. Sie stehen zwar wie die Kuenstler ausserhalb und muessen aussen stehen.

Denn wenn sie den Zwaengen des Marktes unterworfen waeren, welcher Arbeitgeber wuerde bezahlen, um die Wahrheit ueber die Arbeitgeber herauszufinden? Ich habe eine Studie ueber Bischoefe gemacht, und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Bischoefe mir diese in Auftrag gegeben haetten. Die herrschenden Gruppen haben ueberhaupt keine Lust, die Wahrheit zu erfahren. Es braucht also eine Freiheit, die mit dem Staat verbunden ist, und sich darin aeussert, dass wir Soziologen staatliche Gehaelter bekommen. Diese Freiheit wird in unserem Fall dazu benutzt, um die Produktionsverhaeltnisse oder Herrschaftsverhaeltnisse zu verstehen. Deshalb sind wir besonders gefaehrlich.

Graw: Aber Sie dienen doch auch, wenn Sie z.B. zeigen, dass die Dinge nicht so natuerlich gegeben sind, wie sie sich darstellen. Damit dienen Sie einem verfeinerten Kapitalismus, dem daran gelegen ist, ueber selbstreflexive Agenten zu verfuegen, die sich ihrer selbst bewusst sind.

Bourdieu: Das ist ein Problem. Jedes kritische Denken kann meiner Meinung nach immer benutzt werden. Das ist unvermeidlich. Mehr oder weniger. Das Buch "Die feinen Unterschiede" wurde in Marketing-Schulen gelesen.

Graw: Ich wollte nicht die "Alles-ist-kooptierbar"-Rede hier fuehren, sondern eher fragen, was diese Verwendungsmoeglichkeiten Ihrer Thesen fuer Ihre eigene Produktion bedeuten.

Bourdieu: Sie sprechen eines der aergerlichsten Probleme an - ein Problem, das ich laufend habe. Im Moment mache ich z.B. eine Erfahrung, die sowohl wissenschaftlich als auch politisch ist. Ich versuche, mit einer neuen Form des Interviews, das sehr lange dauert und sehr ausfuehrlich ist und ein bisschen auf dem Modell der Psychoanalyse basiert, aber mit anderen Erklaerungsrastern operiert, zu arbeiten. Und ich frage mich, ob ich vielleicht dank dieser Methode den Widerspruch, dem ich schon immer unterworfen war, etwas entgegenhalten kann. Dieser Widerspruch fasst sich im folgenden Vorwurf zusammen: Was du machst, ist sehr gut, aber es wird nur von den privilegierten Leuten gelesen. Gut.

Wir haben einen Teil dieser Interview-Arbeit bereits publiziert. Die dort gemachten soziologischen Analysen sind sehr abstrakt und sehr konzeptuell, praesentieren sich aber in der Form einer Geschichte, wie kleine Romane. Da sind Leute, die ihr Leben erzaehlen.

Und ploetzlich koennen diese Erzaehlungen von wem auch immer gelesen werden, von jedem, der sich in ihnen wiederzuerkennen vermag. Das funktioniert sehr gut. Die Leser absorbieren fast lautlos die Instrumente der Soziologie, um sich selbst zu verstehen.

Graw: Das erinnert mich an die Methode eines Hans Haacke. Auch er plazierte soziologische Erfassungsmittel in Galerien, konfrontierte ein Kunstpublikum mit Fragen zu seiner Position im sozialen Feld.

Bourdieu: Hans Haacke ist jemand, der mir viel beigebracht hat. Oder: Ich habe mit ihm sehr viel gelernt. Er hat mich auf Dinge aufmerksam gemacht, die ich konfus zwar spuerte, aber nicht auszudruecken vermochte. Ich hatte z.B. die Idee, dass das kuenstlerische Feld sich immer mehr autonomisierte. Und er sagte mir: Vorsicht, es gibt Rueckfaelle in das Maezenatentum...

Haacke ist jemand, der eine grosse Klarsicht fuer diese Dinge hat. Waehrend unseres Interviews (5) sagte ich ihm, dass die Intellektuellen nicht in der Lage seien, effiziente symbolische Strategien zu erfinden. Wenn ich koennte, dann wuerde ich Hans Haacke als technischen Ratgeber hier einstellen, um verschiedene Stellungnahmen, zum Beispiel zu dem, was in Ostdeutschland passiert, mit ihm abzufassen. Anstatt abstrakte Deklarationen zu machen, muesste man fragen, was man sagen kann, was intelligent, kritisch und symbolisch effizient ist. Diese Dinge lassen sich nicht improvisieren. Und die Intellektuellen sind sehr schlecht darin. Es gibt auch nicht viele Kuenstler, die sowohl Traeger einer intelligenten, nicht-naiven kritischen Sicht sind, und gleichzeitig Instrumente des Ausdrucks besitzen, die symbolische Kraft haben. Haacke ist jemand, der fuer mich eine Art Avantgarde dessen praesentiert, was intellektuelle Arbeit sein koennte. Und ich habe das Problem, dass ich mich in einem wissenschaftlichen Bereich mit wissenschaftlichen Normen befinde. Wenn ich den ueberschreite, dann wird man mich der Nicht-Wissenschaftlichkeit bezichtigen - schon jetzt ist meine Arbeit ein Stoerfaktor. Eine Moeglichkeit, meine Arbeit zu toeten, bestuende darin, zu sagen, dass sie nicht wissenschaftlich ist. Ich muss also dem wissenschaftlichen Kanon unterworfen bleiben und eine Kraft kuenstlerischen Typs zu finden versuchen.

Graw: Wenn man die empirische Vorarbeit, die von Ihnen gemacht werden muss (Interviews, Frageboegen) mit der Arbeit eines Kunstkritikers vergleicht, dann aehnelt sie der manchmal im Gegenstand angelegten Notwendigkeit von kunstkritischer Beschreibung. Mit Ihrem Begriff des "kuenstlerischen Feldes" scheinen Sie sich aber betont abzusetzen von dem in der Kunstgeschichte und Kunstkritik vielfach verwendeten Begriff des Kontextes, so wie er z.B. bei Wolfgang Kemp oder bei T.J. Clark vorkommt.

Bourdieu: Dieser Punkt erfordert eine lange Erklaerung. Es gibt zwei Konzepte, die scheinbar dem meinen sehr nahe stehen. "Art world" und "Kontext". In beiden Faellen handelt es sich um kraftlose und inkonsistente Konzepte, die nur beschreiben, dass die Kuenstler auch von einem sozialen Universum mit Institutionen umgeben werden.

Arthur Danto, der dieses Konzept uebernommen hat (ich werde Ihnen Fotokopien von Texten schicken, wo ich diese Dinge ausfuehrlich kritisiere), nimmt alles in die "Art world" hinein: die Kuenstler, die Haendler, das Publikum, die Galeristen, die Museumsdirektoren, die Professoren.

Natuerlich ist das besser, als zu sagen, dass Kunst das Produkt der Kuenstler sei. Aber auch schlimmer, weil Individuen vorausgesetzt werden, die etwas mit der Kunst zu tun haben. Dabei handelt es sich um ein Feld, einen Raum mit objektiven Verhaeltnissen, die so solide sind, wie die oekonomischen Verhaeltnisse. T.J. Clark - das ist schrecklich. Ich habe gesehen, was er ueber Manet gemacht hat, und es laesst mich froesteln. Auch wenn es sich den Anschein einer soziologischen Strenge gibt, ist es nichts anderes, als das brutale in Beziehung setzen von zwei Substanzen: auf der einen Seite die Kuenstler und auf der anderen die soziale Welt.

Was diesen Leuten fehlt, ist die Idee, dass es einen Raum gibt, den ich Feld nenne, wo es Machtverhaeltnisse, unsichtbare Strukturen, Herrschende und Beherrschte und Monopole gibt - Orte, an denen sich das symbolische Kapital konzentriert. Ein Herausgeber oder ein Galeriedirektor ist trotz allem ein spezifischer Kapitalist. Und eine Titelseite funktioniert wie ein Bankkredit. Wenn ich ein Patent fuer einen Computer erfinde, dann brauche ich eine Bank, die meine Investitionen finanzieren wird, und muss diese Bank davon ueberzeugen, dass ich die Dinge intelligent angehe, dass ich etwas neues erfunden habe. Genauso geht es einem jungen Schriftsteller, der einen Herausgeber aufsucht. Und wie wird der Herausgeber urteilen? Er urteilt ueber die Persoenlichkeit. Glaubt er an sie, dann ist er ueberzeugt. Er macht mit dem Schriftsteller einen Titel, gibt kein Geld, aber ein enormes kulturelles Kapital. Und der nicht Existierende beginnt zu existieren. Danach kommt dann die Kritik, die sieht, dass etwas bei Suhrkamp publiziert wurde, daraus Konsequenzen zieht. Es gibt ein Buch ueber Kafka und seine Verleger vom Sohn Unselds. Das ist ein sehr schoenes Buch. Er sagt - wenn ich es richtig verstanden habe - dass der Herausgeber fuer einen Autor Gott ist.

Graw: Wie der Galerist fuer den Kuenstler.

Bourdieu: Genau. Das ist der Gott. Man ist im Nichts, Herr Kafka ist vollkommen unbekannt, und hopp! - bringt man ihn mit einer fast goettlichen Macht zum existieren. Man kann ihn in die Finsternis zurueckwerfen und ihm sagen, dass sein Roman nicht erfolgreich war. Oder ihm versichern, dass man ihn trotz alledem weiterpublizieren wird.

Graw: Man muss verstehen, dass diese Dinge nichts mit der sog. "Qualitaet" dessen, was man macht, zu tun haben.

Bourdieu: Da gibt es soziale Aspekte und das Unbewusste. Ein alter Herausgeber wird die Dinge herausgeben, die man vor dreissig Jahren herausgab, und er wird junge Autoren toeten, die er gar nicht sieht. Die alten Autoren toeten die jungen Schriftsteller und schuetzen die Schriftsteller, die ihrer Vorstellung entsprechen, in dem sie ihnen Vorworte schreiben - Vorworte sind Weitergabe des symbolischen Kapitals. Das ist der Bank sehr aehnlich: Ausbeutungsverhaeltnisse, Herrschaftsverhaeltnisse und Besitzverhaeltnisse, die aber, wie Sie auch vorhin sagten, gewaltvoller sind, weil es sich um symbolische Gewalt handelt.

Graw: Mit diesem kriegerischen, materialistischen Vokabular vergisst man manchmal zu fragen, ob es wirklich moeglich ist, kuenstlerische Produktion auf die Autorenkaempfe innerhalb eines Feldes zu reduzieren.

Bourdieu: Nicht nur die Autoren, auch die Herausgeber und die Kritiker gehoeren dazu. Die Kaempfe finden in saemtlichen Feldern statt. Das ist sehr kompliziert und wird oft falsch verstanden weil es immer zwei Ebenen gibt. Darauf habe ich jetzt in meinem neuen Buch sehr bestanden, weil ich immer Schwierigkeiten habe, dies klarzumachen. Es gibt also den realen Raum der Menschen, die sich zueinander situieren [malt einen Kreis mit Punkten] und unter sich kaempfen. Dann gibt es das, was ich den Raum der Moeglichkeiten nenne [malt einen zweiten Kreis]. Das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt machbar ist, gemacht wurde oder gemacht wird, ein Imaginaeres, das sich sozial konstituiert hat. So wird gesagt, dass Romane wie von Balzac nicht mehr geschrieben werden koennten oder dass seit Duchamp etwas vorbei sei. Um zu den anderen sprechen und gegen sie ankaempfen zu koennen, muss man die kuenstlerische Sprache des Moments beherrschen. Wenn sie sich neben dem Feld befinden, dann werden sie zum Zoellner Rousseau, zu einem "Kuenstler-Objekt", wie ich es nenne: Kuenstler, die objektiv, aber nicht subjektiv Kuenstler sind. Kuenstler, die in Kuenstler verwandelt werden, aber eigentlich nicht wissen, was sie tun. Ein zeitgenoessischer Kuenstler muss postkonzeptuell sein. Selbst wenn er neorealistisch malt, muss er wissen, warum.

Graw: Er muss die Kunstgeschichte und ihre verschiedenen Darstellungen und Werteinschaetzungen kennen und die angeblichen kuenstlerischen Moeglichkeiten und Unmoeglichkeiten in seiner Arbeit inkorporiert haben.

Bourdieu: Ein Kuenstler, der kreativ ist, sieht eine Luecke. Aber er wird nicht nur deshalb etwas machen, dann waere er der zynische Kuenstler. Der ueberzeugte Kuenstler macht etwas, weil es seine Sache ist. Damit er Lust dazu hat, muss er auf eine Art und Weise produziert worden sein, die ihn diese Lust empfinden laesst.

Graw: Das erinnert mich an Ihren "Feel for the game"-Begriff, bei dem ich den Eindruck hatte, dass vielleicht das "Feel for the game" eine Moeglichkeit ist, das Konzept des Genies durch die Hintertuer wiedereinzufuehren. Vielleicht koennte derjenige, der heute ein "feel for the game" hat, frueher als Genie bezeichnet worden sein. Was mich allerdings verwundert, ist Ihr Enthusiasmus fuer diejenigen, die das "Feel for the game" besitzen. Sie haben viele Sympathien fuer den guten Spieler, der die richtige Mischung aus Unterwerfung und Freiheit zum richtigen Zeitpunkt gefunden hat. Aber welche Bedingungen machen jemanden zum guten Spieler, und wer bestimmt, dass er ein guter ist?

Bourdieu: Ja, das ist ein grosses Problem. Also mit dem "Feel for the game" ist es kompliziert. Es gibt Leute, die diese Kompetenz in einer zynischen Art und Weise besitzen, die sich halb-bewusst an den richtigen Ort plazieren. Ich glaube, dass die kuenstlerischen und wissenschaftlichen Welten ganz komplizierte Universen sind, wo die Leute fast ohne zu kalkulieren das Richtige und Notwendige tun. Das ist fast eine Bedingung fuer das Gelingen. Es gibt Werte wie Ernsthaftigkeit oder Authentizitaet, die bei den Kreativen immer gefeiert werden...

Graw: Oder auch im Gegenteil, mindestens seit Warhol oder auch jetzt bei Koons ist es das Kuenstliche, Nicht-Authentische, was zelebriert wird...

Bourdieu: Das stimmt - zelebriert wie eine extreme Form des Genies. Aber gleichzeitig ist es eine Moeglichkeit, einer hoeheren Authentizitaet zu dienen. Man haelt das Authentische fuer naiv und ruehmt sich einer authentischeren Authentizitaet, die den Mythos des Authentischen zu entlarven vermag. Daraus kommt man nicht heraus. Oder aber man muss das Spiel verlassen, und sagen, dass die Museen Scheisse sind. Nur gibt es bereits Scheisse des Kuenstlers in Dosen - alle Schlaege sind erprobt. Es stimmt, dass es einen Glauben gibt, der eine Bedingung fuer die Teilnahme und Zugehoerigkeit zum Spiel ist. Der Zynismus toetet das Spiel. Ich habe zu diesem Thema einen Text von Mallarmé gefunden, worueber ich sehr gluecklich bin. Mallarmé wird ja gemeinhin wie Hoelderlin benutzt, um die Idee der Kunst als etwas Heiliges zu verteidigen. Dieser Text - ein Vortrag, den er in England auf Franzoesisch in einem ultraobskuren Stil gehalten hat, ist einer der obskursten Texte von Mallarmé. Er sagt darin, dass man die schonungslose Demontage der Fiktion vermeiden muss, was soviel heisst, als dass man die Demontage seiner selbst - die Fiktion, das ist er - vermeiden muss. Man darf das Spiel nicht demontieren, weil man dann die Freude daran verlieren wird. Und er sagt, was ich auch in meinem Buch zu zeigen versuche, dass es sich um ein soziales Spiel handelt. Ich bin sehr froh ueber diesen Fund. Es ist so, als ob ich eine Stelle bei Heidegger gefunden haette, bei der er sagt, dass die soziale Welt das Bewusstsein erklaere.

Graw: Slavoj Zizek sagt, dass es die Zynischen sind, die am besten funktionieren. Und ich beobachte in Koeln Antagonismen innerhalb von Kuenstlergruppen die sich fast jaehrlich neu formieren, auch wenn die Teilnehmer erkannt haben, dass sie nur alte Polarisierungen wiederholen zwischen dem aesthetizistischen und dem gesellschaftskritischen Pol. Jeder ist sich sehr klar darueber, dass diese Antagonismen obsolet und reduktionistisch sind, aber das Spiel geht weiter.
Ich glaube, dass selbst die feinste Analyse des Spiels durch seine Mitspieler dessen Charakter nicht unbedingt aendert.

Bourdieu: Sie haben recht.
Und das ist es, was der Begriff des Feldes erklaert. Es handelt sich naemlich nicht nur um Individuen. Es gibt Kraefte, die groesser sind und von denen man gefangen ist. Kraefte, die sich in der Realitaet befinden: die Galerien Koelns, die sich in den Koepfen der Leute festsetzen und verinnerlicht werden. Der Begriff des Feldes hat dem des "Milieus" die Idee voraus, dass es eine Art hoellische Maschine gibt. Einmal Teilnehmer dieses Spieles, wie in der Tragoedie, sind diese gezwungen, den Regeln zu gehorchen. Und wenn sie diesen Regeln entfliehen wollen, dann wird man sie fallen lassen. Sehr haeufig, um nicht den Schlauen zu spielen, bin auch ich gezwungen, und habe damit Schwierigkeiten - dem Spiel Rechnung zu tragen. Nehmen wir an, Sie haetten mich ueber meinen Platz in der franzoesischen Soziologie befragen wollen. Dann waere ich sofort sehr verlegen geworden. Und haette mir sofort gesagt, dass Sie nicht denken koennen, dass ich das wirklich denke. Sie werden eine Strategie vermuten, dass ich mich der Soziologie bediene, um meine Karten bedeckt zu halten, um mein Spiel nicht preiszugeben, um meine Gegner zu vernichten.

Graw: Wie stehen Sie zur Systemtheorie von Niklas Luhmann?

Bourdieu: In dem Buch "Reponses" habe ich das ausgefuehrt. Es hat auch ein Konfrontationskolloquium zwischen Feld und System gegeben... Ich glaube, dass es Analogien gibt. Gleichzeitig handelt es sich um voellig gegensaetzliche Theorien. Luhmanns Vision ist idealistisch und hegelianisch. Er sagt, dass das System, sich seiner eigenen Logik entsprechend, ohne Agenten, ohne Konflikte, ohne Kraefteverhaeltnisse und ohne Kaempfe entwickelt. Man muesste dies mehr im Detail ausfuehren, aber es handelt sich um ein gefaehrliches System, weil es den Anschein erweckt, nah an der Wahrheit zu sein.

Graw: Und Ihr Verhaeltnis zur Psychoanalyse? In Ihren Buechern hat das Vokabular der Psychoanalyse seine Spuren hinterlassen, aber es scheint, als ob Sie zurueckhaltend waeren, was die Bedeutung des "Sexuellen" als Universalerklaerung betrifft.
Koennte man den Begriff des Habitus vergleichen mit dem der symbolischen Ordnung?

Bourdieu: In diesen Begriffen habe ich noch nicht nachgedacht. Sie haben meine Position sehr gut zusammengefasst. Ich habe ein grosses Interesse an der Psychoanalyse und uebe ihr gegenueber gleichzeitig Zurueckhaltung, was sich durch die Effekte des Feldes erklaert. Es gab in Frankreich eine Phase, wo alle obsessiv vom "Begehren" sprachen. Ich habe ein bisschen entgegengesetzt reagiert, weil mich die Intellektuellen ein wenig nerven. Dennoch ist die Untersuchung, von der ich vorhin sprach, ein Versuch, die Probleme in einer tiefgehenden Art und Weise durch die individuellen Geschichten der Verhaeltnisse zu den Eltern zu studieren, um Strukturen zu erforschen, die den Habitus hervorbringen. Ich werde Ihnen ein Beispiel geben. Wir machen Interviews. Bei 9 von 10 Faellen liegt der Schluessel zum Drama, das von den Leuten gelebt wird, im Verhaeltnis zu Mutter oder Vater. Ich nehme ein etwas extremes, aber sehr bezeichnendes Beispiel. Ein Sohn eines Arbeiters, dessen Vater Gewerkschafter ist, der normalerweise in eine kleine Schule des Vorortes gehen sollte, wurde vom Vater durch eine Art Akt der Revolte in einem Gymnasium im Zentrum der Stadt plaziert. Da findet er sich im buergerlichen Milieu wieder, sein schulisches Niveau bricht zusammen, seine Familie sieht das als Niederlage an, alle Ambitionen sind gestorben etc. Und das wird sein ganzes Leben lang als Initialtrauma fungieren, er wird davon gezeichnet bleiben. Dieses Muster ist durchgaengig: die Eltern projizieren die Verlaengerung ihrer eigenen Wege, die gestoppt worden sind, in die Kinder. Die Kinder erben die Niederlagen und die unmoeglichen Ambitionen der Eltern.

Graw: Ist es moeglich, den Habitus zu verlassen oder auszuweiten? Ich habe den Eindruck, dass Sie sich ueber diejenigen lustig machen, die ihren Habitus ueberschreiten und sich z.B. fuer das "Vulgaere" interessieren, vor allem dann, wenn es sich um Leute aus den sogenannten guten Familien handelt. Wie sehr ist man in seinem Habitus gefangen? Kann man nicht weiss, maennlich, heterosexuell und Mitglied der Mittelklasse sein und sich dennoch fuer Rap- Musik interessieren? Ein kulturelles Interesse entwickeln, das nicht mit der sozialen Position korrespondiert und dennoch nicht einfach als snobistischer Exotismus abgetan werden kann?

Bourdieu: Das ist ein Problem. Ein grosses Problem. Mein erster gesellschaftlich fundierter Reflex auf ein derartiges Phaenomen, ist, es verdaechtig zu finden. Das sind Leute, die sich selbst beluegen und sich z.B. des Raps bedienen, um Rechnungen im Inneren ihres Feldes zu begleichen, wie z.B. Shustermann, der sich als radikaler Philosoph bezeichnet. Es wirkt sehr schick und einmalig, in einem Nelson Goodman-Kolloquium eine Cassette mit RAP vorzuspielen. Das ist ein gelungener Schachzug, so wie Kuenstler ihn ausfuehren, aber ich bleibe bei meinem bestimmten, wenn nicht sicheren Verdacht. Ich glaube, dass es sich um "radical chic" handelt, der sehr oft gefaehrlich ist, weil er die Dinge so laesst wie sie sind. Das ist verbaler Revolutionismus. Es gibt etwas aehnliches bei den Leuten, die die Ghettosprache der Schwarzen fuer wunderbar halten. Nur kommt man eben mit dieser Sprache nicht nach Harvard. Bei aller Faszination wird vergessen, dass diese Sprache auf den meisten sozialen Maerkten nichts wert ist. Auch wenn das Interesse an Rap mit realer Sympathie verbunden ist, dient es doch zu sehr den eigenen Interessen im Universum. Ich verbiete Ueberschreitungen nicht a priori, nur sind das die Momente, wo Selbstreflexivitaet sehr wichtig wird.

Graw: Ich habe den Eindruck, dass es eine Art Subtext in all Ihren Texten gibt: Sie halten sich nicht fuer einen klassischen Soziologen. In Ihrem imaginaeren Referenzsystem vergleichen Sie sich eher mit Schriftstellern und Kuenstlern...

Bourdieu: In der letzten Phase meiner Arbeit, in der ich mich jetzt befinde, sind es wirklich die Schriftsteller und die Kritiker, die mir nahe stehen und die ich ein bisschen untergraben hatte, weil ich mich in einem wissenschaftlichen Milieu befand.

Ich bin an einem Punkt angelangt, wo ich anerkannt bin und es mir erlauben kann, ohne mich umzubringen, die von mir bisher unterdrueckten Probleme anzugehen. Natuerlich werden einige Leute jetzt sagen: Sehen Sie - Bourdieu - wir haben es immer gesagt, er ist kein wirklicher Gelehrter.

Graw: Jetzt wird es fuer diese Leute schwerer, weil Sie ein offizieller Gelehrter und Mitglied der "Academie Francaise" sind.

Bourdieu: Genau. Jetzt kann ich mich der sozialen Kraft bedienen, die mir diese Position gibt.
Sie fragten mich vorhin, ob es einen Tag geben wird, an dem jeder den Ausdruck "Habitus" benutzen wird. Ich glaube nicht. Meine einzige soziale Kraft - neben der intellektuellen, der Kohaerenz, deren soziale Kraft winzig ist, haengt damit zusammen, dass ich Professor an einer grossen Institution bin, dass meine Buecher in alle Sprachen uebersetzt wurden. Wenn ich das zerstoere...

Graw: Was waeren die Bedingungen, in denen die Moeglichkeit einer Zerstoerung auftauchen wuerde?

Bourdieu: Wenn ich zu weit gehen wuerde im Sinne der Ueberschreitung, des "Happening". Es passiert mir z.B. immer haeufiger, dass ich "Interventionen" in Gruppen oder auf Konferenzen veranstalte. Diese Interventionen aehneln dem Happening. Ich gehe in ihnen sehr weit, verderbe das Spiel und bin dann drei Tage lang krank wegen der Haerte des Erlebnisses. Neulich gab es ein Kolloquium - mitten im Sommer, was mir nicht sehr behagte - aber ich bin hingegangen. Dort befanden sich Fernsehansagerinnen, und ich habe ein extrem ungestuemes Happening veranstaltet, habe Christine Ockrent - einer typisch buergerlichen Ansagerin - gesagt, dass ich nur umschalten koenne, wenn ich sie im Fernsehen saehe. Ich hatte eine Haelfte des Saales fuer mich: die Jungen, die Frauen etc., und der Rest des Saales war total gegen mich: die haetten mich am liebsten umgebracht.

Danach sagte man mir natuerlich nach, dass ich ein Mann voller Leidenschaften und meine Wissenschaft nur Leidenschaft sei, und man unterstellte mir Ressentiments. So zerstoere ich mich.

Graw: Sie setzen sich der Moeglichkeit aus, auf etwas - wie "leidenschaftlich" - reduziert zu werden.

Bourdieu: Ich riskiere es, eine soziale Staerke zu zerstoeren, die von Bedeutung ist. Ich glaube, dass das, was ich mache - "drolement liberateur" - erstaunlich befreiend ist. Und ich waere froh, wenn andere, die ueber die Mittel beruflich verfuegen, den agitatorischen Teil der Arbeit uebernehmen koennten. Es braucht also Professionelle der symbolischen und kritischen Aktion.

Graw: Zum Schluss wollte ich Ihnen eine Frage bezueglich des europaeischen Zeitschriftenprojekts "Liber" stellen, das Sie ins Leben gerufen haben. Was ist passiert? Ich habe es lange nicht mehr als FAZ-Beilage gesehen.

Bourdieu: Am Anfang hatte ich die Idee, dass die Intellektuellen sich mobilisieren sollten, was sehr schwer ist, weil sie entgegengesetzte Interessen verfolgen. Es war also noetig, sie um eine gemeinsame Arbeit - die Zeitung - zu versammeln. Aber eine gemeinsame Arbeit ist nicht das, was daraus geworden ist.

Augenblicklich erscheint "Liber" nicht auf deutsch, was ich sehr bedaure. Wir sind in Verhandlungen mit verschiedenen moeglichen Unterstuetzern. Ich will jetzt nicht zu schnell vorgehen, weil wir am Anfang zu schnell und zu hoch hinaus wollten. Das Unternehmen war zu gross und ist deshalb gescheitert, wofuer ich nicht verantwortlich bin. Ich bin fuer die anfaengliche Utopie verantwortlich, nachher wurde es etwas megaloman. Jetzt gehe ich sehr langsam vor, weil ich mir sage, dass wir uns vielleicht mit einer Zeitschrift zusammentun sollten, was wiederum andere Zeitschriften ausschliessen wuerde. Man muss so etwas langsam vorbereiten, damit es real ist und andauern kann. Es gibt eine Gruppe von ungefaehr 50 "Freunden von Liber" in Deutschland, die sich aus Soziologen, Kuenstlern etc. zusammensetzen und sich in Freiburg und Berlin treffen, um eine deutsche Ausgabe herauszubringen: bescheiden, aber gut gemacht. Es geht also weiter, auch in Italien, Spanien, in der Tschechoslowakei, Rumaenien, Schweden, Bulgarien und Ungarn. Es geht weiter.

Anmerkungen :

1. Unter "Habitus" versteht Pierre Bourdieu eine Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix; das durch die primaere Sozialisation jedem Individuum eingegebene Gesetz, bzw. ein System dauerhafter und versetzbarer Dispositionen. Bourdieu geht von einer "objektiven Uebereinstimmung der Habitusformen von Gruppen und Klassen" aus.

2. "Die Doxa bildet jenes Ensemble von Thesen, die stillschweigend und jenseits des Fragens postuliert werden und die als solche sich erst in der Retrospektive, dann, wenn sie praktisch fallengelassen wurden, zu erkennen geben."

3. "In den hochdifferenzierten Gesellschaften besteht der soziale Kosmos aus relativ autonomen sozialen Mikroskosmen, den von mir so genannten Feldern, d.h. aus Raeumen, in denen objektive Beziehungen herrschen und die ihre je eigene Logik und Notwendigkeit aufweisen." (Aus: "Ueber die Verantwortung der Intellektuellen").

4. Bourdieu reichte spaeter die Information nach, dass es sich um das Buch "Schoenberg et son ecole" von R. Leibowitz handelte, Paris, J.B.Janiin, 1947 erschienen.

5. Hans Haacke fuehrte ein Interview mit Pierre Bourdieu fuer die Zeitschrift "October", das demnaechst veroeffentlicht wird

Editoriale Anmerkung:  

Dieser Artikel ist eine Spiegelung von:
http://www.homme-moderne.org/societe/socio/bourdieu/Bwas.html