Nach der Wahlbestätigung der Schröder-Regierung
Unternehmeroffensive wird fortgesetzt

Gruppe Arbeiterpolitik

01/03
 
 
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Die Dramatik bei der Gestaltung der Mandatsverteilung am Wahlabend stand in keinem Verhältnis zu den programmatischen und tatsächlichen Unterschieden zwischen den großen Konkurrenten SPD und CDU/CSU. Am Schluss landeten beide große Parteien bei jeweils 38,5 Prozent der Zweitstimmen. Durch die Zugewinne der Grünen einerseits und das schlechte Abschneiden der FDP andererseits war somit der Weg zur Regierungsbildung für das Duo Schröder- Fischer geebnet.

Bei insgesamt knapp drei Prozent geringerer Wahlbeteiligung (79,1Prozent) gegenüber der Wahl vor vier Jahren büßte die SPD 2,4 Prozent Zweitstimmen ein, während CDU/CSU um 3,4 Prozent zulegten. Politisch wichtig sind dabei allerdings die gravierenden Verschiebungen in der Wählerstruktur. Die CDU/CSU hat der SPD vor allem bei den Arbeitern Stimmen weggenommen. Sie gewann bei ihnen acht Prozent dazu, während die SPD fünf Prozent einbüßte. In der alten Bundesrepublik lagen der Verlust der SPD mit neun Prozent und der Gewinn der CDU/CSU mit zehn Prozent sogar noch höher. Unter den Arbeitern in den alten Bundesländern ist die Differenz zwischen den beiden großen Parteien damit in nur vier Jahren von 23 Prozent auf nur noch vier Prozent geschrumpft. Bei den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern bietet sich dasselbe Bild. Die Gewinne und Verluste sind mit acht bzw. fünf Prozent genauso hoch.

Entscheidend für diese Verschiebung ist die Enttäuschung der Arbeiter über die Wirtschaftspolitik der Regierung Schröder. Vor allem die gleichbleibend hohe Arbeitslosigkeit hat sie in das Lager von CDU und CSU getrieben.

Die Umfragen zeigten, dass drei Viertel der Wählenden die Arbeitslosigkeit für das Hauptproblem hielten.

Die SPD konnte die Wahl nur gewinnen, weil sie im Osten Zugewinne von bis zu fünf Prozent aufzuweisen hatte.

Dies ist eine Folge des geschickten Umgangs mit der Flutkatastrophe und der Stellungnahme zum Konflikt USA-Irak. Vor allem mit der klaren Absage an eine Kriegsbeteiligung gegen Irak hatte Schröder die SPD erfolgreich gegen die PDS in Stellung gebracht.

Noch am Wahlabend machten die Akteure deutlich, dass die rot-grüne Regierungspolitik auf Kosten der abhängig Beschäftigten in den nächsten vier Jahren ungebrochen fortgeführt werden soll. Die Gewerkschaftsspitzen hatten im Wahlkampf vorbehalt- und kritiklos die SPD unterstützt. Schon unmittelbar nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses boten sie sich als Vollstrecker der vom Kapital geforderten und von der rot-grünen Regierung beschlossenen und geplanten Umverteilungs- und Umstrukturierungspläne an. Der DGB-Vorsitzende Sommer zum Beispiel forderte die sofortige Umsetzung der Hartz-Pläne ohne Abstriche und Verwässerungen. Zur Realisierung der im Gesundheitswesen angestrebten Einsparungen und weiterer Privatisierungen schlug er eine Einrichtung analog der Hartz-Kommission vor – inzwischen wurde die Rürup-Kommission installiert; der DGB macht wieder mit, Klaus Wiesehügel von der IG BAU und Ursula Engelen-Kefer vom DGB. Wer sich die bisherigen Ergebnisse der »Gesundheitsreform« in Städten und Gemeinden anschaut, die zum großen Teil von der alten ÖTV bzw. ver.di mitgetragen wurden, bekommt eine Vorahnung von den katastrophalen Folgen, die auf Patienten und Beschäftigte des Gesundheitswesens zukommen werden. Die Gewerkschaftsführungen signalisieren mit dieser Haltung nicht nur die Bereitschaft, die Interessen ihrer Mitglieder zurückzustellen; sie verzichten sogar auf die öffentliche Formulierung eigenständiger Positionen.

Das Unternehmerlager, in dem eine Mehrheit einen Wahlsieg von CDU/FDP favorisiert hatte, nahm das Wahlergebnis gelassen hin. Das hat vor allem zwei Gründe:

1. Auch der Zustand der bürgerlichen Oppositionsparteien bot den Vertretern des Unternehmerlagers nicht die Garantie, mit ihrer Hilfe die eigenen Interessen reibungslos durchsetzen zu können. Vor allem die CDU war im Wahlkampf deshalb in die Schusslinie ihrer Kritik geraten – etwa bei der Ablehnung des Zuwanderungsgesetzes und der Hartz-Pläne. Der Versuch der Union mit populistischen Parolen gegen die Bundesregierung in den Wahlkampf zu ziehen, erwies sich für die Unternehmer als kontraproduktiv.

2. In den vergangenen vier Jahren hatten die Vertreter der deutschen Wirtschaft und Industrie gute Erfahrungen mit der Bundesregierung gemacht. Vor allem die Einbindung der Gewerkschaften hatte sich für sie gelohnt. Hier bietet die SPD eindeutige Vorteile gegenüber der CDU. In den eigenen Reihen können die Spitzen der Gewerkschaften ihre Zusammenarbeit mit Kapital und Staat eher durchsetzen, wenn es eine sozialdemokratisch geführte Regierung gibt. »Wahrscheinlich müssen die heiligen Kühe von denen geschlachtet werden, die an der Aufzucht am aktivsten beteiligt waren«, so kommentierte schon im September 1999 Hilmar Kopper (Chef der Aufsichträte von DaimlerCrysler und der Deutschen Bank) die ersten Erfahrungen mit der neuen rot-grünen Regierung.

Wahlkampf ohne Inhalt

Weder das Unternehmerlager noch die Gewerkschaften hatten Interesse an einem polarisierenden Wahlkampf mit der Gefahr, dass die gegensätzlichen Klasseninteressen die parteipolitischen Auseinandersetzungen mitgeprägt hätten. Dementsprechend haben sich Unternehmerverbände und Gewerkschaften auch zurückgehalten und auf die Parteien eingewirkt. CDU/CSU und SPD konnten so einen Wahlkampf führen, in dem sie sich in ihren politischen Aussagen höchstens in Nuancen unterschieden, während ein immer größer gewordener Teil der Wählerschaft keiner der großen Parteien zutraut, das »Problem der Arbeitslosigkeit und der Sozialversicherungen « lösen zu können. Der Wahlkampf war daher für die meisten Beobachter und Wähler so unpolitisch wie noch nie. Lange Zeit sah es so aus, als ob die SPD ihre von der rotgrünen Regierungspolitik enttäuschten Wähler und Anhänger nicht mobilisieren könne. Die Opposition sah aus wie der sichere Sieger.

Von politischer Polarisierung, wie sie angesichts der Kandidatur von CSU-Chef Stoiber anfänglich von vielen erwartet  wurde, war kaum etwas zu sehen. Zum einen gaben die Gewerkschaften ihre noch zur Jahreswende artikulierte Kritik an der rot-grünen Regierung so gut wie völlig auf und riefen wie eh und je zur Wahl der SPD auf. Von ihrer Seite fand keine inhaltliche Diskussion über die zur Wahl stehenden Parteien und vor allem über die Resultate der Regierungsarbeit von Rot-Grün statt. Zum anderen blieb das Unternehmerlager, und das ist der wichtigere Punkt, trotz seiner doch relativ moderat in seinen Angriffen auf die Schröder-Regierung. Zwar wurde ein Forderungskatalog präsentiert, der grundlegende Veränderungen bei der Arbeitslosenversicherung ebenso enthält wie eine Neuregelung des Kündigungsschutzes, dieses Vorgehen ähnelte aber dem der Gewerkschaften, die ja auch zu jeder Wahl mit ihren Wahlprüfsteinen kommen. Offensiv ist ein solches Verhalten jedenfalls nicht zu nennen. Typisch für die eher verhaltene Gangart war die Reaktion auf die Flutkatastrophe. Wenn der BDI-Vorsitzende Rogowski dem Bundeskanzler eine Erhöhung der Körperschaftssteuer als Beitrag der Kapitalgesellschaften zur Finanzierung der Flutschäden geradezu anbot, so ist das mitten im Wahlkampf schon erstaunlich. Er stärkte damit indirekt Schröders Position. Das Zurückrudern nach seiner ersten Äußerung änderte daran nur noch wenig. Es stellt sich die Frage, warum das deutsche Kapital in diesem Wahlkampf so zurückhaltend war.

Die Unternehmer und die Hartz-Kommission

Eine erste Antwort lässt sich anhand der Reaktionen auf die Vorschläge der Hartz-Kommission finden. Sie sind für das Verhalten des Unternehmerlagers charakteristisch. Zwar wurde nach der Vorstellung der Kommissionspläne vom BDI ebenso wie vom BDA oder vom DIHK kritisiert, dass die Vorschläge der Kommission nicht weit genug gingen, letztlich aber fehlte dieser Kritik nicht nur die in früheren Wahlkämpfen übliche Schärfe, sie blieb im eigenen Lager auch nicht unwidersprochen.

Schon am Tag nach den öffentlichen Erklärungen der genannten Verbände stellten sich die Vorstandsvorsitzenden mehrerer Großkonzerne (unter ihnen IBM und Hewlett-Packard)  in einer ebenfalls öffentlichen Erklärung eindeutig hinter die Pläne der Hartz-Kommission. Sie riefen dazu auf, die positiven Elemente dieser Vorschläge nicht sofort zu zerreden, sondern die neuen Möglichkeiten erst einmal zu nutzen. Damit unterstützten sie die Position, die auch die Kapitalvertreter in der Kommission vertreten hatten. Die überwiegende Mehrheit der Kommissionsmitglieder stammte ja aus dem Unternehmerlager. Neben Peter Hartz selbst, dem Personalvorstand von VW, waren das u.a. seine Kollegen von der BASF und der Deutschen Bank, führende Repräsentanten von Roland Berger und Boston Consulting, und der Generalsekretär des Zentralverbandes des deutschen Handwerks, Hans-Eberhard Schleyer. Die Gewerkschaften dagegen waren gerade einmal mit zwei Personen repräsentiert, die zudem nicht besonders gewichtig waren. Die Mehrheit der Kapitalvertreter in der Kommission hatte zwar versucht, eine schärfere Variante des Hartz-Papiers durchzusetzen, die u.a. eine generelle Kürzung des Arbeitslosengeldes und eine Reduzierung seiner zeitlichen Dauer enthalten sollte, der Schlussfassung haben aber schließlich alle einhellig zugestimmt.

Dieses Verhalten wie auch die unterschiedlichen Reaktionen aus dem Unternehmerlager auf die Vorschläge der Kommission zeigen das Dilemma, in dem die Unternehmer derzeit stecken. Sie möchten zwar gern mehr erreichen, als das Hartz-Papier vorsieht, dessen Umsetzung aber auch nicht gefährden. Es enthält schließlich zahlreiche Elemente, die von Kapitalseite immer wieder gefordert worden waren. Vergleicht man die öffentlichen Erklärungen der Arbeitgeberverbände Anfang des Jahres mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission, so sind die Parallelen unübersehbar. Von den fünf Punkten, die das Programm des BDA »für mehr Beschäftigung « im Januar als entscheidend vorstellte, wurden vier von der Hartz-Kommission zu relativ großen Teilen berücksichtigt:      Die Anhebung der Grenze für geringfügige Beschäftigung, die möglichst schnelle Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, der stärkere Druck auf Arbeitslose, angebotene Arbeitsplätze anzunehmen, und die Beseitigung arbeitsrechtlicher Schutzbestimmungen (siehe dazu den Artikel zum Hartz-Papier in dieser Nummer der Arbeiterpolitik).

Um diese »Fortschritte« im Sinne der Unternehmer nicht zu riskieren, haben die Kommissionsmitglieder letztlich zugestimmt, auf die generelle Kürzung des Arbeitslosengeldes erst einmal verzichtet. Nur so konnte man die gewünschte Einbindung der Gewerkschaften und damit die Einstimmigkeit der Kommission erreichen. Das Verhalten von Hans-Eberhard Schleyer war diesbezüglich typisch. Er verlangte zwar immer wieder, die ursprüngliche Fassung des Papiers, die die generelle Kürzung enthielt, beizubehalten, unter dem Druck der Gewerkschaften in dieser Frage hat er sich aber letztlich nicht verweigert.

Auch die öffentlichen Stellungnahmen der Unternehmerverbände waren, betrachtet man sie genauer, von einer eher unentschlossenen Haltung bestimmt. Auf der einen Seite wurde heftige Kritik an den Plänen geübt, die auf die nicht erfüllten Forderungen der Verbände wie vor allem die Kürzung der Arbeitslosenunterstützung hinwies. Auf der anderen Seite blieb die Kritik generell doch eher halbherzig, wurden die Pläne wegen ihrer aus Sicht des Kapitals positiven Elemente letztlich doch als Fortschritt gewürdigt. Die Pressemitteilung des DIHK stand dementsprechend unter der Überschrift »Ernsthafte Suche, aber kein großer Wurf«. Ludwig Georg Braun, hessischer Großunternehmer und Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, teilte darin mit, dass der Bericht der Hartz- Kommission »ein wichtiger Schritt, die Arbeitsmarktpolitik in Bewegung zu bringen« sei, allerdings noch kein Durchbruch. Ähnlich äußerte sich auch Rogowski für den BDI. Er kritisierte in einer Presseerklärung die polarisierte öffentliche Debatte über die Vorschläge und verurteilte dabei sowohl die Beurteilung der Hartz-Pläne als »Geniestreich« durch das Regierungslager als auch die Kritik der Opposition, die alles nur als »Gequatsche« abtue. Solche Extremurteile seien unangebracht. Die Vorschläge der Kommission seien zwar nur eine Korrektur verfehlter früherer Entscheidungen der Regierung, aber späte Einsicht sei besser als keine. Eine sofortige Umsetzung sei deshalb erforderlich. Auch wenn die Vorschläge die Hauptursachen nur teilweise anpackten, seien sie aber zumindest ein erster Schritt.

Die Bilanz von vier Jahren Schröder-Regierung:
Das Unternehmerlager konnte seine Position stärken und ausbauen

Die Reaktion des Unternehmerlagers auf die Vorschläge der Hartz-Kommission ist deshalb so typisch, weil diese Vorschläge charakteristisch für die Politik der Schröder-Regierung sind. Die Regierung hat in den letzten vier Jahren viele Entwicklungen in Gang gebracht oder fortgeführt, die von den Unternehmern gefordert wurden. Zieht man die zehn Punkte, die wir in unserem Artikel zur Wahl von 1998 als wesentliche Bilanz der Kohl-Regierung genannt haben, zum Vergleich heran, so wird das deutlich. Außer beim Kündigungsschutz in Kleinbetrieben und der (inzwischen zumeist tariflich abgesicherten) Lohnfortzahlung im Krankheitsfall hat die Regierung Schröder nach ihrem Wahlsieg keine einzige Maßnahme zurückgenommen, die von ihrer Vorgängerin zu Gunsten der Unternehmer eingeführt worden war. Bei den meisten Punkten hat sie die Verschlechterungen zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit sogar noch weiter ausgebaut. Man denke hier nur an die Steuerreform, die Veränderungen des Arbeitsförderungsgesetzes oder die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Einführung der Riester- Rente. Das Aufbrechen des Solidarprinzips in der gesetzlichen Rentenversicherung war aus Sicht des deutschen Kapitals einer der größten »Erfolge« der Regierung Schröder. Unter einem Kanzler aus den Reihen der CDU/CSU wäre diese grundlegende Änderung des Rentensystems wohl nicht so reibungslos durchzusetzen gewesen. Dafür bedurfte es der SPD und eines Arbeitsministers, der die Gewerkschaften dank seiner langjährigen IGM-Karriere relativ leicht mit »ins Boot« nehmen konnte.

Ähnliches gilt auch für die geplante Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit. Sie stellt für das Kapital ebenfalls einen ganz wichtigen Schritt hin zu einer weiteren Flexibilisierung des Arbeitsmarkts dar. Die Forderungen, die der BDA Anfang des Jahres hinsichtlich einer Reform der Bundesanstalt für Arbeit aufgestellt hat, sind in den Plänen des neuen Vorstandsvorsitzenden der Anstalt, Florian Gerster, in wesentlichen Teilen berücksichtigt worden. Einzig die generelle Kürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld auf maximal zwölf Monate konnte von Unternehmerseite (ebenso wie auch in der Hartz-Kommission) nicht durchgesetzt werden. Dennoch erfüllt Gerster die Erwartungen des deutschen Kapitals in hohem Maße. Der ehemalige SPD-Sozialminister von Rheinland-Pfalz hat in seiner bislang relativ kurzen Amtszeit schon sehr viel von dem umgesetzt oder zumindest angestoßen, was die Arbeitgeberverbände seit langem fordern. Er war aus deren Sicht eindeutig erfolgreicher als seine Vorgänger aus dem konservativen Lager.

Das Unternehmerlager kann in seiner Gesamtheit mit den Aktivitäten der rot-grünen Regierung durchaus zufrieden sein. Zwar hat man nicht alle seine Pläne durchgesetzt, die Erfolge aber können sich sehen lassen. Die herrschende Klasse hat das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften weiter zu ihren Gunsten verschieben können.

Sinkende Kurse, Krise der »New Economy« und Bilanzfälschungen:
Der Lack blättert ab

Die unbestreitbaren Erfolge, die die Schröder-Regierung aus Sicht des Unternehmerlagers zu verzeichnen hat, sind jedoch nicht der einzige Grund, warum die Angriffe auf die rot-grüne Regierung vergleichsweise zurückhaltend ausfallen. Die Unternehmer spüren auch, dass sich die Stimmung, wie sie in der veröffentlichten und öffentlichen Meinung zum Ausdruck kommt, verändert hat. Der massive Rückenwind der vergangenen Jahren bläst ihnen zur Zeit eher entgegen. Bis zum Anfang dieses Jahres waren die Topmanager noch die bewunderten Vorbilder der Gesellschaft, genossen fast schon Starruhm. Seither hat sich das Blatt gewandelt. Die Spitzenmanager der großen Konzerne stehen nun als gierig, rücksichts- und skrupellos am Pranger. Die riesigen Bilanzskandale in den USA wie zum Beispiel bei Enron oder Worldcom, bei denen die Kleinaktionäre viel Geld in den Sand gesetzt haben und die Beschäftigten nicht nur ihre Altersversorgung, sondern auch ihren Arbeitsplatz verloren haben, haben ebenso zu einer Veränderung des gesellschaftlichen Klimas beigetragen wie das Platzen aller Träume vom ununterbrochenen Wachstum in der »New Economy« und einem ewigen Boom an den Börsen.

So lange die Wirtschaft unaufhaltsam zu wachsen schien und viele Normalbürger in Form von Aktien (wie etwa denen  teilhaben konnten, spielte es keine nennenswerte Rolle, ob die Topmanager ihre Gehälter in immer neue Höhen schraubten. Seit es an den Börsen wie in der Wirtschaft insgesamt aber bergab geht, werden solche Praktiken nicht mehr so ohne weiteres akzeptiert. Spitzengehälter in dreistelliger Millionenhöhe, Abfindungen im zweistelligen Millionenbereich für Manager, die ihre Firmen fast in den Ruin getrieben haben, und illegale Aktiengeschäfte, bei denen die Topmanager auf Kosten der Aktionäre und der Beschäftigten riesige Gewinne machten, sorgen dafür, dass die Helden von gestern  die Bösewichte von heute sind.

Dass sich gleichzeitig auch die Fata Morgana von der Aktie als höchst lukrativer und zugleich sicherer Geldanlage aufgelöst hat, bereitet dem Unternehmerlager Probleme. Das über Jahre hinaus bewunderte Vorbild USA hat seinen Glanz verloren. Damit aber sind alle jene Argumentationen, die vor allem unter Berufung auf dieses Vorbild zu einem grundlegenden Umbau des bundesdeutschen Modells der sozialen Sicherung aufgerufen haben und noch immer aufrufen, unter Rechtfertigungsdruck geraten. Der früher ausreichende Hinweis auf die Erfolge der US-Wirtschaft genügt nicht mehr,  will man zum Beispiel die Schaffung eines Niedriglohnsektors oder die Umstellung des Rentensystems auf das Prinzip der Kapitaldeckung weiter vorantreiben. Ein führender Repräsentant der Allianz-Versicherung hat die veränderte Situation jüngst mit den Worten beschrieben, dass die Riester-Rente heute politisch nicht mehr durchsetzbar wäre.

Damit wird das Dilemma deutlich, in dem das Unternehmerlager steckt. Ihm wurde das durchschlagkräftigste Argument, der Verweis auf die Erfolge der »New Economy« und der US-Wirtschaft insgesamt, aus der Hand genommen. In dem Maße, in dem die US-Ökonomie und ihre Prinzipien in den Augen der Durchschnittsbürger an Glanz verlieren, gewinnt der »gute alte deutsche Sozialstaat« wieder an Attraktivität. Damit haben nun alle diejenigen zu kämpfen, deren Ziel die Abschaffung oder zumindest grundlegende Umgestaltung eben dieses »Sozialstaats« ist. Sie müssen vorsichtiger agieren, sollen bereits erreichte Erfolge nicht gefährdet werden.

Die veränderte Stimmungslage kam im Frühjahr und Sommer zum Ausdruck in der Bereitschaft Hunderttausender, sich an den Streiks und Warnstreiks der Gewerkschaften zu beteiligen und das selbst unter traditionell schlecht organisierten und bisher eher passiven Beschäftigungsgruppen wie den Bankangestellten. Da die Unternehmer weitere durchgreifende Schritte in die gewünschte Richtung aufgrund dieser veränderten Stimmungslage zur Zeit nur schwer ohne soziale Auseinandersetzungen durchsetzen können, richtet sich ihr Interesse auf die Konsolidierung und den schrittweisen Ausbau schon umgesetzter oder beschlossener Maßnahmen. Dies gilt u.a. für den Umbau der Bundesanstalt für Arbeit oder für die Vorschläge der Hartz-Kommission. Die Folgen eines offensiven, frontalen Vorgehens für die soziale und politische Stabilität in Deutschland sind im voraus, am grünen Tisch, nicht zu kalkulieren. Solange die herrschende Klasse sich noch nicht zu einem Frontalangriff auf die arbeitende Bevölkerung gezwungen sieht, wird sie versuchen, ihre Interessen schrittweise mit Zustimmung der Gewerkschaftsspitzen durchzusetzen. Das wird, sollte es zu keinem Widerstand gegen den Kurs der Vorstände kommen, zu einer weiteren Zersetzung der Gewerkschaften führen und die Ausgangsposition der Unternehmer in den kommenden sozialen und politischen Auseinandersetzungen stärken.

Die Chancen zum Widerstand werden nicht genutzt

Die Gewerkschaften nutzen die für sie günstige Stimmung nicht, um die Angriffe auf die Besitzstände ihrer Mitglieder und der breiten Bevölkerung abzuwehren. Von der Anfang des Jahres viel beschworenen »Ende der Bescheidenheit« ist in den diesjährigen Tarifrunden nicht viel übrig geblieben. Sieht man einmal von den Streiks in der Bauindustrie ab, »kanalisierten [die Gewerkschaftsspitzen] verbreiteten Unmut in eine Vielzahl dünner Rinnsale, die sie nicht zusammenführten « (Arpo 2/2002). Sie halten trotz der öffentlich hin und wieder geäußerten Kritik an der engen Zusammenarbeit mit der Bundesregierung und den Unternehmern fest. Typisch ist das Verhalten der Vorsitzenden der beiden größten Einzelgewerkschaften, Frank Bsirske und Klaus Zwickel. Sie hatten ihre Kritik an der rot-grünen Regierung ebenso wie der neue DGB-Chef Michael Sommer zugunsten einer direkten Wahlwerbung für die Schröder-Regierung aufgegeben. Sie setzen trotz aller negativen Erfahrungen der letzten vier Jahre auf Rot-Grün und die Zusammenarbeit mit dem Kapital.

Sucht man nach den Gründen für diese Haltung, so liefert der Wahlkampf und die enge Verbindung zwischen den Vorstandsetagen der Gewerkschaften und der SPD nur eine Teilerklärung. Auch unter der konservativen Vorgängerregierung Kohl hatten sie die Streiks gegen die Streichung der Lohnfortzahlung nicht unterstützt, sondern hintertrieben und die gewerkschaftliche Organisation allein auf den bevorstehenden Wahlkampf ausgerichtet.

In Zeiten der Stagnation und Krise, des verschärften nationalen und internationalen Konkurrenzkampfes müssen sich die Spitzen von Sozialdemokratie und Gewerkschaften beteiligen an der Demontage der materiellen und sozialen Verbesserungen, die einst unter ihrer Führung errungen oder ausgehandelt wurden. Über Bord geworfen wurden und werden zugleich jene alten politischen Überzeugungen, die nicht mehr in Einklang zu bringen sind mit der gesellschaftlichen Entwicklung. Wer sich von solchen alten Inhalten und Idealen der SPD und der Gewerkschaften nicht so schnell trennen mag, wird als Traditionalist, als Utopist oder Sozialromantiker diffamiert und politisch ins Abseits gedrängt. Tatsächlich ist eine konsequente Verteidigung der materiellen Existenzbedingungen der arbeitenden Bevölkerung unvereinbar geworden mit der Sicherung der sozialen und politischen politischen Stabilität in der bürgerlichen Gesellschaft. Der Reformismus bleibt der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verpflichtet – selbst um den Preis der Selbstaufgabe. Aus diesem Grund musste auch der Versuch der PDS, die von der Sozialdemokratie geräumten politischen Positionen zu besetzen, scheitern noch ehe er richtig begonnen hatte. Auch bei der PDS fielen die Wahlaussagen und das Gerede von sozialer Gerechtigkeit der Regierungsbeteiligung zum Opfer.

Seit über einem Jahrzehnt haben die Gewerkschaften in einem langsamen, quälenden Prozess eine Errungenschaft nach der anderen preisgegeben. Sie trugen die Privatisierungen u.a. bei der Bundesbahn, der Post oder im Gesundheitswesen mit, in der vergeblichen Hoffnung, per Tarifvertrag deren Auswirkungen auf die Beschäftigten abfedern zu können. Ein Heer von Tarifexperten und Sekretären, von besoldeten »Gewerkschaftsbeamten« wurde damit beschäftigt – der Erfolg blieb mäßig und vorübergehend; er verschaffte den KollegInnen höchstens eine Atempause vor den nächsten Eingriffen. Der Einstieg in die Privatisierung der Rentenversicherung wurde von den gewerkschaftlichen Vorstandsetagen gebilligt. Unter Zustimmung von Vorständen und Tarifkommissionen wurde begonnen, den Flächentarifvertrag zu durchlöchern, u.a. durch betriebliche Öffnungsklauseln (zum Beispiel bei der IG Metall), durch Tarifierung von Einstiegslöhnen bei Neueinstellungen unter dem bisher geltenden Tarif (zum Beispiel bei der Post und der IG Chemie). Gleicher Lohn für gleiche Arbeit – ein Relikt aus der Geschichte der bundesdeutschen Gewerkschaftsbewegung. So leisten die Gewerkschaften selbst, in dem sie die politischen Entscheidungen dem Staat, den Parlamenten und der Regierung überlassen und sich in der Praxis auf die Tarifpolitik beschränken, der Durchlöcherung und Aufweichung des Flächentarifvertrages Vorschub.

Von Zeit zu Zeit sehen sich die gewerkschaftlichen Apparate gezwungen, die Kolleginnen und Kollegen zur Streiks und Aktionen aufzurufen, weil sie von der Stimmung an der Basis dazu gedrängt werden oder um der Mitgliedschaft die eigene Existenzberechtigung unter Beweis zu stellen. Aber auch, wenn sie von der Unternehmerseite in eine Auseinandersetzung getrieben werden, so versuchen sie den Konflikt im Rahmen der bisher praktizierten Tarifpolitik auszutragen. Dabei sitzen die Unternehmer immer am längeren Hebel, denn mit den Mitteln und Methoden des reinen Tarifkampfes lassen sich die Folgen der gesellschaftlichen Entwicklung, die Aushöhlung bestehender Vereinbarungen, der Abbau von Arbeitsplätzen, der verstärkte Druck auf Arbeits- und Lebensbedingungen, nicht aufhalten. Für den Zustand innerhalb der Gewerkschaften hat dies einschneidende Auswirkungen. In der breiten Masse der Mitgliedschaft, die ja die Vertretung ihrer Interessen an die Vorstände delegiert hat, nahm und nimmt die Unzufriedenheit zu; sie stimmen mit den Füßen ab und verlassen die Organisation. Sinkende Finanzkraft und damit sinkende Kampfkraft – das wird von den gewerkschaftlichen Vorständen ja gleichgesetzt – sind die Folge. Unter den schon kleinen Kreisen gewerkschaftlich Aktiver wächst die Resignation und Passivität.

Die politische Schwäche der Gewerkschaften kam in der Tarifrunde 2002 deutlich zum Ausdruck. Dem Druck der Basis nachgebend (in den Betrieben wurden Forderungen nach bis zu zehn Prozent verlangt), traten die beiden großen Gewerkschaften IG Metall und ver.di (hier: Druckindustrie, Papierverarbeitung, Telekom, Post, Versicherungen, Banken, Einzel- sowie Großhandel) mit der Forderungen nach einer Lohnerhöhung von 6,5 Prozent an. Das »Ende der Bescheidenheit« sollte notfalls mit Streikaktionen durchgesetzt werden. Die praktischen Aktivitäten aber wurden zwischen den Gewerkschaften und auch zwischen den einzelnen Tarifbereichen bei ver.di nicht koordiniert. Auf eine gemeinsame inhaltliche sowie zeitliche und somit politische Absprache verzichteten die beteiligten Vorstände. Sie führten die Auseinandersetzung als voneinander isolierte Tarifverhandlungen in dem Bestreben, sie nicht aus dem Ruder laufen zu lassen, um die Kontrolle über die Aktivitäten der Basis nicht zu verlieren. Länger andauernde und durchschlagende Streikaktionen hätten die Gefahr heraufbeschworen, in eine politische Auseinandersetzung mit dem Unternehmerlager und der Bundesregierung gezogen zu werden.

Am Verhandlungstisch kamen die bekannten mageren Ergebnisse heraus. Proteste der Basis blieben vereinzelt, die Tarifergebnisse wurden überwiegend, wenn auch manchmal zähneknirschend akzeptiert. Die schwache, linke innergewerkschaftliche Opposition vermochte zwar bei der Aufstellung der Forderung Druck auszuüben; den Verlauf der Arbeitskämpfe aber konnte sie über die einzelnen Betriebe und Gewerkschaften hinaus nicht beeinflussen. Besonders auffällig wurde dies in der neu gegründeten Kartellgewerkschaft ver.di, die ja angetreten war mit dem Anspruch, diese Schwäche zu überwinden. Wichtiger als dies aber ist den Führungen unter Bsirske, Zwickel, Schmoldt, Sommer das Einvernehmen mit Kapital und Sozialdemokratie. Der Stimmung in der Mitgliedschaft öffnen sie deshalb nicht mehr als ein Ventil zum Dampfablassen, um die Verhältnisse unter Kontrolle zu behalten. Gegenwärtig haben sie dabei nicht mehr zu fürchten als massenhafte Austritte, welche die Organisationen – damit auch die Führungsposten – gefährden (insbesondere in ver.di ist diese Angst im hauptamtlichen Apparat verbreitet, denn schließlich waren sinkende Beitragseinnahmen der entscheidende Antrieb der ver.di-Gründung). Die »Abstimmung mit den Füßen« geschieht jedoch fast durchweg individuell. Sie hat keine politischen und organisatorischen Konsequenzen und bietet deshalb denjenigen Mitgliedern, die trotzdem noch an Gewerkschaften festhalten, keine Perspektive zur Durchsetzung inhaltlicher Kursänderungen. Diese Pattsituation zwischen einer in weiten Teilen unzufriedenen, aber grundsätzlich passiven Mitgliedschaft und einer perspektivlos fortwurstelnden Führung ist instabil, ohne dass aus dieser Feststellung ein Zeitpunkt und/oder eine Richtung ihrer Veränderung abzuleiten wäre.

Die gewerkschaftlichen Apparate sind aus politischen Gründen nicht bereit, den Stimmungen unter den abhängig Beschäftigten eine gemeinsame Stoßrichtung zu geben und diese für die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen zu nutzen. So schwach unsere Kräfte auch sind, es gibt keine politische Kraft die uns diese Aufgabe – einer klassenkämpferischen sozialistischen Opposition in den Gewerkschaften – abnehmen könnte. In vielen Orten gibt es kleine Gruppen von gewerkschaftlich und politisch interessierten Männern und Frauen, die aktuelle Anlässe, wie seinerzeit die Riester- Rente und nun die Umsetzung der Hartz-Pläne, zum Anlass nehmen, um Diskussionen und Aktionen innerhalb und außerhalb des gewerkschaftlichen Rahmens zu organisieren. Diese Arbeit ist unter den gegebenen politischen Rahmenbedingungen durchaus möglich.

Zu einer wichtigen Angelegenheit wird dabei in den kommenden Monaten der Vorschlag der Hartz-Kommission. Die Gewerkschaftsvorstände haben mit ihrer Zustimmung zu den Plänen grünes Licht gegeben für den Umbau und die Privatisierung der Bundesanstalt für Arbeit: Aus einer Einrichtung zur sozialen Absicherung soll endgültig ein Instrument zur weiteren Ausdehnung des Niedriglohnsektors werden. Leiharbeit zu Billiglöhnen durch die Personal-Service-Agenturen wird zwangsläufig zu einer weiteren Aufweichung der noch bestehenden Flächentarife führen und die betrieblichen Abwehrmöglichkeiten durch Zeit- und Leiharbeit erschweren. Können sich auf diesem Felde Unternehmer und Bundesregierung mit Hilfe der Gewerkschaftsvorstände durchsetzen, werden weitere Angriffe zwangsläufig folgen. Die Pläne für weitere Einschnitte bei der Bundesanstalt für Arbeit liegen schon in der Schublade und die Bundesregierung hat deutlich gemacht, dass sie die gesetzliche und tarifliche Konkretisierung der Hartz-Pläne notfalls auch ohne oder gegen die Gewerkschaften durchsetzen will. Die Grundsatzforderungen nach einer allgemeinen Absenkung der Arbeitslosenunterstützung und nach einer grundsätzlichen Neugestaltung, sprich Abschaffung, des Flächentarifvertrages haben die Unternehmerverbände nur aufgeschoben.        

Editorische Anmerkungen

Der Text erschien am  20.11.2002 in der Zeitschrift "Arbeiterpolitik" und ist eine Spiegelung von http://www.arbeiterpolitik.de/aktuelles/aktuelles.htm