Muslime als Fremde im Dorf
"Islam auf dem Lande - Europäische Erfahrungen"


von Anja Schwier

01/04 
    
trend onlinezeitung

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Das Thema des interkulturellen Zusammenlebens in Dörfern wird - außer in Großbritannien, wo Antidiskriminierungsarbeit ganz andere Strukturen hat - in den europäischen Ländern kaum oder gar nicht wahrgenommen. Daran hat sich seit dem Beginn des Projektes "Fremdsein im Dorf - Interkulturelle Arbeit auf dem Lande" vor nun schon vier Jahren kaum etwas geändert.

Doch gerade in den vergangenen Jahren sind in den ländlichen Regionen viele Entwicklungen vorangegangen, die die Arbeit an diesem Thema wichtiger machen.
Die Auswirkungen der Globalisierung scheinen in Europa vor allem in den Dörfern für Bewegung zu sorgen. Der Konflikt zwischen grenzenlosem wirtschaftlichem Fortschritt und dem Kampf um wirtschaftliches Überleben wird in der dörflichen Lebenswelt zur Auseinandersetzung um die Öffnung in die ganze Welt und der Suche nach kultureller Identität in einer homogenen, überschaubaren Gemeinschaft.
In diesem Spannungsfeld von Öffnung und Abgrenzung leben viele Dörfer und suchen dabei ihren Weg beim interkulturellen Zusammenleben.

Was sind ländliche Regionen?

Als ich mit dem Projekt begann, haben wir als Definition für ein Dorf die Größe von 8.000 Einwohnenden festgelegt. Das ist eine willkürliche Größe, denn es gibt Kommunen, die zu ländlichen Orten zu zählen sind, obwohl sie eine größere Einwohnerzahl haben, da sie aus drei oder vier kleinen Gemeinden bestehen, die durch Gemeindereformen zusammengelegt wurden. Es gibt neuere Ansätze in der Wissenschaft, die sagen, dass es in Westdeutschland kaum noch ländliche Regionen gibt, da überall städtische Strukturen zu finden sind. Nach dieser Definition bleiben nur begrenzte Regionen in Schleswig- Holstein und Niedersachsen, die als ländliche Räume gelten können.
Es ist schwierig, genau zu definieren, was ein Dorf ist. Groß ist die Vielfalt und Unterschiedlichkeit zwischen Dörfern in der alten Bundesrepublik und dem Gebiet der ehemaligen DDR, aber bei einem europäischen Vergleich wird es ungleich komplizierter.
Für die Arbeit am Projekt "Fremdsein im Dorf" war es reizvoll, die Definition eines Dorfes möglichst weit zu fassen, um diese Vielfalt der europäischen Dörfer nicht einzuschränken.

Was ist ländlicher Rassismus?

Bei der Beschäftigung mit dem interkulturellen Zusammenleben in Dörfern stößt man auf viele positive Ansätze engagierter Menschen, aber auch auf rassistische Vorurteile und Einstellungen, die ich unter dem Begriff "Ländlicher Rassismus" zusammenfassen möchte.
Ländlicher Rassismus ist keine Sonderform des Rassismus oder ein Phänomen, das nicht unter dem allgemeinen Begriff des Rassismus zu fassen wäre.
Ich habe diesen Begriff gewählt, um hervorzuheben, dass auf dem Lande rassistische Einstellungen verbreitet sind und diese bei der Bekämpfung von Rassismus mitbedacht werden müssen. Maßnahmen, Kampagnen und Strategien zum Abbau von Rassismus dürfen nicht allein auf Großstädte und Ballungsgebiete ausgerichtet sein.
Ländlicher Rassismus ist kein Indiz für die wirtschaftliche Lage eines Ortes. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit finden sich sowohl in Kommunen, die wirtschaftlich florieren, als auch in Dörfern, die von hoher Arbeitslosigkeit betroffen sind. Beide Erscheinungen gibt es nicht nur in Orten nahe den Großstädten und Ballungsgebieten mit hohem Migrantenanteil, sondern ebenso in Dörfern mit wenig oder sogar ohne Zuwanderung. In Dörfern, die kaum oder gar keine Erfahrung mit Zuwanderung haben, halten sich Vorurteile meist hartnäckiger als in Orten, die seit vielen Jahren gelernt haben, mit Migrantinnen und Migranten zu leben.

Entwicklungen in Dörfern

Um die ländlichen Regionen ist es leiser geworden. Während noch vor einigen Jahren in den bundesweit erscheinenden Zeitungen kontinuierlich Artikel über Auseinandersetzungen beim interkulturellen Zusammenleben in Dörfern und Kleinstädten erschienen, finden sich heute in diesen Medien deutlich weniger Berichte. Ausschreitungen zwischen Migranten- und einheimischen Jugendlichen wie Konflikte um Moscheebauten sind trotz des 11. September 2001 häufig nur noch in den Schlagzeilen der Lokalzeitungen zu finden.

Auch wenn allgemein von einer Zunahme rassistischer und fremdenfeindlicher Einstellungen ausgegangen wird, gibt es auch immer wieder Phasen, in denen diese Einstellungen weniger zum Tragen kommen. In Deutschland gab es eine öffentliche Diskussion über Zuwanderung, die, auch wenn sie in weiten Teilen eine Fachdiskussion war, die Stimmung gegenüber Zugewanderten für einen begrenzten Zeitraum positiv veränderte.

Zuwanderung stärkt das soziale System

Ausgelöst durch die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 1999 und durch den Greencard-Vorschlag des Bundeskanzlers im März 2000, den Wirtschaft und Arbeitgeberverbände unterstützten, wurde Zuwanderung neu diskutiert. Es wurde eine Unabhängige Kommission "Zuwanderung" eingerichtet, in der parteiübergreifend Personen aus den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zusammenarbeiteten. Im Sommer 2001 wurde der Bericht dieser Kommission "Zuwanderung gestalten - Integration fördern" mit dem Tenor: "Deutschland braucht Zuwanderung" veröffentlicht.
Dieses hat zu einer veränderten Wahrnehmung von Zugewanderten geführt. Es begann die Einsicht zu wachsen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Die deutsche Bevölkerung begann zu sehen, dass Zugewanderte zum Erhalt unseres Sozialsystems und unseres Wohlstands notwendig sind.

Demographische Entwicklung

Zeitgleich stand die demographische Entwicklung Deutschlands für einige Wochen im Interesse der Medien. Nach meiner Wahrnehmung setzte insbesondere in den Dörfern ein Erschrecken über die Überalterung der deutschen Gesellschaft ein. Menschen auf dem Lande nahmen bewusst wahr, welche langfristigen Auswirkungen die Landflucht und die demographische Kurve für ihren Alltag haben wird. In Fernsehreportagen tauchten Bilder von Dörfern auf, in denen ganze Ortsteile leer stehen und Häuser verfallen, weil junge Menschen aus Dörfern abwandern. Schulen in ländlichen Regionen haben keine Schülerinnen und Schüler mehr, weil die Geburtenrate immer weiter zurückgeht. Kleinstädte weisen immer mehr Straßenzüge auf, die nur noch von über-70-Jährigen bewohnt sind. Die Überalterung der Gesellschaft durch Zuwanderung zu stoppen, das schien einleuchtend zu sein, gerade auf dem Lande.

Doch dieser beginnende Stimmungswandel blieb oberflächlich. Einerseits wurde kaum deutlich, dass es sich bei Zuwanderung um Zuwandernde aus anderen Kulturen handelt und dass es Konsequenzen für das dörfliche Leben geben würde. Der Blick dieser Debatte blieb auf den eigenen Tellerrand beschränkt. Dazu kam, dass die Arbeitslosenzahlen nicht wie von der Regierung nach den Wahlen versprochen auf 3,5 Millionen sanken, sondern durch den Anstieg auf über 4 Millionen in der Bevölkerung eine Ablehnung von Zuwanderung wieder verstärkte. Die Angst vor Wohlstandsverlust hat Einstellungen gegen Einwandernde sehr schnell wieder verstärkt.
Die positiven Entwicklungen sind dann mit den Türmen des World Trade Centers vollständig in sich zusammengebrochen.

Die Überwindung von fremdenfeindlichen Einstellungen und Rassismus braucht viel Zeit, besonders in ländlichen Regionen, die nicht so schnelllebig sind wie die Metropolen. Xenophobie und Vorurteile in der Bevölkerung lassen sich schnell wieder beleben. Deshalb müssen langfristige Modelle und Konzepte entwickelt werden, von denen die Vielfältigkeit der Dörfer berücksichtigt wird. Die an vielen Orten herrschende Angst, nicht mit den gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt halten zu können, muss berücksichtigt werden.
Gerade für den ländlichen Raum hat sich gezeigt, dass zur Überwindung solcher Denkmuster Kontakte zwischen Einheimischen und Zugewanderten lange versäumt wurden. Besonders zu beachten sind Orte, in denen Alltagserfahrungen mit ausländischen Nachbarn nicht möglich sind.

"Fremdenfeindlichkeit ohne Fremde" - Problemfeld ohne Lösung?

Es gibt Problemfelder bei der interkulturellen Arbeit in Dörfern, die bislang ohne Lösung sind. Die sogenannte "Fremdenfeindlichkeit ohne Fremde" gehört dazu.
Manche Orte sind so klein oder für Zuwandernde so unattraktiv, dass dort die einheimische Bevölkerung unter sich bleibt. Häufig können hier rassistische Vorurteile oder fremdenfeindliche Einstellungen nicht durchbrochen werden. Denn es hat sich gezeigt: Wo keine persönlichen Erfahrungen mit Menschen aus anderen Kulturen vorliegen, lassen sich Vorurteile nur sehr schwer abbauen. Ein Problem, das ganz besonders in den neuen Bundesländern auftritt, in denen der Anteil der Ausländer bei unter 2% der Gesamtbevölkerung liegt. Die Erfahrung, dass aus Zugewanderten geschätzte Nachbarinnen und Nachbarn werden, ist für den Abbau von Rassismus und die Überwindung fremdenfeindlicher Einstellungen unverzichtbar. Nachbarschaftliche Begegnungen und Alltagskontakte sind für interkulturelles Zusammenleben in Dörfern notwendig. Gemeinsames Arbeiten und gemeinsames Feiern sind ebenso notwendig für eine gelingende Integration in die dörfliche Lebenswelt. Ist dies aufgrund fehlender Zuwanderung nicht möglich, können kaum Veränderungen erreicht werden.

Autoritäten in Dörfern

Wie groß das Gewicht von einzelnen Persönlichkeiten beim interkulturellen Zusammenleben ist, zeigt sich bei Dorfanalysen immer wieder. Gerade die Einstellungen von Bürgermeistern, Pfarrerinnen und Pfarrern oder Ortspersönlichkeiten spielen bei einem offenen Zugang auf Zuwandernde eine wichtige Rolle. Auch das folgende Beispiel zeigt eindrücklich, wie sozial anerkannte Ortspersönlichkeiten die Stimmung eines Ortes bestimmen können.

Der Ort Ehringshausen in Hessen ist im vergangenen Jahr durch eine Fernsehreportage mit dem Titel "Braune Mitte Deutschlands" zu trauriger Berühmtheit gelangt. In Ehringshausen hat die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) bei der vorletzten Kommunalwahl über 22 % der Stimmen geholt. Wie konnte das geschehen?

In Ehringshausen gibt es das Ehepaar Zutt. Es ist im Ort angesehen und bekannt. Die Zutts sind Menschen, die immer wieder zu Gesprächen bereit sind, alle im Ort kennen und bei ihren Begegnungen mit den Einwohnern gerne auch deren Sorgen und Nöte aufgreifen.
Zwar hatten sie schon immer eine "rechte" Einstellung, die aber nicht so erst genommen wurde. Doch irgendwann traten die Zutts in die NPD ein. Nun entwickelte sich folgendes: Es begann eine Art Kooperation, von der beide Seiten profitierten. Die NPD kann mit diesem Ehepaar eine kleine Zentrale in Mittelhessen aufbauen, und die Familie Zutt erfährt durch die Partei eine Aufwertung ihrer Überzeugungen und gewinnt an Einfluss. Als ehrenwerte Bürger gelang es ihnen, für die NPD bei der Kommunalwahl 22 % der Stimmen zu erreichen.

Diese Quote von 22 % geht nicht allein auf sozial unzufriedene Protestwähler zurück, denn Ehringshausen ist im Kreis die zweitfinanzstärkste Gemeinde. Es gibt ausreichend Arbeitsplätze am Ort, zur Zeit sogar mehr Einpendler als Auspendler. Es sind unter den 22% auch Wählerinnen und Wähler gewesen, die sich erst getraut haben die NPD zu wählen, als sich Personen mit hohem "sozialem Image" im Ort - die Familie Zutt - offen zu der rechtsextremen Partei bekannten und für sie kandidierten.

Die Gemeinde hat sich nach Kräften bemüht, diesen Einstellungen entgegen zu treten. Die Parteien Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), die Christlich Demokratische Union (CDU) und die Freie Wähler Gemeinschaft (FWG) sind geschlossen bei Veranstaltungen und auch in ihrer Arbeit im Stadtrat gegen diese Gruppierung vorgegangen. Durch die Einbeziehung von Gewerkschaften gelang es, Michel Friedman vom Zentralrat der Juden in Deutschland für eine Veranstaltung zu gewinnen und Lichterketten oder Musikkonzerte "Rock gegen Rechts" durchzuführen. Diese Einzelaktionen wurden begleitet durch die Bereitstellung von 2.500 € im Haushalt für "Förderung der Demokratie", um Aktionen oder Projekte an Schulen zu finanzieren.

Durch diese Bemühungen ist es auch gelungen, bei der letzten Kommunalwahl den Anteil der NPD wieder auf 7,1 % zu reduzieren. Diese 7,1 % bezeichnet der Bürgermeister Eberhardt Niebch als den harten Kern derer, die durchaus fremdenfeindliche Überzeugungen haben. "Diesen 7,1% müssen wir mit langfristigen Maßnahmen begegnen. Die Reduktion von 22% auf 7,1% war leicht im Vergleich zu der Arbeit, die jetzt noch vor uns liegt."

Ich habe dieses Beispiel hier aufgenommen, da es zeigt, wie Dorfautoritäten auch von außen genutzt bzw. benutzt werden können. In Ehringshausen wird sich dieses Problem vielleicht in diesem Jahr von selbst lösen, da die Familie Zutt in die neuen Bundesländer umsiedelt. Auch wird die NPD zukünftig eher eine geringere Rolle spielen. Jedoch können andere Parteien wie die Deutsche Volksunion (DVU) oder die Republikaner ähnlich agieren.

Islam auf dem Lande

In den vergangenen Jahren haben sich die fremdenfeindlichen Einstellungen immer stärker mit islamfeindlichen Überzeugungen vermischt. Manchmal scheint es, als sei in den Dörfern Fremdenfeindlichkeit mit Islamfeindlichkeit gleichzusetzen. Muslime sind zum Synonym für Ausländer geworden und die Ansicht, dass die islamische Kultur mit der deutschen oder westeuropäischen nicht vereinbar ist, ist weit verbreitet. Im Verlauf des Projektes "Fremdsein im Dorf - interkulturelle Arbeit auf dem Lande" wurde immer deutlicher, dass das Thema des Zusammenlebens mit Menschen muslimischer Tradition für viele Dörfer ein großes Konfliktpotenzial darstellt. Inzwischen lässt sich sagen: Das Zusammenleben mit Menschen muslimischen Glaubens ist zu der Herausforderung im ländlichen Raum geworden. Nach dem 11. September 2001 hat sich diese Situation weiter verschärft.

Muslime in Dörfern

Menschen muslimischen Glaubens leben aus unterschiedlichen Motiven in Dörfern. In Westdeutschland lassen sich vor allem zwei große Gruppen ausmachen, die gleichzeitig über wenig soziale Anerkennung verfügen.

Eine große Gruppe sind Asylsuchende und Flüchtlinge. Diese Gruppe spielte vor allem Ende der 80er Jahre und Anfang der 90er Jahre, als in Deutschland die Asylbewerberzahlen sehr hoch waren, eine große Rolle. Sie wurden in ehemaligen Hotels, leerstehenden Kasernen oder anderen, meist baufälligen Häusern untergebracht, die für die eingesessene Bevölkerung mit einem Makel behaftet waren. Diese Unterbringung stempelte Asylsuchende oft als Menschen zweiter Klasse ab und trug dazu bei, dass sie in der dörflichen Gesellschaft kein Ansehen fanden.
Hinzu kam in vielen Dörfern die Angst vor einer "muslimischen Übermacht", wenn die Zahlen der im Ort untergebrachten Asylbewerber im Vergleich zu der Wohnbevölkerung sehr hoch war. Waren die Asylsuchenden in der Mehrzahl Männer, dann kursierten in vielen Orten Gerüchte über mögliche Vergewaltigungen einheimischer Mädchen und Frauen.
Dieses Thema war sehr emotionalisiert. In vielen Orten entstanden Bürgerbewegungen gegen die Unterbringung von Asylsuchenden und Flüchtlingen, die bis heute manche Dörfer spalten. Von den Asylsuchenden sind viele nach ihrer Anerkennung aus den ländlichen Regionen weggezogen. Nur wenige haben es geschafft, sich zu integrieren und einen angesehenen Platz im dörflichen Leben zu erhalten.
Ein anderes Verhalten zeigte sich in Dörfern gegenüber bosnischen Flüchtlingen. Obwohl sie auch muslimische Menschen sind, gab es gegenüber ihnen vor allem in Dörfern eine große Hilfsbereitschaft. Das hatte einerseits mit der Berichterstattung in den Medien über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien zu tun. Andererseits wurden die bosnischen Flüchtlinge als sehr westlich geprägte Menschen wahrgenommen, die durch ihr Aussehen kaum als Fremde auffielen. Dadurch war besonders in den Dörfern die Hemmschwelle, auf diese Menschen zuzugehen, sehr viel geringer als bei muslimischen Flüchtlingen und Asylsuchenden aus anderen Ländern.

Türkinnen und Türken gehören zur größten Gruppe von Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland. Das gesellschaftliche Ansehen von ihnen ist relativ gering. Nach den Anwerbeabkommen waren sie die letzte Gruppe der sogenannten Gastarbeiter, die in die Bundesrepublik kamen. Sie wurden dadurch oft in die unterste Gruppe der Migranten eingestuft. Ihre Zugehörigkeit zu einer anderen Religion ließ sie als besonders fremd erscheinen. Ihre Rituale und Traditionen wurden wenig verstanden.
Aktuell spiegelt die Medienberichterstattung über das islamische Schächten die Vorbehalte gegen diese Zuwanderungsgruppe wider. Auch hier wird die notwendige Debatte sehr emotional geführt. Muslime werden dabei als Mörder bezeichnet, die "durch einen Schnitt in die Kehle" ein Tier töten, was einen Vergleich zu blutrünstigen Gewalttätern nahelegt.

Türkische Arbeitnerhmerinnen und Arbeitnehmer sind immer häufiger in Dörfer gezogen. Waren sie zunächst in den Städten zu finden, wo die Industrien und damit die Arbeitsplätze waren, siedelten sich im Laufe der Zeit türkische Menschen auch in den ländlichen Regionen an, weil der Wohnraum billiger war oder sich dort die ländliche Lebensweise ihrer Heimatregionen eher verwirklichen ließ.
Diese Gruppe wird spätestens seit Mitte der 90er Jahre immer stärker als Bedrohung angesehen. Nachdem für viele türkische Migrantinnen und Migranten deutlich wurde, dass sie nicht in ihre Heimat zurückkehren und die zweite und dritte Generation der türkeistämmigen Zugewanderten in Deutschland bleiben will, wird auch ihr kulturelles Leben stärker gepflegt. Wurden Moscheen und Kulturzentren zunächst in Hinterhäusern oder leerstehenden Gewerberäumen eingerichtet, entwickelten sich nun Bestrebungen, neue Moscheen zu bauen oder große Räume für religiöse Zwecke zu kaufen. Auch hier bildeten sich in vielen Orten Bürgerinitiativen gegen Moscheebauten. Wieder wird die notwendige öffentliche Debatte über interkulturelles Zusammenleben sehr emotional geführt und nicht selten werden Gerichte bemüht.

Natürlich gibt es in deutschen Dörfern auch Muslime, die aus anderen Gründen eingewandert sind oder eine andere Nationalität als die türkische aufweisen. Sie werden jedoch selten in ihrer Identität wahrgenommen und den türkischen Gruppierungen zugerechnet.
Ausnahmen bestätigen hierbei die Regel. Wenn es sich beispielsweise um eine Gruppe und nicht mehr nur um einzelne Familien handelt, die in einem Dorf zugewandert sind, so gibt es durchaus Aussagen von Einheimischen wie: "Das sind unsere Marokkaner!"

Den Islam gibt es nicht

In der Regel wird in Deutschland immer über den Islam gesprochen. Nach ihrem Bild von Muslimen befragt, nennen Einheimische ihre türkischen Nachbarn. Auch nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ist eine Differenzierung hinsichtlich der verschiedenen islamischen Gruppen nur ansatzweise erreicht.
Vor allem die Angst vor den sogenannten fundamentalistischen Gruppen ist gewachsen. In Diskussionen werden häufig Pauschalierungen vorgenommen, die alle Muslime zu religiösen Fanatikern abstempeln. Natürlich gibt es auch in Deutschland Bewegungen des politischen Islam wie zum Beispiel die Vereinigung Milli Görüs, die für die Einrichtung eines Islamischen Staates eintritt. Eine Mehrzahl von Migrantinnen und Migranten aus muslimischen Ländern leben die vom Islam geprägten, traditionellen Lebensformen ab und befürworten ein säkulares Leben.

Es wäre jetzt an der Zeit, die Vielfältigkeit des muslimischen Lebens in Deutschland, die sehr unterschiedlichen Richtungen des Islam und die unterschiedlichen Lebensformen zugewanderter Menschen aus muslimischen Ländern wahrzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen. Gerade in den ländlichen Gemeinden, in denen häufig keine Experten zur Verfügung stehen, geraten Muslime schnell unter einen Generalverdacht. Dann fällt es leicht, mit den Ängsten vor einer Dorfübernahme durch Islamisten, den Bau von Moscheen zu verhindern.

Es fehlen muslimische Intellektuelle

Ebenfalls zeigt sich bei Konflikten in ländlichen Gemeinden, dass muslimische Intellektuelle fehlen, die sich sowohl in den deutschen Strukturen auskennen als auch die notwendigen Kommunikationsfähigkeiten besitzen, die berechtigten Anliegen muslimischer Gläubiger einzubringen.
Kommt es beispielsweise zu einem Konflikt wie in Schlüchtern oder auch in Wächtersbach (Beispiele hierzu finden sich auf den Seiten XX), ist es schwierig, wenn nur Expertinnen und Experten von außen hinzugezogen werden und nicht die unmittelbar Betroffenen selbst in adäquater Weise Stellung nehmen können.
Die Sprachbarrieren führen zu einem Ungleichgewicht in den öffentlichen Debatten über Einrichtungen von Kulturzentren oder den Bau von Moscheen. Nicht selten wird diese sprachliche Ungleichheit von den Einheimischen genutzt, um Bauvorhaben zu verhindern. Auch haben Einheimische durch größere Kenntnisse des Baurechts und der rechtlichen Vorschriften mehr Möglichkeiten, unliebsame Forderungen von Zugewanderten zu blockieren oder zu verhindern.
So erfolgt meist schnell eine Eskalation des Konflikts, und das interreligiöse Zusammenleben ist für Jahrzehnte gestört. Es ist zu hoffen, dass sich muslimische Intellektuelle auch in den ländlichen Regionen verstärkt ansiedeln. Diese haben zum einen die kommunikativen Fähigkeiten, den berechtigten Forderungen muslimischer Gläubiger Ausdruck zu verleihen. Zum anderen sind sie in Deutschland aufgewachsen und verfügen deshalb über hinreichende Kenntnisse der hiesigen Vorschriften und Gesetze und können so das Ungleichgewicht aufheben.

Moscheen bitte nur im Gewerbegebiet

In manchen Orten und Kleinstädten wissen die Einwohner nicht, ob es eine Moschee oder ein islamisches Kulturzentrum gibt. Wer sieht schon einem alten Haus, einem ehemaligen Lagergebäude oder einer ausgedienten Schule an, dass sich im Inneren eine muslimische Glaubensstätte verbirgt. In der Regel gibt es um solche Glaubensstätten keine Konflikte. Wenn jedoch diese Gebäude zu klein werden und Muslime eine Moschee errichten wollen, die auch von außen als Gebetsstätte erkennbar ist, dann regt sich Widerstand.
Es gibt kaum ein Dorf oder eine Kleinstadt, die einem solchen Vorhaben gegenüber positiv eingestellt ist und eine Moschee als eine architektonische Bereicherung des Ortsbildes ansieht.
Selbst in Orten in denen es wenig Konflikte bei der Realisierung eines Bauvorhabens gibt, bleibt für eine Moschee meist nur das Gewerbegebiet.
Auch in Mörfelden-Walldorf in der Nähe des Frankfurter Flughafens ist das so. Zwischen Aldi, Getränkemarkt und sonstigen Gewerbebetrieben steht die architektonisch ansprechen-de Moschee mit stummem Minarett. Die Schönheit des Baus bleibt für die meisten jedoch unsichtbar, denn wer verirrt sich schon hierher, der nicht unbedingt in der Gegend etwas zu erledigen hat? In dem Gewirr der kleinen Straßen des Gewerbegebiets ist sie gar nicht so leicht zu entdecken, trotz des Turms, der nicht zu hoch sein durfte, damit der Turm der christlichen Kirche am Ort nicht überragt wird.

Es ist an der Zeit, dass auch in ländlichen Regionen der Islam als Geschwisterreligion des Christentums anerkannt wird und muslimische Gebetsstätten auch einen dementsprechenden Ort in den Gemeinden erhalten. Argumente, wie "Eine Moschee verschandelt das Ortsbild" sollten angesichts der vielen sehr schönen Moscheen in Deutschland der Vergangenheit angehören.

Wie umgehen mit negativen Erfahrungen?

Ein Pfarrer aus dem Dekanat Biedenkopf in Mittelhessen erzählte mir: "Es ist ja alles ganz gut gemeint mit dem interkulturellen Zusammenleben, aber in Biedenkopf können Sie das vergessen. Die Migranten, die hier leben, sind so konservativ und auf sich bezogen, mit denen will ich nichts zu tun haben. Interreligiöse Veranstaltungen mit dem Moscheeverein sind nicht möglich. Außerdem hat hier eine Familie alles verdorben. Diese türkische Familie lebt von Sozialhilfe, die Kinder, sieben Stück, sind bereits alle kriminell und fallen immer wieder durch kleinere und größere Delikte auf. Die haben bei den Einheimischen jegliche Bereitschaft zur Begegnung zunichte gemacht. Da kann ich niemanden motivieren, interkulturelle Arbeit zu machen."

Das ist keine ungewöhnliche Situation. In Dörfern werden Zugewanderte aufgrund der hohen Sozialkontrolle ständig beobachtet. Zugewanderte mit negativem Verhalten bewirken dabei schnell ein Aus für die interkulturelle Arbeit. Haben sich schlechte Erfahrungen mit Zugewanderten einmal herumgesprochen, können sie nur schwer korrigiert werden. Es ist fast aussichtslos, dann noch sinnvolle interkulturelle Arbeit zu machen und zu einen Miteinander im Zusammenleben zu kommen.
In der Regel sind neue Konstellationen erforderlich, das heißt, es müssen neue Akteure auftreten. Andere Personen, die durch ihre Persönlichkeit die schlechten Erfahrungen durchbrechen können.

Kopftuch

In Deutschland wird das Tragen des Kopftuchs immer mehr als Provokation empfunden. Es gibt immer mehr Gerichtsurteile gegen das Tragen des Kopftuchs bei der Berufsausübung. Schwesternschülerinnen im Klinikum in Frankfurt am Main wurden nicht übernommen, weil sie Kopftuch trugen. Spektakulär war der Fall Ludin: Eine Referendarin, die in Baden-Württemberg nicht in den Schuldienst übernommen wurde, weil sie das Kopftuch tragen wollte. Mittlerweile gibt es auch in den ländlichen Regionen Gerichtsurteile, die den Verkäuferinnen das Tragen des Kopftuches verbieten.

Schockiert war ich, als ich zu einem Projekttag an ein Oberstufen-Gymnasium in Alzey eingeladen war. Es war zufällig der Tag, an dem das Mannheimer Gericht sein Urteil über den Fall von Frau Ludin veröffentlichen wollte. Als ich bei den durchaus motivierten Schülerinnen und Schülern die Frage stellte, ob sie für oder gegen das Tragen des Kopftuches bei Lehrerinnen seinen, schlugen mir alle Vorurteile über den Islam in massiver Weise entgegen. Der Islam als unterdrückerische Religion, der die Emanzipation der Frau verhindert und das Kopftuch als Ausdruck des Fundamentalismus.

In Friedberg, einer Kreisstadt nahe Frankfurt am Main, wurde eine kopftuchtragende Schülerin vom Rektor der Gesamtschule von der Schule verwiesen. Die Begründung: Das Kopftuch trage zum Unfrieden in der Schule bei.
Zwar konnte die Schülerin nach Vermittlung durch das Schulamt zum Unterricht zurückkehren und der Rektor musste das Schulverbot zurücknehmen. Von seiner Überzeugung, dass das Kopftuch Unfrieden stifte, ist er jedoch nicht zurückgetreten.

Zur Zeit ist noch folgender Fall in den Medien: In Biedenkopf, einer Kreisstadt in Mittelhessen, ereignete sich im vergangenen November folgendes: Zeynep Karabalci, eine 19-jährige Türkin, wollte mit ihrer Freundin im Restaurant des Bürgerhauses eine heiße Schokolade trinken. Noch in Hörweite der jungen Türkin äußert der Gastwirt: "Ich will hier keine mit Kopftuch sehen."
Die Türkin verläßt daraufhin das Restaurant und erstattet Anzeige wegen Beleidigung. Eine Entschuldigung des Wirts reicht Frau Karabalci nicht aus, um die Anzeige zurückzuziehen: "Er würde dann trotzdem weitermachen. Und dann sind auch andere davon betroffen."

Augenblicklich ermittelt die Marburger Staatsanwaltschaft. Ich bin gespannt, wie dieser Fall weitergeht. In Deutschland haben wir zur Zeit eine sehr stark gegen das Tragen des Kopftuches eingestellte Rechtsprechung. Mit jedem Urteil, das sich gegen das Tragen des Kopftuches ausspricht, werden die Vorurteile gegen den Islam verstärkt. Es war in den neunziger Jahren bereits ein Anwachsen der Ablehnung des Kopftuches festzustellen, mit den Urteilen der vergangenen Jahre werden diese Vorurteile weiter verfestigt.

Was ist nach dem 11. September passiert?

Durch den 11. September 2001 wurden manche positiven Entwicklungen zu Ausländern wieder umgekehrt. Es kamen die Sicherheitspakete, die Ausländer unter Pauschalverdacht stellten.

  • Beispiele, die die Einstellungen nach dem 11. September in Deutschland deutlich machen:
    Eine Kollegin versuchte während des Ramadan ihre muslimische Freundin anzurufen. Sie hat deren Tochter am Apparat, die ihr mitteilt: "Mama betet gerade. Kannst du später wieder anrufen?" Meine Kollegin freut sich, dass jemand sich durch einen Anruf nicht aus einem Gebet reißen läßt und berichtet diese Begebenheit ihrer streng katholischen Mutter, die in einem kleinen Dorf im Badischen lebt. Die Reaktion dieser Frau darauf war: "Ach, ja da sieht man es wieder, die sind ja auch so extrem."
  • Eine Kopftuch tragende Frau begleitet ihren Bruder zum Arzt. Dort wird sie aufgefordert, das Wartezimmer zu verlassen und in einem anderen Raum zu warten, ihr Anblick sei den Patienten nicht zuzumuten.
  • Eine muslimische Amerikanerin, die seit vielen Jahren in einer fränkischen Kleinstadt lebt, wird kurz nach den Attentaten von der Polizei besucht und befragt.

Dies sind Beispiele, die ich mit einiger Mühe finden konnte. Dies liegt nicht daran, dass es nur zu "gelegentlichen" und "statistisch zu vernachlässigenden" Diskriminierungen in Deutschland gekommen ist, sondern dass sich diese Beispiele in einem privaten Bereich abspielten. Zwar ist es erfreulich, dass es in Deutschland nicht zu einem Anstieg von Straftaten gegen Muslime gekommen ist. Der Klimawechsel, der sich vollzogen hat, darf jedoch nicht übersehen werden. Viele "Einheimische" bestreiten, dass sich nach dem 11. September etwas verändert hat. Das liegt auch daran, dass Diskriminierungen von den Betroffenen nicht öffentlich gemacht werden. Dadurch konnten die Abwertungen und das Misstrauen, das Muslime in den vergangenen Monaten erfahren haben - vor allem von der einheimischen Mehrheitsbevölkerung - sehr schnell wieder in Vergessenheit geraten. Bei Anfragen nur drei Monate nach den Attentaten konnte mir kaum noch ein Einheimischer von solchen Erlebnissen erzählen. Doch für die Betroffenen stellt sich dieses ganz anders da.

Frauen leiden in besonderer Weise

Muslimische Frauen mit Kopftuch berichteten, dass sie sich nach den Terroranschlägen nicht mehr auf die Straße trauten. In den Geschäften wurden ihre Einkaufswagen absichtlich gerammt oder sie wurden auf dem Heimweg gemieden. Muslimische Mütter wagten es in den Tagen nach den Anschlägen nicht, ihre Kinder in die Schule oder den Kindergarten zu schicken.
Auch wenn es in Deutschland - anders als in den Niederlanden oder Großbritannien - nicht zu Angriffen mit Baseballschlägern oder Autos kam, so ist die Angst vor Übergriffen auch hier sehr groß.

Polizei

Auf meine Anrufe bei verschiedenen Pressestellen von Polizeipräsidien in ländlichen Regionen habe ich immer wieder die gleiche Antwort erhalten: "Bei uns hat sich nichts verändert. Alles ist genauso wie vorher, aber wir bekommen ja auch nur die wirklichen Straftatbestände, was sich darunter abspielt erreicht uns nicht."
Die Pressestelle der Polizei in Koblenz berichtete trotz dieser Antwort dann doch noch folgenden Vorfall:
Ein junger Mann in Betzdorf (Sieg), der der Polizei bereits wegen anderer rechter Delikte aufgefallen war, hat nach den Anschlägen eine türkische Familie im Nachbarhaus immer wieder verbal angegriffen und dann sogar aus seinem Garten Feuerwerkskörper auf deren Wohnung abgeschossen. Der Polizeibeamte sagte, dass diese Angriffe nicht direkt im Zusammenhang mit den Terroranschlägen zu sehen seien. Andererseits räumte er ein, dass die Hemmschwellen bei diesem Mann durch die Anschläge gesunken seien und er nun öffentlich tätig geworden ist.

Meine Anfrage bei der Arbeitsgemeinschaft gegen Gewalt an Schulen (AGGAS), hat ebenfalls die Antwort erbracht: Es hat sich nach dem 11. September 2001 nichts geändert. Die Anzahl der Delikte ist in den vergangenen Jahren in etwa gleich geblieben, jedoch hat sich die Heftigkeit der Auseinandersetzungen gesteigert. "Was früher eine Ohrfeige war, ist jetzt auch schon einmal ein Schlag mit dem Baseballschläger." So Herr Coppola von der Polizei in Dillenburg.

Zugenommen haben auch die Verdächtigungen. Bei der Polizei in Frankfurt am Main gingen nach den Anschlägen über 1.000 Anrufe ein, in denen Menschen ihre muslimischen Nachbarn als Terroristen verdächtigten. Auch aus anderen Städten wird ähnliches berichtet. Polizeistellen im ländlichen Raum haben ähnliche Erfahrungen gemacht, hier sind solche Anrufe nach den Attentaten verstärkt eingegangen.
Zwar wurde bislang die Zunahme der Verdächtigungen nach dem 11. September nicht ausgewertet, so dass sich nicht sagen läßt, ob es prozentual mehr Verdächtigungen im ländlichen Raum oder in den Städten gab. In einigen Pressestellen wurde das jedoch vermutet.

Schulen

Hier wurden Unterschiede zwischen Schulen in ländlichen Regionen und in Großstädten beobachtet. In einer Schule in Berlin Neu-Kölln sind seit dem 11. September 2001 die Fronten zwischen den SchülerInnen aufgebrochen und Lehrer fühlen sich stark überfordert. Sie haben die Bundeszentrale für politische Bildung eingeschaltet, um durch Veranstaltungen zu informieren und zu vermitteln. Auch in weiteren Großstädten wurde die Bundeszentrale um Unterstützung gebeten.

Sämtliche Anrufe bei Lehrkräften in ländlichen Schulen brachten folgendes Bild zu Tage:

  • Direkt nach den Attentaten waren die Schülerinnen und Schüler kaum in der Lage, dem normalen Unterricht zu folgen (besonders 5. und 6. Klassen). Ein Gefühl der Bedrohung war verbreitet. In einer Schule in Herborn wird in der fünften Klasse über die Attentate gesprochen und ein Schüler sagt: "Jetzt gibt es Krieg mit Japan und Ihr seid schuld daran", dabei zeigt er auf muslimische Schüler in der Klasse.

  • Häufig werden Bin-Laden-Witze erzählt, um die Bedrohung durch diesen Menschen klein zu reden. Gewollt witzig sagen muslimische Schüler "Nee, heute habe ich meine Bombe nicht dabei".

  • "Hinsichtlich von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus hat sich an unserer Schule durch die Attentate nichts verändert."

  • Die Schülerinnen und Schüler differenzieren stärker zwischen den muslimischen Mitschülern ( jenen mit türkischem und jenen mit arabischem Hintergrund), aber in den Klassengemeinschaften hat sich nichts geändert.

  • Großes Interesse am Islamthema. "Wie denken muslimische Menschen?"

Einen Einzelfall möchte ich hier noch schildern. In einer siebten Klasse eines Gymnasiums in Stadthagen, einer Kreisstadt in Niedersachsen, haben die Schülerinnen und Schüler in ihrem Klassenraum "Steckbriefe" von sich aufgehängt, kurze Beschreibungen mit Namen, Hobbies und Wünschen. Als diese Klasse eines Tages in ihren Klassenraum kommt ist der "Steckbrief" von Abdullah Y., einem Schüler mit syrischem Migrationshintergrund, beschmiert. "Adullah Bin Laden" steht dick darauf. Die SchülerInnen beschließen, diesem Vorfall nachzugehen, den sie als Diskriminierung und Rassismus beschreiben.
Der Klassenraum wird von anderen Klassen mit genutzt. Es können drei Schüler aus einer zehnten Klasse als Täter ermittelt werden. Bei der Klärung des Vorfalls geben alle Täter an, keine rassistischen Motive gehabt zu haben, sondern bei Abdullah einfach an den Bruder Osama Bin Ladens gedacht zu haben. Das Umfeld der Täter spricht auch gegen eine eindeutige rassistische Zuschreibung, da sie sich teilweise stark in Kirchengemeinden engagieren und kirchlicher Migrationsarbeit durchaus offen gegenüber stehen.
Die Täter entschuldigen sich bei Abdulla, der diese Entschuldigung auch annimmt. In der Weihnachtszeit schenken sie Abdullah noch einen Nikolaus und drücken nochmals ihr Bedauern aus. 

Rückzug oder Offenheit

Nach dem 11. September wird immer wieder behauptet, dass sich muslimische Menschen in ihre eigene Gemeinschaft zurückziehen. Für bestimmte Regionen und Orte ist dieses sicherlich zutreffend. Für den ländlichen Raum ist es schwer, hier etwas zu verallgemeinern.

Dazu Beispiele aus der Jugendarbeit:

Im Jugendzentrum in Hagenbach nahe der französischen Grenze gehen türkische Jugendliche ein und aus. Sie nehmen engagiert an den verschiedenen Angeboten des Jugendzentrum teil und gehören dazu. Doch hat sich in den vergangenen Jahren etwas verändert. Seit es am Ort ein islamisches Kulturzentrum gibt, ziehen sich die türkischen Jugendlichen dorthin zurück. Wenn es im Jugendzentrum zu Konflikten kommt, versuchen die türkischen Jugendlichen, diese mit Hilfe des Vorstands des islamischen Kulturzentrums zu lösen. "Es hat eine Spiritualisierung der Konflikte stattgefunden," stellt Sven Lang, Leiter des Jugendzentrums fest. "Bei Streitigkeiten zwischen den Jugendlichen, die ganz normal sind, wird immer häufiger der Imam als Autorität gefragt, bevor versucht wird, den Streit beizulegen." Nach dem 11. September 2001 hat sich dieser Trend noch verstärkt. Die jugendlichen Türken betreiben nun ganz offensiv Missionierung zum Islam bei anderen Jugendlichen, aber auch bei dem Jugendpfleger Sven Lang, der sich in den Diskussionen als Christ outet. "Einige der Jugendlichen zeigen offen Sympathie für Osama Bin Laden."

Diese Erfahrungen aus Hagenbach sind kein Einzelfall. Auch an anderen Orten stellen hauptamtliche Mitarbeitende fest, dass Jugendliche sich stärker an Koranschulen orientieren oder in der Jugendarbeit der islamischen Kulturvereine an den Nachmittagen aktiv sind. Dies wird problematisch, sobald nicht mehr transparent ist, was die Jugendlichen dort machen. Wenn die Fragen nach ihren Aktivitäten im Kulturverein von den Jugendlichen immer häufiger mit dem Satz beantwortet werden: "Das darf ich nicht sagen," verhärtet sich der Verdacht, dass dort fundamentalistische Indoktrination stattfindet.

Diese Rückzugstendenzen können jedoch nicht überall bestätigt werden. Anderes berichten die Stadtjugendpfleger in Dillenburg. Auch hier bilden türkeistämmige Jugendliche das größte Klientel des dortigen Jugendzentrums. Die zwei Stadtjugendpfleger, ein Deutscher und ein in der Türkei geborener, eingebürgerter Deutscher, haben keine Veränderungen der Jugendlichen feststellen können. Zwar sind auch hier nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die Jugendlichen für den Islam sensibilisiert, jedoch entspricht dies stärker einem allgemeinen Interesse als einer religiösen Ausrichtung. "Auf den Monitoren der Computer im Jugendzentrum wurde nach dem 11. September die Skyline von New York als Hintergrundbild installiert und blieb für Monate dort, aber eher als Mahnung. Es gab keine Sympathien mit den Attentätern", beschreibt Oliver Conraths die Atmosphäre.

Die Frage, ob es einen stärkeren Rückzug der Muslime in ihre Gruppen gibt, ist also jeweils lokal zu beantworten. Zudem muss in dem jeweiligen Kontext auch gefragt werden, welche Anteile die einheimische Mehrheitsbevölkerung an Rückzugstendenzen trägt und ob eine Rückbesinnung auf die Wurzeln nicht auch zu einem Migrationsprozess gehört. Die Suche von Migrantinnen und Migranten nach Orientierung auch im religiösen Bereich, die meistens mit einer Rückgewandtheit und Besinnung auf vergangene Traditionen beginnt, darf nicht sofort als Hinwendung zum Islamismus gedeutet werden.

Kirchen

Einerseits verkünden leitende Personen im kirchlichen Dienst, dass nun interreligiöse Dialoge gefordert sind, aber leider bleibt dieses häufig ein reines Lippenbekenntnis, dem kaum Taten folgen. Eine breite Kampagne zum Zusammenleben mit Menschen muslimischen Glaubens fehlt.
Die deutsche Gesellschaft ist in den Städten und auf dem Lande multireligiös. Dies muss durch die Kirchen stärker respektiert werden.
Doch muss an dieser Stelle gesagt werden, dass zahlreiche Kirchen in diesem Bereich aktiv sind. So gab es zum Beispiel nach den Terroranschlägen vermehrt Anfragen von Kirchengemeinden an den Fonds zur Überwindung von Fremdenfeindlichkeit der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), interreligiöse Dialogveranstaltungen oder Informationsveranstaltungen über den Islam zu unterstützen.
In den evangelikalen Regionen wurden die Attentate von New York und Washington genutzt, den Missionsgedanken wieder zu stärken. Es wurden in verschiedenen Gruppen Strategien für Missionskampagnen bei Muslimen entworfen. Dies ist vor allem in den ländlichen Regionen geschehen.
Sinnvoll wäre hier eine Erklärung der Kirchen, den Islam als eine gleichberechtigte Religion anzuerkennen und von einer "Muslimmission" abzusehen. Ähnlich einer Erklärung, wie sie einige protestantische Landeskirchen bereits zur "Judenmission" abgegeben haben.

Islamische Gruppen

Neben den schrecklichen Folgen der Terroranschläge gab es auch positive Entwicklungen. Vielerorts haben sich Moscheen und islamische Kulturvereine geöffnet. Es wurde verstärkt zu Tagen der Offenen Moschee eingeladen und dabei bewußt darauf geachtet, Öffentlichkeit anzusprechen.
Zum Beispiel wurde in Herborn der Tag der Offenen Moschee extra auf einen Tag gelegt, an dem Bürgermeister, Parteien und Kirchenvertreter teilnehmen konnten.
Das Interesse an Informationsveranstaltungen über den Islam ist gewachsen und die Bereitschaft muslimischer Gruppierungen, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen.
Es ist nun zu hoffen, dass diese Bereitschaft stabil bleibt, wenn es zu ersten Auseinandersetzungen kommt, die häufig mit tiefergehenden Dialogen verbunden sind.

Einschätzungen

Ob sich nach dem 11. September etwas verändert hat, hängt sehr stark von der Perspektive ab. Bei meiner Untersuchung überwog vor allem bei den Einheimischen das Urteil, dass sich nichts veränderte. In der Migrationsarbeit Tätige kamen zu anderen Einschätzungen: "Die Stimmungslage ist fast so wie zu Beginn der 90 Jahre, als alle gegen Asylsuchende waren", sagt Harald Würges vom Diakonischen Werk in Wetzlar.
Die Einschätzungen der muslimischen Menschen sind anders. Oft zynisch verleihen sie ihren Verletzungen Ausdruck: "Soll ich jetzt meinen Kontoauszug an die Haustür hängen, damit jeder sehen kann, dass ich kein Terrorist bin?"

Es ist zu befürchten, dass wir in Deutschland noch sehr lange die Folgen der Attentate im interkulturellen Zusammenleben spüren werden. Jetzt schon Schlüsse, speziell für die Folgen in den ländlichen Regionen zu ziehen, ist noch zu früh. In Orten, in denen bereits vor dem 11. September ein gutes und stabiles Beziehungsgeflecht zwischen Einheimischen und muslimischen Menschen bestand, hat sich dieses als tragfähig erwiesen. In Orten, in denen Konflikte schwelten, wirkte der 11. September wie Öl für ein Feuer und entfachte Auseinandersetzungen.
Fazit

Meines Erachtens sind die Auseinandersetzungen auf den Dörfern leiser geworden, aber nicht unbedingt weniger oder unbedeutender.

Obwohl durch das Projekt und die Buchveröffentlichung das Thema bereits in einigen Gremien angekommen ist, muss weiterhin in der Öffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht werden. Interkulturelles Zusammenleben in ländlichen Regionen muss bei der Umsetzung von Richtlinien, Gesetzen, wie zum Beispiel dem neuen Antidiskriminierungsgesetz, berücksichtigt werden.

Das heißt vor allem, dass wir in Deutschland dringend Antidiskriminierungsbüros in ländlichen Regionen brauchen, denen Diskriminierungen und rassistische Angriffe gemeldet werden können. Die AGGAS hat eine Telefon-Hotline, die Trouble-Line, eingerichtet, bei der Angriffe und Gewalttaten gemeldet werden können. Allein durch eine solche Meldemöglichkeit konnten Gewalttaten reduziert werden. In kaufmännischen und gewerblichen Schulen im Dillkreis kamen kaum noch Delikte vor. Dies macht Hoffnung, dass durch die Einrichtung von Meldestellen Rassismus aus dem Dunkelbereich geholt werden kann. Damit könnten rassistischen Einstellungen die Akzeptanz entzogen und fremdenfeindliche Verhaltensweisen entlarvt werden.

Mittel für Maßnahmen zur Integration oder zum interkulturellen Miteinander müssen in ländlichen Regionen auch immer Mittel für Arbeitsplätze beinhalten. Die Arbeit zur Überwindung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit darf nicht am Fehlen von Stellen scheitern.

Neben den neuen Modellen für Ballungsgebiete und Großstädte sollten weitere Ansätze für den ländlichen Raum entwickelt werden. Wir brauchen breite Aufklärungskampagnen über den Islam, wir müssen das jetzt vorhandene Interesse an der Thematik nutzen und daraus langfristige Dialogstrukturen aufbauen. Kirchen müssen sich auf allen Ebenen an diesen Dialogen beteiligen.

Wir brauchen auch engagierte, Kopftuch tragende Frauen, die sich einmischen und uns zeigen, dass ein Kopftuch auch der Ausdruck einer religiösen Überzeugung ohne Unterdrückung und Fundamentalismus sein kann. Nur so kann sich ein verengter Horizont öffnen.

Zur Überwindung des Rassismus sind positive Ansätze zum interkulturellen und interreligiösen Zusammenleben gerade in ländlichen Regionen zu stärken.

Editorische Anmerkungen 

Der Artikel ist eine Spiegelung von der Website http://www.interkultureller-rat.de

Der Interkulturelle Rat wurde am 30. August 1994 gegründet. In ihm arbeiten Menschen unterschiedlicher Herkunft und Nationalität sowie verschiedener gesellschaftlicher Gruppen wie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, Religionsgemeinschaften, Migranten- und Menschenrechtsorganisationen, Kommunen und staatlichen Stellen, Medien und Wissenschaft zusammen.