Heute, am 10.01.05, lass ich
in der FR einen Artikel über Hexenglaube und Hexenverfolgung in Ghana. Hexen
werden für die unangenehmen Wechselfälle des Lebens, private und
gesellschaftliche Katastrophen, verantwortlich gemacht, sprich Missernten
durch Trockenheit etc., Krankheit usw. Man zwingt sie Gift zu nehmen, lyncht
sie oder vertreibt aus der menschlichen Gemeinschaft, gestattet ihnen
ausnahmsweise ein ghettohaftes Leben in speziellen Dörfern, am Rande der
Gesellschaft.
Das kam mir bekannt vor und
löste folgende Gedankengänge aus:
Offenbar gibt es in
vorindustriellen, noch ganz von der Natur beherrschten Gesellschaften ähnliche
Mechanismen, wie in hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaften, mit
ihrer verallgemeinerten Warenproduktion.
Sind die unangenehmen
Wechselfälle des Lebens in vorkapitalistischen, nicht industrialisierten
Gesellschaft noch ganz von der Natur bestimmt, so sind sie in hoch
entwickelten Gesellschaften Produkt der verallgemeinerten Warenproduktion
selbst. (Krisen aus Überfluss etc.)
Was die Hexe in den alten
Gesellschaften, ist „der Jude“ in den modernen Gesellschaften. Ideologisch
gesehen bildete das Christentum die Brücke, brachte die Hexenverfolgung zur
Perfektion und zum Abschluss und bereitete den Antisemitismus moderner
Gesellschaften vor.
„Der Jude“ ist der
Geldbesitzer und Wucherer, Repräsentant und Personifikation der
quasi-natürlichen gesellschaftlich verursachten Katastrophen. Wie der Hexe,
wird ihm Macht zugesprochen, Böses zu bewirken. Seine Macht beruht nicht auf
übersinnlichen Kräften, sondern auf dem Geld. Als Personifikation der
gleichsam übersinnlichen Macht des Geldes ist er der Verursacher alles Bösen.
Der Nationalsozialismus sattelte noch einen drauf, indem er diese
Personifikation der gleichsam übersinnlichen Macht des Geldes,
biologistisch-rassistisch in der „Natur“ der Juden veranlagt sah, und so die
Bekämpfung des „Geldjuden“ zu einer Sache der physischen Liquidierung der
Juden machte.
Was nicht erklärt werden
kann, etwa eine allgemeine Krise der Kapitalreproduktion und das daraus
resultierenden soziale Desaster, wird einer bösen Macht zugeschoben, die dann
verfolgt und vernichtet werden soll.
Die Aufklärung bereitete dem
Hexenwahn vor dem Hintergrund der Durchsetzung des Kapitalverhältnisses ein
Ende. Dies gelang ihr vor allem durch Mehrung der naturwissenschaftlichen
Kenntnisse, die durch natürliche Vorgänge verursachte gesellschaftliche
Katastrophen und Krankheiten erklären konnte. Die mit der Aufklärung sich
entwickelnden Gesellschaftswissenschaften, vor allem in Gestalt der
Nationalökonomie, verkündeten dagegen, dass der marktförmige Zusammenhang der
Kapitalreproduktion zum Gleichgewicht tendiere und als solcher keinerlei
gesellschaftliche Katastrophe verursache. Jedes Angebot verschafft sich eine
entsprechende kaufkräftige Nachfrage. Im „Normalfall“ wird damit der Bankrott
eines Unternehmens durch Missmanagement erklärt und die Lohnarbeitslosigkeit
durch Fehlverhalten der Individuen. Im Falle grundlegender und anhaltender
Schwierigkeiten der Kapitalverwertung reichen diese Erklärungmuster aber nicht
aus und so muss eine böse Macht ersonnen werden, die an dem Desaster Schuld
ist.
In Bezug auf ihren
aufklärerischen Gehalt über die Gesellschaft steht die ökonomische
Wissenschaft etwa auf dem gleichen Niveau, wie die religiös geprägte
Naturanschauung vor den modernen Naturwissenschaften. Was sie mit ihrer
ökonomischen Logik nicht erklären kann, verlangt nach anderer Erklärung. Das
Böse wird personifiziert, damit es angreifbar wird. Hexen hier, Juden da.
Die Kritik der Politischen
Ökonomie muss bezüglich der Überwindung des modernen Antisemitismus das
gleiche leisten, wie die Naturwissenschaften bezüglich des Hexenglaubens. Aber
so, wie die Überwindung des Hexenglaubens nur möglich wurde vor dem
Hintergrund der Industrialisierung und der Verallgemeinerung der
Warenproduktion, so kann die Überwindung des Antisemitismus nur erfolgreich
sein, vor dem Hintergrund unmittelbar gesellschaftlicher
Produktionsverhältnisse des Kommunismus. Die Kritik der Politischen Ökonomie
kann also die Überwindung des Antisemitismus nur vorbereiten, in dem sie
beweist, das das Kapitalverhältnis und nicht die böse Macht des
geldbesitzenden Juden Ursache des gesellschaftlich produzierten Unglücks ist.
Der „böse Jude“ ist nichts als eine Projektion, die aus einem scheinbar
naturhaften gesellschaftlichen Zusammenhang erwächst, dessen Wirkzusammenhang
nicht erklärt und verstanden ist. „Der Jude“ steht für die die
katastrophischen Misserfolge dieser Gesellschaftsformation ein. Das, was wir
unter dem Begriff der Aufklärung verstehen, war nichts als ein begrenzter
Erkenntnisschritt vorwärts in der menschlichen Gesellschaft. Die Kritik der
Politischen Ökonomie vollendet nicht nur die Philosophie, sondern bringt damit
zugleich eine neue Phase der Aufklärung zum Abschluss. Der Antisemitismus wird
erst verschwinden mit der Verallgemeinerung der Erkenntnisse der Kritik der
Politischen Ökonomie und mit der Überwindung jener Verhältnisse, die die
gesellschaftlichen Katastrophen produzieren. In Zusammenarbeit mit Herrn Bush
und Co. ist diese Aufgabe sicher nicht zu bewältigen!
Editorische Anmerkungen
Ab dieser Ausgabe wird Peter
Trotzig in unregelmäßigen Abständen seine Kommentare zum Zeitgeschehen
hier loswerden.
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