Peter Trotzigs Kommentare

Hexenglaube und Antisemitismus
(Dialektik der Aufklärung?)

01/05

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onlinezeitung

Heute, am 10.01.05, lass ich in der FR einen Artikel über Hexenglaube und Hexenverfolgung in Ghana. Hexen werden für die unangenehmen Wechselfälle des Lebens, private und gesellschaftliche Katastrophen, verantwortlich gemacht, sprich Missernten durch Trockenheit etc., Krankheit usw. Man zwingt sie Gift zu nehmen, lyncht sie oder vertreibt aus der menschlichen Gemeinschaft, gestattet ihnen ausnahmsweise ein ghettohaftes Leben in speziellen Dörfern, am Rande der Gesellschaft.

Das kam mir bekannt vor und löste folgende Gedankengänge aus:

Offenbar gibt es in vorindustriellen, noch ganz von der Natur beherrschten Gesellschaften ähnliche Mechanismen, wie in hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaften, mit ihrer verallgemeinerten Warenproduktion.

Sind die unangenehmen Wechselfälle des Lebens in vorkapitalistischen, nicht industrialisierten Gesellschaft noch ganz von der Natur bestimmt, so sind sie in hoch entwickelten Gesellschaften Produkt der verallgemeinerten Warenproduktion selbst. (Krisen aus Überfluss etc.)

Was die Hexe in den alten Gesellschaften, ist „der Jude“ in den modernen Gesellschaften. Ideologisch gesehen bildete das Christentum die Brücke, brachte die Hexenverfolgung zur Perfektion und zum Abschluss und bereitete den Antisemitismus moderner Gesellschaften vor.

„Der Jude“ ist der Geldbesitzer und Wucherer, Repräsentant und Personifikation der quasi-natürlichen gesellschaftlich verursachten Katastrophen. Wie der Hexe, wird ihm Macht zugesprochen, Böses zu bewirken. Seine Macht beruht nicht auf übersinnlichen Kräften, sondern auf dem Geld. Als Personifikation der gleichsam übersinnlichen Macht des Geldes ist er der Verursacher alles Bösen. Der Nationalsozialismus sattelte noch einen drauf, indem er diese Personifikation der gleichsam übersinnlichen Macht des Geldes, biologistisch-rassistisch in der „Natur“ der Juden veranlagt sah, und so die Bekämpfung des „Geldjuden“ zu einer Sache der physischen Liquidierung der Juden machte.

Was nicht erklärt werden kann, etwa eine allgemeine Krise der Kapitalreproduktion und das daraus resultierenden soziale Desaster, wird einer bösen Macht zugeschoben, die dann verfolgt und vernichtet werden soll.

Die Aufklärung bereitete dem Hexenwahn vor dem Hintergrund der Durchsetzung des Kapitalverhältnisses ein Ende. Dies gelang ihr vor allem durch Mehrung der naturwissenschaftlichen Kenntnisse, die durch natürliche Vorgänge verursachte gesellschaftliche Katastrophen und Krankheiten erklären konnte. Die mit der Aufklärung sich entwickelnden Gesellschaftswissenschaften, vor allem in Gestalt der Nationalökonomie, verkündeten dagegen, dass der marktförmige Zusammenhang der Kapitalreproduktion zum Gleichgewicht tendiere und als solcher keinerlei gesellschaftliche Katastrophe verursache. Jedes Angebot verschafft sich eine entsprechende kaufkräftige Nachfrage. Im „Normalfall“ wird damit der Bankrott eines Unternehmens durch Missmanagement erklärt und die Lohnarbeitslosigkeit durch Fehlverhalten der Individuen. Im Falle grundlegender und anhaltender Schwierigkeiten der Kapitalverwertung reichen diese Erklärungmuster aber nicht aus und so muss eine böse Macht ersonnen werden, die an dem Desaster Schuld ist. 

In Bezug auf ihren aufklärerischen Gehalt über die Gesellschaft steht die ökonomische Wissenschaft etwa auf dem gleichen Niveau, wie die religiös geprägte Naturanschauung vor den modernen Naturwissenschaften. Was sie mit ihrer ökonomischen Logik nicht erklären kann, verlangt nach anderer Erklärung. Das Böse wird personifiziert, damit es angreifbar wird. Hexen hier, Juden da.

Die Kritik der Politischen Ökonomie muss bezüglich der Überwindung des modernen Antisemitismus das gleiche leisten, wie die Naturwissenschaften bezüglich des Hexenglaubens. Aber so, wie die Überwindung des Hexenglaubens nur möglich wurde vor dem Hintergrund der Industrialisierung und der Verallgemeinerung der Warenproduktion, so kann die Überwindung des Antisemitismus nur erfolgreich sein, vor dem Hintergrund unmittelbar gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse des Kommunismus. Die Kritik der Politischen Ökonomie kann also die Überwindung des Antisemitismus nur vorbereiten, in dem sie beweist, das das Kapitalverhältnis und nicht die böse Macht des geldbesitzenden Juden Ursache des gesellschaftlich produzierten Unglücks ist. Der „böse Jude“ ist nichts als eine Projektion, die aus einem scheinbar naturhaften gesellschaftlichen Zusammenhang erwächst, dessen Wirkzusammenhang nicht erklärt und verstanden ist. „Der Jude“ steht für die die katastrophischen Misserfolge dieser Gesellschaftsformation ein. Das, was wir unter dem Begriff der Aufklärung verstehen, war nichts als ein begrenzter Erkenntnisschritt vorwärts in der menschlichen Gesellschaft. Die Kritik der Politischen Ökonomie vollendet nicht nur die Philosophie, sondern bringt damit zugleich eine neue Phase der Aufklärung zum Abschluss. Der Antisemitismus wird erst verschwinden mit der Verallgemeinerung der Erkenntnisse der Kritik der Politischen Ökonomie und mit der Überwindung jener Verhältnisse, die die gesellschaftlichen Katastrophen produzieren. In Zusammenarbeit mit Herrn Bush und Co. ist diese Aufgabe sicher nicht zu bewältigen!

Editorische Anmerkungen

Ab dieser Ausgabe wird Peter Trotzig in unregelmäßigen Abständen seine Kommentare zum Zeitgeschehen hier loswerden.