Was ist Kommunismus?
Versuch über die Zukunftsgesellschaft

von Werner Seppmann
01/06

trend
onlinezeitung

Die Linke ist mit einer eigenartigen Situation konfrontiert. Es fällt mittlerweile nicht mehr besonders schwer, Zustimmung zu antikapitalistischen Positionen zu erhalten. Die eskalierende Krisenentwicklung und die Gefahr eines permanenten Krieges hat bei vielen die Überzeugung reifen lassen, daß die Überwindung des Kapitalismus wünschenswert und eine andere Welt nötig sei. Gleichzeitig wird jedoch bezweifelt, ob eine grundsätzlich andere Welt auch möglich ist. Auch von denen, die nicht in Frage stellen, daß eine alternative Vergesellschaftungsform sozialistischen Charakter haben müßte, zweifeln viele daran, ob der universalisierte Kapitalismus noch überwunden werden kann und neue Transformationsversuche Erfolgsaussichten haben.

Überraschend ist eine solche Haltung nicht, denn auch die Kräfte revolutionärer Gesellschaftsveränderung befinden sich immer noch in einem Prozeß der (Neu-)Orientierung, der die Aufarbeitung der sowohl positiven Erfahrungen, aber auch der Fehler und Deformationen des untergegangenen Sozialismus umfaßt. Falsche Gewißheiten erweisen sich als kontraproduktiv, »denn keiner hat sichere Rezepte in der Tasche, jeder Entwurf ist vorläufig.« (H. H. Holz) Es sind entscheidende Fragen, die der Beantwortung harren: Wie haben wir uns die konkrete Organisation eines alternativen Gesellschaftsmodells vorzustellen? Was kommt nach der Aufhebung der privaten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel? Aber auch: Welche sozialen Kräfte könnten heute Träger eines revolutionären Prozesses sein?

Sozialistische Demokratie nötig

Eine politische Bewegung, die an der Vorstellung einer historischen Alternative zur Gesellschaft der Ausbeutung und Aggressivität festhält, muß sich dieser Situation stellen und sich, intensiver als bisher, auch Gedanken über die politische Ökonomie des Sozialismus machen. Jedenfalls reicht ein »Hinweis auf die allgemeinen geschichtlichen Entwicklungsgesetze (...) nicht mehr aus. Menschen, die sich für den Sozialismus entscheiden sollen und wollen, haben angesichts offenkundiger Mängel beim ersten Aufbau des Sozialismus ein Recht zu fragen, wie es beim nächsten aussehen soll und besser gemacht werden kann.« (H. H. Holz)

Konzepte einer grundlegenden Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse müssen plausibel erklären können, durch welche institutionellen Absicherungen die Prinzipien sozialistischer Demokratie (zu denen die Institutionenkontrolle, die strukturell verankerte Artikulationsmöglichkeit divergierender Auffassungen über die gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen und die sozialen und individuellen Grundrechte) gesichert werden können. Es wird zu diesem Zweck von Nutzen sein, alle bisher diskutierten Konzepte (darunter vor allem die räte- und basisdemokratischen Modelle) einer intensiven Prüfung zu unterziehen und in diesem Zusammenhang auch noch einmal Bakunins Kritik an einer »Staatszentrierung« des Marxismus zu überdenken.

Warum scheiterte der Sozialismus?

Die aktuelle Beschäftigung mit den sozialistischen Alternativen muß auch schlüssig erklären können, weshalb der Frühsozialismus gescheitert ist. Fraglich ist es zwar, ob ein unmittelbares Lernen aus der Geschichte möglich ist. Aber die historische Analyse ermöglicht es, gewisse Gesetzmäßigkeiten und Wirkungsmechanismen zu erkennen, die konzeptionell für soziale Handlungsstrategien von Bedeutung sein können. In diesem Sinne bilden die Überlegungen zu der Frage, welche Ursachen zur langfristigen Destabilisierung und letztlich zur Auflösung der realsozialistischen Gesellschaftsformation geführt haben, die Basis jeder Diskussion über die Zukunftsgesellschaft.

Der Hauptgrund des Niedergangs liegt sicherlich nicht an der prinzipiellen Undurchführbarkeit einer statt am Profit, am Gemeinwohl orientierten Ökonomie. Fast alle sozialistischen Länder haben ökonomische und zivilisatorische Aufbauleistungen erbracht, die in der Weltgeschichte beispiellos sind. Trotz der elenden Ausgangsbedingungen und der ständigen Gefährdung von außen, hat sich die Sowjetunion als kulturell und wissenschaftlich hochentwickeltes Land etabliert. Die DDR konnte über Jahrzehnte einen festen Platz innerhalb des Reigens der führenden Industrienationen behaupten, ohne daß, wie in der Bundesrepublik, 20 bis 25 Prozent des Sozialprodukts direkt oder indirekt aus der Ausbeutung der peripheren Länder entstammten.

Schon alleine aufgrund dieser gar nicht so schlechten Bilanz können die Gründe für den Niedergang nicht alleine durch eine rein ökonomische Funktionsanalyse erschlossen werden. Denn faktisch hat das sozialistische Gesellschaftssystem zuallererst unter dem mangelnden Zuspruch seiner Menschen gelitten. Weder die unzureichende Arbeitsproduktivität noch eine mangelhafte technologische Innovationsfähigkeit sind (wie oft behauptet wird) die entscheidenden Ursachen des Scheiterns gewesen, sondern eher als Symptome der Krisenentwicklung anzusehen. Auch die immer noch verbreitete Überbetonung des äußeren Einflusses leistet keinen besonders produktiven Beitrag zum Verständnis des Untergangs, denn der Sozialismus hat ganz andere Bedrohungen als die raffinierten Strategien des Kalten Krieges überstanden: Die Verwüstungen des »Bürgerkrieges« und der faschistischen Aggression sind elementarer gewesen, haben aber dennoch die Sowjetunion nicht in die Knie zwingen können (auch wenn sie eine spezifisch soziokulturelle Rückständigkeit, die schon Lenin beklagte, perpetuiert haben).

Erfahrung der Fremdbestimmung

Der Hauptmangel des frühen Sozialismus lag primär in seiner Unfähigkeit, die gesellschaftlichen Prozesse so zu organisieren, daß die Menschen sich als am sozialen Geschehen aktiv Beteiligte hätten erleben können. Trotz der formellen Überführung der Produktionsmittel in Gemeineigentum und trotz der gebrauchswertorientierten Wirtschaftsweise haben die Menschen die sozialen Beziehungen und die Arbeitsverhältnisse in wesentlichen Punkten als fremdbestimmt erlebt. Die sozialistische Programmatik blieb etwas dem Alltagshorizont der Individuen Äußerliches und wurde (vor allen Dingen in der Spätphase) als plakativ erlebt.

Was den sozialistischen Gesellschaften fehlte, war aber nicht Demokratie im Sinne parlamentarischer Partizipation, sondern eine dem historischen Entwicklungsstand entsprechende Teilnahme der arbeitenden Menschen an den gesellschaftlichen Lenkungs- und Entscheidungsprozessen. Ungehinderter Meinungsaustausch und Koalitionsfreiheit wären unabdingbare Voraussetzungen dazu gewesen.

Der sozialistische Aufbau hatte sich in der Sowjetunion in den 1930er Jahren zwar auf eine breite gesellschaftliche Zustimmung, der Identifikation vor allem junger Menschen mit den ambitionierten Zukunftsperspektiven stützen können. Mit der allmählichen Entwicklung einer materiellen sozialistischen Basis mußten jedoch die administrativen Entwicklungsdirektiven zunehmend ihre Legitimation verlieren und der Eindruck von Bevormundung entstehen. Ähnliche Probleme entwickelten sich auch in der DDR: Zwar gab es weitreichende Mitgestaltungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz, die aber nicht in ein System der Basiskontrolle aller sozialen Abläufe eingebunden waren. Nur eine als unmittelbares Element des Alltagslebens wirkende Form intensiver und uneingeschränkter Mitgestaltung hätte die Menschen ebenso emotional wie rational an ihre Gesellschaftsordnung binden können.

Es ist lehrreich, noch einmal in Erinnerung zu rufen, was Marx die Erfahrungen der Pariser Kommune verallgemeinernd als Prinzipien sozialistischer Demokratie definiert hat: Die Administratoren müssen gewählt werden und jederzeit absetzbar sein, ihr Einkommen darf das eines qualifizierten Arbeiters nicht überschreiten, und bürokratische Verkrustungen sollen durch ständigen Personalaustausch vermieden werden. Nicht nur in den existentiellen Ausnahmesituationen, sondern auch in der Phase ihrer Konsolidierung sind diese Prinzipien in den sozialistischen Ländern mißachtet worden. Glaubwürdigkeitsverluste waren die unvermeidliche Folge. Auch die erreichten Fortschritte und Errungenschaften besaßen deshalb im Sozialbewußtsein der Menschen nicht den ihnen zukommenden Stellenwert.

Dem schleichenden Legitimationsverlust lag eine paradoxe Dialektik zugrunde: Gerade weil der Realsozialismus – trotz äußerer Widerstände und eigener Unzulänglichkeiten – qualitativ neue Formen des gesellschaftlichen Verkehrs und des soziokulturellen Klimas hervorgebracht hatte, weil er soziale Existenzängste beseitigt und Elementarformen solidarischen Zusammenlebens stimuliert hat, formationstheoretisch betrachtet, er schon ein gegenüber dem Kapitalismus überlegenes Zivilisationsniveau erreicht hatte, mußte das verbreitete Gefühl der Gängelung und Bevormundung eine latente Verweigerungshaltung produzieren, auch zu Lethargie und Resignation führen.

Grenzen administrativer Lenkung

So förderlich unter den konkreten historischen Bedingungen in den meisten Ländern des sozialistischen Blocks die administrative Organisation des materiellen und sozialen Reproduktionsprozesses zunächst auch war, so gab es dennoch keinen Grund, sie festzuschreiben. Auch wenn sie zunächst große Vorteile mit sich brachte. Der notwendige Aufbau der Schwerindustrie und der Infrastrukturen konnte mit hohem Tempo und mit beachtlichem Erfolg organisiert werden und somit auch die Voraussetzungen für einen Sieg in der epochalen Auseinandersetzung mit dem Faschismus geschaffen werden.

Die Lenkungsmethoden des quantitativen Aufbaus verloren aber ihre Effektivität, als die Arbeitsteilung voranschritt und die Bedeutung technologisch hochentwickelter Produktionsbereiche zunahm: Die in der Industrialisierungsphase vorteilhaften Methoden wirkten sich unter den veränderten gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsbedingungen hemmend aus. Die Umsetzung gesellschaftlicher Zielvorgaben erfordert beispielsweise in der Computerindustrie eine andere Herangehensweise als beim Eisenbahnbau. Die Konzepte quantitativer Globalplanung stießen in Folge der technologischen, aber auch der sozial-kulturellen Entwicklung an ihre Leistungsgrenzen. Die entwickelten gesellschaftlichen Verkehrsmuster und die neuen Formen der Technik hätten flexible Reaktionsmuster und die Berücksichtigung individueller Handlungsspielräume erfordert: »Intelligente Technik« und selbstbestimmte Individualität miteinander zu vermitteln, hätte jedoch den Bruch mit den bürokratischen Verkrustungen und die Organisation der Gesellschaft als »Assoziation freier Produzenten« (Marx) erfordert.

Soziale Selbstorganisation

Daß sich die Umsetzung basisdemokratischer Konzepte historisch als nicht unproblematisch erwiesen hat, soll nicht verschwiegen werden. Der jugoslawische Weg der »Arbeiterselbstverwaltung« mündete in der Sackgasse eines Konkurrenz-Sozialismus, in dem jeder Betrieb auf Kosten aller anderen über die Runden zu kommen versuchte. Jedoch kann ein unvoreingenommener Vergleich der verschiedenen Modelle kooperativen Wirtschaftens in den verschiedenen Ländern (Sowjetunuion und DDR, China und Jugoslawien) immer noch lehrreich sein. Es hat innerhalb des sozialistischen Blocks recht unterschiedliche Problemkostellationen und, darauf reagierend, differenzierte nationale Entwicklungspläne und Umsetzungsstrategien gegeben. Was jedoch bei einem Vergleich der verschiedenen Organisationsmodelle auffällt, ist die mangelnde Berücksichtigung sozialer Selbststeuerungsmechanismen. Was damit für sozialistische Gesellschaften gemeint ist, wird durch eine Definition Lenins des Grundprinzips solidarischer Vergesellschaftung deutlich: »Das ›Kommunistische‹ beginnt erst dort, wo (...) in großem Ausmaß unentgeltliche, von keiner Behörde, von keinem Staat genormte Arbeit von einzelnen zum Nutzen der Gesellschaft geleistet wird.« (Lenin Werke, Bd. 30, S. 276)

Was an dieser Äußerung zunächst einmal überrascht, ist die Tatsache, daß in einer Zeit schwierigster Aufbauprobleme mit kühner utopischer Geste die Frage gesellschaftlicher Selbstorganisation thematisiert, und das in einer konkreten historischen Situation formulierte Modell eine Akzentuierung von allgemeiner Bedeutung enthält. Lenin zielt aber gleichzeitig auf die Frage, durch welche Entwicklungen ein »Absterben des Staates«, zumindest eine Minimierung seiner reglementierenden Wirkungen, erreicht werden kann.

Es geht im Kern um die Rückführung der sozialen Angelegenheiten in die sozialen Basisbereiche, also um die Förderung selbstbestimmten Handelns. Und hier schließt sich der Kreis zu den Fragen nach der Charakteristik eines neuen Sozialismus, der aus den Unzulänglichkeiten des vergangenen gelernt hat.

Selbstbestimmungsvoraussetzungen

Es geht in der Leninschen Definition um Formen des sozialen Verkehrs, die sich spontan aus den Lebensverhältnissen entwickeln und die als selbstverständlich den Bruch mit dem Kapitalismus, die planmäßige Ökonomie und gesellschaftliche regulierte Grundversorgung, aber auch demokratische Kontrollmechanismen und dem jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsniveau entsprechend reduzierte Arbeitszeiten voraussetzt.

Es ist besonders die radikale Verkürzung der Arbeitszeit, die sich heute als eine erfolgsversprechende Übergangsforderung anbietet, ja sich den Kräften progressiver Gesellschaftsveränderung geradezu aufdrängt, weil sie das historische Existenzrecht des Kapitalismus systematisch in Frage stellt. Denn gerade in seinem höchsten Entwicklungsstadiun verlangt er den Menschen immer größere Opfer ab. Er erzwingt diese Opfer gerade deshalb, weil er Kapital und Produktivmittel in einem gewaltigen Ausmaß angehäuft hat und aus dem akkumulierten Kapital die systembedingte Notwendigkeit resultiert, auch den Mehrwert und damit die Ausbeutung lebendiger Arbeit kontinuierlich zu erhöhen.

Trotz Quantensprünge in der Produktivkraftentwicklung ist der Kapitalismus deshalb bestrebt, die Arbeitszeit zu verlängern und den Leistungsdruck zu erhöhen – bei gleichzeitiger Bereitschaft, die für den Mehrwerterzeugungsprozeß nicht mehr benötigten Menschen ins soziale Abseits zu drängen. Die nachdrückliche Problematisierung der Arbeitzeitverkürzung ist also prinzipiell dazu geeignet, um zu demonstrieren, daß der Kapitalismus eine Barriere für eine weitere Verbesserung der Lebensverhältnisse, ja für die zivilisatorische Entwicklung insgesamt darstellt.

30 Stunden sind genug!

Es dürfte heute im Umkehrschluß nicht mehr schwerfallen zu begründen, daß ein radikaler Schnitt bei den Arbeitszeiten nötig, aber auch möglich ist. Wenn die gesellschaftlich notwendige Produktion auf alle Arbeitsfähigen verteilt und auf vieles Überflüssige verzichtet wird (beispielsweise die Rüstung, um nur das Naheliegende zu nennen, auf absurde Formen des Luxuskonsums, aber auch auf die aus dem Konkurrenzkampf resultierenden Pseudoinnovationen, die der Kapitalismus zunehmend zu seiner Reproduktion benötigt) und ebenfalls die aus der kapitalistischen Widerspruchsdynamik resultierenden Kosten durch Arbeitslosigkeit, der psychischen Ausplünderung der Menschen oder der Naturzerstörung, nicht mehr anfallen, braucht der individuelle Einsatz für die gesellschaftlich notwendige Reproduktionsarbeit monatlich kaum mehr als 25 oder 30 Stunden zu überschreiten.

Es würde ein Zustand mit fast grenzenlosen Freiräumen für eigenverantwortliche und gleichzeitig gesellschaftlich nützliche Tätigkeiten entstehen. Viele elementare soziokulturelle Prozesse würden mit einem selbstbestimmten Alltagshandeln identisch und dadurch ein kulturrevolutionärer Bruch mit den selbstunterdrückenden Praxisformen einer wie auch immer gearteten »Leistungsgesellschaft« möglich.

Der konkret-utopischen Phantasie, wie das aussehen könnte, sind keine Grenzen gesetzt. Das fängt mit so einfachen Dingen an, daß viele Tätigkeiten, die heute professionalisiert und kommerzialisiert sind, wieder in die unmittelbaren Lebenszusammenhänge reintegriert werden. So könnte mit der geradezu barbarischen Praxis der Abschiebung alter Menschen in sogenannte Alters- und Pflegeheime gebrochen werden und die von der Arbeit weitgehend entlasteten Männer und Frauen sich kollektiv um ihren Nachwuchs kümmern.

Auch eine Selbstverwaltung der unmittelbaren Angelegenheiten in den Wohngebieten und Regionen würde einen bürokratischen Überbau weitgehend überflüssig machen. Insgesamt würde durch diese Rückführung elementarer soziokultureller Tätigkeiten (mit ökonomischen Nutzeffekten für die Gesamtgesellschaft) in die Alltagszusammenhänge, das Quantum der gesellschaftlich notwendigen und gemeinschaftlich zu organisierenden Arbeit noch weiter abnehmen und die disponible Zeit zunehmen, in der die Menschen – um noch einmal Lenin zu zitieren – in großen Ausmaß unentgeltliche und freiwillige Arbeit für das Gemeinwohl leisten könnten.

Ohne den Zwang zu aufreibender materieller Reproduktion würden auch viele (Geistes-) Wissenschaftler und Künstler nicht mehr gesellschaftlich alimentiert werden müssen. Eine Tendenz zur Aufhebung zwischen Kopf- und Handarbeit würde entstehen und sich auch die Chance zu einer heute kaum vorstellbaren Verbindung von Alltag, Wissenschaft und Kunst ergeben. Durch solche Entwicklungen würde ebenfalls, um einen anderen Leninsatz zu zitieren, die Köchin in die Lage versetzt werden, den Staat zu regieren – falls das dann überhaupt noch in der uns bekannten Intensität notwendig sein sollte.

Sprengkraft der konkreten Utopie

Niemand sage, daß solche Perspektiven sich von unserer aktuellen Problemsituation zu weit entfernen würden. Das Gegenteil ist der Fall: Denn die bürgerliche Produktivkraftentwicklung hat die Mittel zu solidarischen und selbstbestimmten Gesellschaftsentwicklungen, ebenso wie zur umfassenden Bedürfnisbefriedigung bei gleichzeitiger Reduzierung der Arbeitszeit längst geschaffen. Daran immer wieder zu erinnern, ist von elementarer politischer Bedeutung, weil die herrschende Resignation nur durch die Thematisierung des historisch möglich Gewordenen durchbrochen werden kann. Es wäre fatal, die durch eine kapitalistische Lebenspraxis erzeugten Vorstellungsmuster nur einfach fortzuschreiben: Sozialismusmodelle, die nicht den Horizont des Gegenwärtigen überschreiten, bleiben ebensowenig zukunfts- wie überzeugungsfähig.

Keine andere Form konkreter Utopie als die einer selbstbestimmten Verfügung über die Lebenszeit ist besser geeignet, den entwickelten Kapitalismus als ein geradezu absurdes System der Fortschrittsverhinderung und fortschreitender menschlicher Selbstunterdrückung zu entlarven, das durch seine destruktive Entwicklungsdynamik beständig mehr zivilisatorische Probleme schafft, als es zu lösen in der Lage ist.

Editorische Anmerkungen

Werner Seppmann ist Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung. Sein Text greift Gedanken auf, die im Rahmen der von der Marx-Engels-Stiftung am 26./27. November 2005 in Berlin organisierten Konferenz »Welchen Sozialismus wollen wir eigentlich?« vorgetragen wurden.

Der Artikel erschien in der JUNGEN WELT am 23.12. 2005. Wir spiegelten ihn von http://www.kominform.at/article.php?story=20051223085927765