17. 9.1904 Elberfeld; Prof. Dr.
Dr. h. c. mult., Wirtschaftshistoriker, Ökonom und Statistiker
der DDR, seit 1955 Mitglied der AdW der DDR. K. ist außerdem
auswärtiges Mitglied der AdW der UdSSR; weiterhin Vorsitzender
des Nationalkomitees der Wirtschaftshistoriker der DDR und
Vizepräsident der International Association of Economic History.
Angesichts seiner wissenschaftlichen Leistungen wurden ihm viele
Ehrungen und Auszeichnungen zuteil: Er erhielt den
Karl-Marx-Orden und ist zweifacher Nationalpreisträger,
Hervorragender Wissenschaftler des Volkes und erhielt die
Ehrendoktorwürde mehrerer Univ.
K. studierte ab 1922 in Erlangen,
Berlin und Heidelberg. Zu seinen Lehrern gehörte —» Hensel; er
war auch bekannt mit —» M. Weber und hörte Vorlesungen bei Edgar
Salin und Brentano. K. promovierte 1925 in Erlangen zum Thema
»Der ökonomische Wert - eine wirtschaftshistorische,
soziologische und geschichtsphilosophische Betrachtung«. Ab 1925
war er Volontär bei einer Berliner Bank.
1926 erscheint seine erste
größere Arbeit u. d. T. »Zurück zu Marx«. Im gleichen Jahr nahm
er ein postgraduales Studium an der Brookings School in
Washington wahr, wo er sich insbesondere mit den • Marxschen
Relativlöhnen beschäftigte. In den darauffolgenden beiden Jahren
wird er Direktor einer statistischen Abteilung der
amerikanischen Gewerkschaftsorganisation American Federation of
Labor (AFL), wo er, erstmalig für die USA, Relativlöhne und
Arbeitslosenstatistiken berechnet. Damit gibt er den Lohnkämpfen
der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung eine wissenschaftliche
Orientierung.
Ab 1929 gibt er zusammen mit
seinem Vater Rene K. in Berlin die »Finanzpolitische
Korrespondenz« heraus. Er wird 1930 Mitglied der KPD und ist ab
1931 aktiv in der Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO)
und in der »Roten Fahne« tätig. K. war zu dieser Zeit bereits in
den USA, in Deutschland und in der Sowjetunion als
Wissenschaftler bekannt und lernt bei einem Besuch der
Sowjetunion den sowjetischen Wirtschaftswissenschaftler
E. Varga kennen. K. wird zu einem
engagierten Freund der UdSSR. Mit der
Herausgabe der »Konjunkturstatistischen Korrespondenz« in der
Schweiz setzt K. 1934 die Thematik der »Finanzpolitischen
Korrespondenz«, die im faschistischen Deutschland nicht mehr
erscheinen durfte, mit der Weiterführung von regelmäßigen
Studien zur Lage der Arbeiter fort.
Er emigrierte 1936 nach England,
kehrte 1945 nach Berlin zurück. K. war u.
a. seit 1946 Prof. für politische Ökonomie an der
Humboldt-Univ., später Präsident der Zentralverwaltung für
Finanzen, Leiter des damaligen Deutschen Wirtschaftsinstituts
sowie des Instituts für Wirtschaftsgeschichte bei der AdW in
Berlin, Präsident der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische
Freundschaft.
Während der Zeit an der Brookings
School in den USA hatte sich K. der Kategorie »Relativlohn« und
der Erforschung der Lage der Arbeiter zugewandt. Die Berechnung
von Relativlöhnen hatte große politische Bedeutung in der
Agitation und Propaganda über die Ausbeutung und
die Lage der Arbeiter. Diese Thematik erweiterte sich, als K.
zusammen mit seiner Frau Marguerite K. 1929 eine
historisch-statistische Darstellung der Lage der Arbeiter in den
USA (»Der Fabrikarbeiter in der amerikanischen Wirtschaft«)
veröffentlicht. Später behandelte K., ebenfalls mit seiner Frau,
die Lage der Arbeiter in Deutschland. Er begann in der
Emigration in England eine mehrbändige Geschichte der Lage der
Arbeiter unter dem Kapitalismus zu schreiben (1940). Er
analysierte die Lage der Arbeiter in England. Die englische
Auflage umfaßt zunächst fünf Bände; in den folgenden Jahrzehnten
überarbeitete und erweiterte K. seine Arbeit an der Thematik
ständig, bis schließlich in deutscher Sprache mehr als 40 Bände
vorliegen.
Die Lage der
Arbeiterklasse im Kapitalismus ist für K. Ausgangspunkt für die
Analyse der Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen
Produktionsweise und die Gesetzmäßigkeiten der Reproduktion
aller gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus. Seine
Darlegung der realen Geschichte der Lage und des Kampfes der
Arbeiterklasse, nach Ländern, Etappen und Perioden geordnet,
erlaubt es ihm, die Reproduktion der Arbeiterklasse unter dem
Kapitalismus vor dem politisch-gesellschaftlichen Hintergrund in
ihrer Konkretheit und Vielfalt aufzuzeigen. Das reichhaltige
statistische und dokumentarische Material ermöglicht fundierte
Aussagen, so z.B. über die Lage der Arbeiterklasse und die
zyklischen Krisen im Kapitalismus, über die Gesamtresultate des
Wirkens aller Klassen im Kapitalismus, über die Ergebnisse des
Klassenkampfes, die Entwicklungsstufen des Klassenbewußtseins
des Proletariats. Über die engere Thematik hinausgehend, hat K.
in seinem Werk solche Probleme behandelt wie die Genesis und die
Geschichte der Monopole und des staatsmonopolistischen
Kapitalismus, der Weltmarktbeziehungen, der Krise der
kapitalistischen Weltwirtschaft und der Geschichte der
politischen Ökonomie.
In jüngster Zeit
hat sich K. auch stärker anderen Themen zugewendet. So legte er
„Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften" in
10 Bänden vor. In der Schrift »Vier Revolutionen der
Produktivkräfte, Theorie und Vergleiche« (Berlin 1975) suchte K.
die Fragen zu beantworten, welches Wachstum der Produktivkräfte
für die Entstehung des Kapitalismus und für die des Sozialismus
verantwortlich war. Aus fünf Bänden besteht K.s »Geschichte des
Alltags des deutschen Volkes« (Berlin 1980ff.). Hier befaßte
sich K. sowohl mit der materiellen Lebenslage der Werktätigen
als auch mit den sonstigen Lebensbedingungen, ausgehend von der
These, daß Geschichte nicht nur aus großen Klassenschlachten
besteht, sondern auch aus den nicht so im Blickpunkt des
Historikers liegenden alltäglichen Dingen des Lebens, mit denen
sich die Werktätigen konfrontiert sehen.
Große Verdienste
hat sich K. in seiner langjährigen Lehrtätigkeit und bei der
Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlern in der DDR erworben.
Publikationen: Die Zahl der Veröffentlichungen von K.
umfaßt gegenwärtig etwa 3000 Titel. Eine zuverlässige
Bibliographie der Schriften von K. wurde mehrfach im »Jahrbuch
für Wirtschaftsgeschichte« publiziert, so von Elli Mohrmann
(1964), von Erika Behm für die Zeit von 1964 bis 1968 (1968),
für die Zeit von 1924 bis 1973 (1974, Sonderband), für die Zeit
von 1973 bis 1978 (1979) und für die Zeit von 1978 bis 1983
(1984, Sonderband). Über seinen Lebensweg, seine politischen und
wissenschaftlichen Auffassungen geben seine beiden
autobiographischen Schriften Auskunft: Memoiren. Die Erziehung
des Jürgen Kuczynski zum Kommunisten und Wissenschaftler,
Berlin, Weimar 1973; Dialog mit meinem Urenkel, Berlin, Weimar
1983. Literatur: Jürgen Kuczynski - ein universeller
marxistisch-leninistischer Gesellschaftswissenschaftler.
Festschrift aus. Anlaß seines 75. Geburtstages, Berlin 1980;
Festsitzung des Akademischen Senats der
Martin-Luther-Universität Halle - Wittenberg zur Verleihung des
Dr. oec. h. c. an Jürgen Kuczynski am 20.2.1985, Halle 1985.
Editorische Anmerkungen
Der Text stammt
aus: Krause, Werner; Graupner,
Karl-Heinz & Sieber, Rolf (1989). Ökonomenlexikon. Berlin: Dietz.
S. 277ff
OCR-Scan by red.
trend
Jürgen Kuczynski
verstarb am 6.
August 1997 in Berlin.
|