Frankreich: Neue Maßnahmen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts. Der Kündigungsschutz bröckelt weiter ab

von Bernhard Schmid
01/06

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« Beispiellose Dereglementierung des Arbeitsmarkts » übertitelt die Pariser Abendzeitung « Le Monde » ihre innenpolitische Rubrik in der Dienstagsausgabe dieser Woche (17. Januar). Unter dieser Überschrift stellt die Zeitung die neuen Maßnahmen zur Arbeitsmarktpolitik vor, welche Premierminister Dominique de Villepin (UMP) am Montag verkündete. 

Es handelt sich um „eine Salve von Maßnahmen, um die Beschäftigung von Jugendlichen und Senioren zu ermutigen“, so fasst der (eher wirtschaftsliberale) Journalist Christophe Jakubyszyn an jener Stelle die Regierungsphilosophie zusammen. Tatsächlich nimmt die Regierung für diese neue Flexibilisierungsphilosophie einerseits die schlechte Arbeitsmarktlage für Jugendliche bzw. junge Erwachsene zum Anlass oder Vorwand. Die Arbeitslosenquote bei den 18- bis 25jährigen beträgt derzeit in Frankreich 22,8 Prozent; diese wird jedoch an der Anzahl der beruflich aktiven Bevölkerung derselben Altersklasse gemessen, also unter Ausschluss er Schüler/innen und Studierenden im gleichen Alter. Schließt man die lernenden oder studierenden Jungerwachsenen in die Rechnung ein, so ergibt sich eine Arbeitslosenrate von 8,1 Prozent in dieser Altersgruppe, die freilich im europäischen Vergleich überdurchschnittlich bleibt (Deutschland: 5,5 % laut Eurostat). Andererseits stützt die Regierung sich auf die doppelte Tatsache, dass es (erstens) für die über 50jährigen immer schwerer wird, noch eine (Wieder-)Beschäftigung zu finden, und (zweitens) viele ältere Ex-Beschäftigte von ihrer Rente allein nicht mehr leben können. Zum letztgenannten Tatbestand haben freilich die Politiken der aufeinanderfolgenden Regierungen durch ihre „Rentenreform“maßnahmen erheblich beigetragen, etwa durch die Heraufsetzung der Anzahl der nötigen Beitragsjahre, um eine Rente zum vollen Satz beziehen zu können.  

Beide Beobachtungen, die jüngeren Beschäftigten ebenso wie jene im Rentenalter betreffend, dienen der Regierung nun zur Rechtfertigung neuer Weichenstellungen zur „Flexibilisierung des Arbeitsmarkts“. 

Neue Rückzüge des Kündigungsschutzes  

Der herausragende Beschluss von Premierminister de Villepin betrifft die Schaffung eines neuen Typus von Arbeitsvertrag für die jungen Erwachsenen unter 26 Jahren, den „Ersteinstellungsvertrag“ CPE (Contrat de premierère embauche). Dessen wesentliche Bestimmungen kopieren die zentralen Regeln des so genannten „Neueinstellungsvertrags“ CNE (Contrat de nouvelle embauche), den die Regierung im Hochsommer durch ein Dekret vom 2. August 2005 eingeführt hat. Damals ging es darum, durch den „Neueinstellungsvertrag“ CNE in den kleinen und mittleren Betrieben bis zu 20 Beschäftigten den Kündigungsschutz während der ersten beiden Jahre des Arbeitsverhältnisses zu schleifen: Die per CNE eingestellten Mitarbeiter/innen können in den ersten zwei Jahren ohne Angabe näherer Rechtfertigungsgründe entlassen werden. Der „Neueinstellungsvertrag“ für die unter 26jährigen (CPE) schafft nunmehr seinerseits den Kündigungsschutz für diese Beschäftigtenkategorie ab; diese Regelung ist wiederum während der ersten beiden Jahre des Arbeitsverhältnisses wirksam. Es handelt sich um eine Art stark verlängerter Probezeit, aber juristisch wird sie nicht sie als Probezeit qualifiziert, da unterschiedliche Beweggründe dahinter stehen. (Eine Probezeit soll dem Arbeitgeber erlauben, die Kompetenzen des neuen Mitarbeiters besser einschätzen zu können; bei der Aufhebung des Kündigungsschutzes während der ersten zwei Jahre geht es dagegen explizit um eine Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, die angeblich eine die Beschäftigung fördernde Wirkung hat.) 

Eine Handvoll Zugeständnisse 

Von der neuen kündigungsschutzfreien Periode werden jedoch all die Zeiten abgezogen, die der junge Beschäftigte vor Abschluss des CPE bereits im Unternehmen verbracht hat, sei es als Praktikant oder als Mitarbeiter unter befristetem Vertrag (CDD, Arbeitsvertrag auf befristete Dauer). Dies soll verhindern, dass unterschiedliche prekäre Perioden hintereinander geschaltet werden – nichts hindert allerdings die Arbeitgeber daran, sich all jener Beschäftigten unter CPE (kurz) vor Ablauf der zwei Jahre zu entledigen und neue, unter 26jährige Mitarbeiter unter Rückgriff auf dieselbe Vertragsform einzustellen.  

Ferner wird dadurch seitens der Regierung auch versucht, ein Stück weit auf die Forderungen der PraktikantInnenbewegung vom Spätherbst vergangenen Jahres einzugehen. Diese hatte eine Beendigung des „Missbrauchs“ von Praktika durch Arbeitgeber (zu dem Zweck, über möglichst viele prekäre und un- oder geringfügig bezahlte Arbeitskräfte zu verfügen) zum Ziel - der dadurch ermöglicht wird, dass die miserable Arbeitsmarktsituation für viele junge Erwachsene und Studierende das Ableisten von Berufspraktika zwecks „Aufbesserung“ ihres Lebenslaufs nötig macht. Am 1. November sowie am 24. November hatte erstmals ein landesweiter Praktikantenstreik stattgefunden, in Paris hatte es am 24. 11. 2005 eine kleine Kundgebung gegebenen. Nunmehr will Premierminister de Villepin, wie er am Montag ebenfalls verkündete, eine minimale Bezahlung solcher Praktika durchsetzen; sie wird künftig obligatorisch gemacht, sofern das Praktikum länger als drei Monate ausfällt. Wie hoch sie ausfällt, bleibt dagegen noch offen, aber den Unternehmen wird eine Befreiung von Sozialabgaben für einen Betrag in Höhe von 360 Euro gewährt. Damit deutet sich an, wie hoch die Mindestentlohnung von PraktikantInnen in etwa ausfallen wird. Ferner soll die Dauer der Berufspraktika auf die Betriebs- bzw. Berufszugehörigkeit angerechnet werden, unter der Voraussetzung, dass die betreffende Branche eine Kollektivvereinbarung dazu abgeschlossen hat. 

Der Abschluss eines „Neueinstellungsvertrags“ (CPE) gibt das Recht auf Bezug von Arbeitslosengeld – im Falle einer Entlassung, die während der ersten beiden Jahre nicht durch besondere Gründe gerechtfertigt werden muss – bereits nach 4 Monaten, statt 6 Monaten bei sonstigen Arbeitsverträgen. Auch dies soll ein Zugeständnis darstellen. Allerdings muss man ein Auge auf die Höhe das dann zu erwartenden Arbeitslosengelds werfen, es beträgt in diesem Falle 460 Euro während zweier Monate. 

Den Arbeitgebern ihrerseits wird ein anderes De facto-Geschenk gewährt: Bei sämtlichen Arbeitsverträgen, die mit unter 26jährigen abgeschlossen werden (ob es sich um einen normalen unbefristeten Arbeitsvertrag, um einen „Neueinstellungsvertrag“ CNE oder um einen „Ersteinstellungsvertrag“ CPE handele), sofern die betreffende Person seit über 6 Monaten arbeitslos war, wird der Arbeitgebern während drei Jahren von sämtlichen Sozialabgaben befreit. 

„Seniorenverträge“ 

Bei den über 50jährigen stützt die Regierung sich sowohl auf die Erfahrung, dass diese zunehmende Schwierigkeiten beim Knüpfen eines neues Arbeitsverhältnisses haben - als auch auf den Tatbestand, dass viele verrentete Beschäftigte von ihrer Pension finanziell nicht auskommen können. Dies nimmt Premierminister Dominique de Villepin nun zum Anlass, um „die wichtige Grenze zwischen Arbeitsleben und Rente zu verwischen“, wie der als Vordenker gehandelte (und eher sozialliberale) CGT-Sekretär Jean-Christophe Le Duigou in „Le Monde“ zitiert wird. 

Schon heute können solche Beschäftigte, die auch über das legale Rentenalter (von derzeit 60 Jahren; infolge der „Rentenreform“ ist geplant, dass es in einigen Jahren 65 erreichen wird) und nach dem Erreichen von derzeit 40 Beitragsjahren zur Rentenversicherung (zukünftig 42,5 aufgrund der „Rentenreform“) hinaus weiter arbeiten, dadurch ihre Rente verbessern. Aufgrund des 2003 beschlossenen Gesetzes zur „Rentenreform“, das zum 1. Januar 2004 in Kraft getreten ist, können sie derzeit pro Vierteljahr 0,75 Prozent oder pro volles Jahr 3 Prozent zusätzliche Rentenprozente erreichen. Diese Zusatzrente für abhängig Beschäftigte, die über das „normale“ Rentenalter hinaus tätig bleiben, soll künftig angehoben werden. Es wird allerdings faktisch schwieriger werden, diese Möglichkeit einer Aufbesserung des eigenen Rentensatzes zu erreichen, aufgrund der Hinausschiebung des allgemeinen Renten-Eintrittsalters.  

Zu den sonstigen Maßnahmen gehört eine leichtere Vereinbarung von Rentenbezug und Einkommen aus Arbeitstätigkeit: War die Summe aus beiden bisher rechtlich auf das bisherige Arbeitsgehalt als Höchstsatz beschränkt, so soll die Grenze nunmehr aufgehoben werden. D.h. dass ältere Beschäftigte auch über den Beginn ihres Rentenbezugs hinaus weiter arbeiten und, zählt man die Pension und den Arbeitslohn zusammen, dabei mehr als das bisherige Arbeitsgehalt verdienen „dürfen“. (Eine andere Frage ist, ob dies wirklich positive Auswirkungen auf die Beschäftigung im allgemeinen hat…) Im Alter ab 60 Jahren soll zudem ein Halbzeitmodell eingeführt, das es Beschäftigten ermöglichen soll, während der halben Zeit Arbeitende und während der anderen Hälfte der Zeit Rentner/innen zu sein.

Ferner soll ein befristeter Arbeitsvertrag für die über 57jährigen eingeführt werden. Der Zeitvertrag soll für eine Dauer von 18 Monaten abgeschlossen, und ein mal verlängert werden können. 

Noch eine andere Maßnahmen betreffend die prekären Vertragstypen wird nicht an das Alter gebunden sein: Alle abhängig Beschäftigten (unabhängig von der Altersgruppen, aber de facto werden überwiegend Angehörige des weiblichen Geschlechtes betroffen sein), die in einem Teilzeitarbeitsverhältnisses stecken und – trotz anderslautenden Willens – nicht Vollzeit arbeiten können, „dürfen“ ihren Teilzeitvertrag künftig mit einem Zeitarbeitsverhältnis bei einer Zeitarbeitsagentur kombinieren. Ein schönes Puzzle. 

Reaktionen 

Alle ersten Reaktionen von gewerkschaftlicher Seite und aus der Arbeiterbewegung, die am Montag bekannt wurden, fielen kritisch bis negativ aus. Der öffentliche Radiosender „France Info“ ließ den sozialliberalen Gewerkschaftsbund CFDT zu Wort kommen (der eine „Ausweitung der Prekarität“ kritisierte) und zitierte ein Kommuniqué der trotzkistisch-undogmatischen LCR („De Villepin knallt das unbefristete Normalarbeitsverhältnis ab“). 

Von geplanten Protestmaßnahmen wurde zunächst noch nichts bekannt. Am 2. Februar planen mehrere Gewerkschaften ohnehin einen Aktionstag zum Thema der Lohnverhandlungen im öffentlichen Dienst, wie ebenfalls am Montag bekannt wurde. Möglicherweise eröffnet dies einen neuen Protestzyklus, aber man sollte sich wohl nicht zu früh freuen. 

Weitere Aussichten 

Premierminister de Villepin hat angekündigt bzw. angedroht, 2006 werde „ein nützliches Jahr“ sein. Damit hat er dem Eindruck vorgebeugt, aufgrund des heran nahenden „Superwahljahrs“ 2007 (Präsidentschafts- und Parlamentswahlen) würden im begonnenen Jahr keine wirtschaftsliberalen, in sozialer Hinsicht regressiven „Reformen“ durchgezogen. Der Premierminister, der bisher nicht offiziell Kandidat ist (im Gegensatz zu seinem hyper-ambitionierten Innenminister und Parteichef der UMP, Nicolas Sarkozy; allerdings möchte Amtsinhaber Chirac den amtierenden Premier gegen Sarkozy zu seinem Nachfolger aufbauen), sagt sich, er habe ohnehin persönlich bisher nichts zu verlieren. Für den weiteren Lauf dieses Jahres hat Dominique de Villepin bereits einen neuen Maßnahmenkatalog in Aussicht gestellt, dessen nähere Konturen in Bälde definiert werden sollen und der in ein paar Monaten vorgestellt werden wird. 

De Villepin hat bereits angekündigt, worum es gehen soll. Erstens soll „ein Nachdenken über die allgemeine Entwicklung der Arbeitsverträge in unserem Land“ stattfinden, das er vor dem Hintergrund „des Erfolgs des Neueinstellungsvertrags (CNE)“ lanciert wissen will. Das bedeutet konkret, dass über eine Ausdehnung der neuen Prekarisierungsmechanismen auf alle, unbefristeten, Arbeitsverhältnisse nachgedacht werden soll. Auf seiner Pressekonferenz deutete de Villepin an, es würden bei den „Konzertierungssitzungen“ mit den so genannten Sozialpartnern sowohl die Idee eines Einheitsvertrags – einer Fusion aus befristetem und unbefristetem zu einem einzigen, unter Auflösungsbedigungen stehenden Vertragstypus – als auch „eine Ausdehnung des Neueinstellungsvertrags CNE“ (über die kleinen und mittleren Betriebe hinaus) auf den Tisch gelegt werden. Letzteres bedeutet, die Schleifung des Kündigungsschutzes – zumindest während der ersten beiden Jahre des Arbeitsverhältnisses –auch auf die größeren Betriebe auszuweiten. 

Ferner soll „ein neues Regime für den Bruch von Arbeitsverhältnissen auf dem Verhandlungswege“ ausgehandelt werden. Das bedeutet, dass die Vertragsparteien die Anwendung des Kündigungsschutzes abbedingen können, indem sie sich von vornherein auf pauschale Abfindungssummen einigen. Und es soll, so Villepin am Montag, über eine „Erleichterung“ der Sozialabgaben für Überstunden (was die Anordnung von Überstunden durch den Arbeitgeber vereinfachen würde, letzterer würde dazu ermutigt) beraten werden.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde uns vom Autor am 17.1.2006 überlassen.