Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe
 
 
von
Max Beer
01/07

trend
onlinezeitung

III. NEUERE ZEIT
II. DIE BAUERNREVOLTEN

Zur Kapitelübersicht

1. Flandern

Die Masse der Bevölkerung Flanderns, zum größten Teile germanischen (friesischen) Ursprungs, gehörte zu den streitbarsten und auf ihre Freiheit eifersüchtigsten Völkerschaften in Westeuropa. Auf Grund der Verträge von Verdun (843) und von Mersen (870), die das Frankenreich Karls des Großen teilten, fiel Flandern an Karl den Kahlen, dessen Anteil den Kern Frankreichs bildete. Gleich den übrigen Lehnsträgern der französischen Krone benutzten die Markgrafen des Flandemgaues die Schwäche der Karolinger und handelten selbständig. Erst die Kapetinger, die Nachfolger der Karolinger, die nach und nach eine zentralisierende Staatspolitik anbahnten, machten energische Versuche, Flandern an Frankreich fester anzugliedern. Die Folgen dieser Versuche waren Kriege zwischen den Königen von Frankreich und den Grafen von Flandern.

Verwickelt wurde dieser politische Gegensatz durch die Klassenspaltung der flandrischen Bevölkerung. Der Aufschwung der flandrischen Wollweberei und des Tuchhandels, die Blüte der Städte, wie Brügge, Cent, Ypern, Kassel, Furnes usw. spaltete die städtische Bevölkerung in gegensätzliche Klassen: in Patrizier und minderbemittelte Zunftgenossen und Proletariat; auf dem Lande lösten die Bauern die Fronlasten ab und wurden zu Erbpächtern; im Nordwesten Flanderns, wo der Feudalismus nie Fuß faßte, vermehrte sich die Zahl der freien Bauern. Die Blüte der Städte wirkte auf die Bauern, die Lieferanten von Nahrungsmitteln und Rohstoffen, günstig zurück und sie wandten sich gegen die Ansprüche und Vorrechte des Adels, dessen Bestreben es war, durch seine politische und gesellschaftliche Stellung die alten wirtschaftlichen Abgaben und Dienste von den Bauern zu erlangen, die durch die Auflösung des Lehnsystems ihm verloren gingen. Die Patrizier und die Adeligen, in starker Minderheit gegenüber den Gewerbetreibenden und Bauern, suchten Schutz bei der französischen Krone und waren im allgemeinen französisch gesinnt, während die Bauern und die Masse der Zunftgenossen, also die arbeitenden Klassen, für die Unabhängigkeit ihres Landes eintraten und den Grafen von Flandern in seinem Kampfe gegen Frankreich unterstützten. Manche Geschichtsschreiber erblicken in diesen Konflikten einen Kampf zwischen der germanischen und romanischen Rasse; es ist jedoch klar, daß wir es hier mit einem Klassenkampfe zu tun haben, der durch dynastische Bestrebungen einen staatspolitischen Charakter erhielt.

Zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts waren die französisch-flandrischen Beziehungen sehr gespannt und bald brach der Krieg aus. Der zentralisierende König von Frankreich, Philipp der Schöne, dem wir schon (vgl. II. Teil) im Kampfe gegen das Papsttum begegneten, überzog Flandern mit Krieg. Die Adeligen und die Patrizier begrüßten enthusiastisch und begünstigten überall die französischen Truppen, die das Land besetzten, aber die flämischen Handwerker wußten sich zu wehren und schlugen die französische Ritterschaft aufs Haupt bei Courtray (1302). Der Krieg endete schließlich mit dem verräterischen Friedensvertrag von Athis (1304), der der Bevölkerung schwere Kriegsentschädigungen auferlegte. Die adeligen und patrizischen Freunde Frankreichs bildeten die „Reparationskommissionen" und wurden vom französischen Gouverneur Jacques de Chatillon begünstigt. Die arbeitende Bevölkerung seufzte unter den Lasten, machte sich von Zeit zu Zeit durch sporadische Aufstände Luft, inzwischen i organisierte Brügge einen allgemeinen Aufstand der " Volksmassen, der im Jahre 1323 ausbrach und mit wechselndem Erfolg bis 1328 dauerte. Die freien Bauern Westflanderns und die bäuerlichen Erbpächter Ostflanderns brachten die größten Opfer in diesem ersten Kriege des arbeitenden Volkes in Europa. In den Städten standen Brügge, Kassel, Ypern auf Seite der Bauern, Cent hingegen auf Seite der Adeligen und Patrizier. Das Papsttum und das französische Königtum fochten gegen das Volk: die Kirche durch den großen Bann (Interdikt), den sie über die empörten Gebiete verhängte, das Königtum durch militärische Hilfe, die es den Patriziern und Adeligen leistete, sowie durch das Verbot des Handelsverkehrs mit Flandern.

Aus den zeitgenössischen Chroniken läßt sich nicht ersehen, ob der Aufstand von sozialistischen oder ketzerisch-kommunistischen Beweggründen geleitet war. Aus den Beschwerden der Aufständischen geht nur hervor, daß die arbeitenden Massen sich gegen die Ausbeutung und Bedrückung durch die oberen Klassen empörten und jegliches Einkommen verdammten, das nicht durch eigener Hände Arbeit erworben wurde. Unter den Anführern des Aufstandes ragen der Bauer Nikolaus Zannekin und der Brügger Handwerker Jakob Peyt hervor. Zannekin klagte die oberen Klassen an, daß sie die alten Gebräuche und Gewohnheiten des flandrischen Volkes verachteten, während Jakob Peyt ganz entschieden ketzerischsozial war. Er wandte sich gegen die Reichen und gegen die Kirche und führte den Kampf mit ungeheurer Energie. Wer sich nicht offen und ehrlich für das gemeine Volk erklärte, wurde als Feind behandelt. Er erklärte den herrschenden Schichten: „Ihr kümmert euch viel mehr um die Gunst der Fürsten als um das Wohl der Gemeinschaften, von denen ihr euren Lebensunterhalt zieht." Peyt lehrte das Volk, den großen Bann des Papstes zu verachten, das Priestertum nicht anzuerkennen und nur Jesus, den Verfolgten und Gekreuzigten, im Geiste anzubeten und seinen Lehren zu folgen. Peyt wurde bald hierauf in Furnes meuchlings ermordet; das Volk aber verehrte ihn als einen Heiligen, insbesondere nachdem der Klerus beschlossen hatte, den Ermordeten als Ketzer zu behandeln und seinen Leichnam den Flammen zu überliefern.

In den ersten Jahren des Bauernkrieges hatten die Aufständischen erhebliche Erfolge zu verzeichnen. Ganz Flandern schien ihnen zuzufallen. Die geflüchteten Adeligen und Patrizier wirkten inzwischen in Paris, um die Könige von Frankreich: Karl IV. (1321—28) und Philipp von Valois (1328—1350) für einen Feldzug gegen die Aufständischen zu gewinnen, „die die ganze Gesellschaftsordnung bedrohten" (turbato ordine regiminis universi). In seinen ersten Regierungsjahren rüstete Philipp von Valois eine bedeutende Kriegsmacht aus, zog im Juni 1328 durch Arras nach Flandern, und mit Hilfe der Stadt Cent schlug er am 23. August 1328 die Aufständischen bei Kassel. An die 9000 Bauern und Handwerker fielen auf der Walstatt. Die Schlacht war entscheidend. Die aufständischen Städte ergaben sich auf Gnade und Ungnade. Der französische und flandrische Adel übte grausame Rache an den Überlebenden, selbst Frauen und Kinder wurden nicht verschont. Beschlagnahme der Güter der erschlagenen Aufständischen, Hinrichtungen der Rädelsführer, schwere Kriegskontributionen von den Städten brachen für einige Zeit den Mut der flandrischen Bevölkerung. Im Oktober 1328 war die Ordnung wiederhergestellt und der Papst gab — wenn auch unwillig — seine Zustimmung zur Aufhebung des großen Banns(1).

2. Frankreich: die Jacquerie

Der Sieg Philipps von Valois über Flandern verschärfte die ökonomischen Ursachen der englischfranzösischen Erbfolgekriege, die im Jahre 1339 begannen und mit Unterbrechungen an die hundert Jahre dauerten. England, der Hauptlieferant von Wolle an Flandern und einer der Hauptinteressenten am flandrischen Tuchhandel und an flandrischer Geschäftsblüte, blickte mit starkem Mißtrauen auf die Ansprüche Frankreichs auf Flandern. Und als nach der Schlacht von Kassel (1328) der König von Frankreich zum Herrn Flanderns wurde, verdichtete sich das englische Mißtrauen zu einer festen Politik: der König von England Eduard III. (1327—1377), der Begründer der englischen See- und Wirtschaftspolitik, erhob Anspruch auf die französische Krone. Im Jahre 1328 war der letzte Kapetinger, Karl IV., gestorben. Ihm folgte Philipp von Valois, einer Nebenlinie der Kapetinger, während Eduard der Dritte, als Enkel Philipps des Schönen, ebenfalls dem Königshause der Kapetinger angehörte. So entstand der sogenannte hundertjährige Erbfolgekrieg, in dessen Verlauf England die Grundlagen zu seiner See-und Wirtschaftsmacht schuf, und Frankreich seine Heeresmacht nach mehreren Niederlagen umgestaltete und die Grundlagen des französischen Militarismus aufrichtete. Der Anfang dieses langen Erbfolgekriegs sah auch große Allianzen und diplomatische Arrangements. Eduard III., der Schwager des Kaisers Ludwig des Bayern, bewarb sich um ein Bündnis mit Deutschland, schloß tatsächlich mit den flandrischen Städten eine Allianz, die ihm großen militärischen und wirtschaftlichen Nutzen brachte, und nahm den Titel König von Frankreich an(2). Sonst aber hat der Krieg an den Besitzverhältnissen der beteiligten Länder nichts geändert. Siege und Niederlagen glichen schließlich einander aus; überall aber litt, rebellierte und blutete das arbeitende Volk unter den Lasten und Anforderungen der Kriegspolitik. Und das französische Volk wurde zu Ende des schrecklichen Aderlasses schon so abergläubisch, daß es der Jungfrau von Orleans die Rettung des Vaterlandes von der Engländerherrschaft zuschrieb.

Nach einem Jahrzehnt von Vorbereitungen und Intrigen erklärte der englische König Eduard III. im Jahre 1339 den Franzosen den Krieg. 1340 kam es bei Sluys (Hafen von Brügge) zu einer großen Seeschlacht. Einen ganzen Tag schwankte der Sieg, bis das Eingreifen der flandrischen Flotte die Schlacht zugunsten der Engländer entschied. Die ganze französische Flotte mit 20000 Seeleuten wurde in den Grund gebohrt. So rächte sich Flandern an Philipp von Valois. 1346 vernichteten in der Schlacht bei Crdcy die englischen Bogenschützen einen großen Teil der französischen Ritterschaft; 1347 nahmen die Engländer Calais(3), das über zwei Jahrhunderte in ihrem Besitz blieb; 1356 siegte bei Poitiers eine englische Armee über das fünffach stärkere französische Heer; der französische König Johann der Gute wurde gefangen und nach England gebracht.

Die Folge dieser Kriege mit ihren Rüstungen, Bedrohungen, Niederlagen und Ausplünderungen durch die siegreichen Engländer war die Demoralisation des Adels und die Verarmung der arbeitenden Bevölkerung Nordfrankreichs. Das Ansehen der Krone sank; die Städte, bislang die festesten Stützen des Königtums, suchten sich selbständig zu machen. Räuberbanden, wohl organisiert und oft von bankerotten Adeligen geführt, durchzogen plündernd das Land; das Rauben wurde zu einem ertragsreichen Gewerbe; die Gutsherren preßten aus den Bauern, die sie spöttisch Jacques Bonhommes (dumme Michels) nannten, die letzten Überreste ihres Arbeitsertrags heraus. Ein Geist des Aufruhrs erfaßte Stadt und Land, — des Aufruhrs gegen König und Adel.

Das erste Zeichen gab Paris. Die Kaufleute und Innungen, an deren Spitze der hochsinnige Etienne Marcel stand, erzwangen 1357 vom Thronfolger (Dauphin) einen Erlaß, der die Regierungsgewalt von der Krone auf die Stände übertrug. Da aber der Adel und der Klerus ihre Unterstützung dem Bürgertum versagten, blieb der Erlaß ein toter Buchstabe. Gleichzeitig mit der Gärung in Paris wurde es auf dem Lande unruhig und im Mai 1358 brach bei Compiegne der Bauernkrieg aus, der sich rasch im nördlichen Gebiet von Paris bis Amiens ausbreitete und die Sympathien der arbeitenden Bevölkerung der Städte gewann; auch Etienne Marcel trat mit den Führern der Bauern in Verbindung, um zusammen der Mißwirtschaft des demoralisierten, unfähigen und räuberischen Adels ein Ende zu machen.

Der französische Bauernkrieg — Jacquerie genannt — war eine unorganisierte, elementare Empörung der ausgebeuteten und mißhandelten Jacques (Landleute) gegen ihre Peiniger. Irgendwelche Ideen von Freiheit und Gleichheit oder Spuren von ketzerisch-sozialen Strömungen fehlten ihm. Die Inquisition der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhundert hatte in Frankreich ihr Werk gründlich getan. Es gab viel soziale Ungerechtigkeit, viel Elend, aber keine Revolutionäre, keine Ketzer, keine Sozialreformer mehr unter den Bauern und der arbeitenden Bevölkerung der Städte. Nur unter dem Bürgertum waren einzelne Männer vorhanden, die nach bürgerlicher Freiheit verlangten, aber sie fanden keine Unterstützung. Der Adel hingegen, obwohl dem äußern Feinde nicht gewachsen, war noch stark und solidarisch genug, sobald es sich um die Niederwerfung des inneren Feindes handelte. Demoralisierte herrschende Klassen, insbesondere wenn sie zugleich mit der Militärmacht verbunden oder gar identisch sind, besitzen immer noch Kraft und Entschlossenheit genug, unorganisierte Volkserhebungen zu meistern und niederzuwerfen, um so mehr, wenn es nach den ersten Erfolgen nicht gelingt, tüchtige Führer für die entscheidenden Massenaktionen zu erhalten und den Klassenkrieg einheitlich zu organisieren.

Die Jacques in ihrer Empörung gingen mit den Edelleuten nicht zimperlich um; sie rächten sich an ihren Bedrückern, aber bald erhielten letztere die Oberhand. Die Bauernbewegung blieb auf das Gebiet zwischen Amiens und Paris beschränkt. In der dritten Juniwoche waren die Adeligen mit Hilfe der Regierungsgewalt in der Lage, zum Gegenangriff zu schreiten. Bei Meaux und Clermont-en-Beauvaisis lieferten sie den Aufständischen zwei Schlachten, in denen die schlecht bewaffneten Bauern zu Tausenden umkamen. Die ganze Jacquerie dauerte vom 21. Mai bis zum 24. Juni 1358. Die Niederwerfung des Aufstandes ging mit rücksichtslosester Grausamkeit vor sich. „Sogar die Engländer, die schlimmsten Feinde des Königreichs", bemerkt eine zeitgenössische Chronik, „hätten nicht so tyrannisch vorgehen können, wie die Edelleute gegen die Bauern vorgingen." Der Bauernführer Guillaume Calle (Charles) wurde — unter dem Vorwande des Abschlusses eines Waffenstillstandes — vom Dauphin Karl nach Paris gelockt, wo er unter schrecklichen Martern getötet wurde: man „krönte" ihn mit einem glühenden Dreifuß zum Bauernkönig und schlug ihm dann den Kopf ab. Alle Ansiedelungen der Bauern zwischen der Oise, Seine und Marne wurden mit Feuer und Schwert vernichtet. Frauen und Kinder wurden niedergemetzelt. In Strömen von Blut wurde die Jacquerie ertränkt(4).

Anmerkungen

1) H. Pirenne, Soulevement de la Flandre Maritime, Brüssel 1900; M. Kowalewsky, ökonomische Entwicklung Europas, Berlin 1909, Band 4; Warnkönig, Flandrische Staats- und Rechtsgeschichte, Tübingen 1835, Band I.

2) Seit jenem Jahre bezeichneten die Könige von England sich auch als Könige von Frankreich. Erst im Jahre 1820 verzichtete die englische Krone auf diesen Titel.

3) Die Engländer nannten dann Dover und Calais die beiden Augen Englands.

4)  S. Luce, Histoire de la Jacquerie, Paris, 2. Aufl., 1894.

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 242 - 249

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html