Vorbemerkung:
Die nachfolgenden Thesen wurden im Dezember 2006 für einen
Theoriearbeitskreis in Bochum geschrieben. Die hierin
angeschnittenen Fragestellungen halten wir für eine Bildungs-
und Schulungsarbeit generell für wichtig und haben daher Robert
Schlosser um seine Zustimmung gebeten, die Thesen
veröffentlichen zu dürfen. Um ihre Authentizität zur erhalten,
haben wir die Thesen nicht redigiert und auch den Anhang „Was
wir zunächst lesen und diskutieren sollten“ mitveröffentlicht.
(red. Trend)
1)
Zu Beginn seiner theoretischen Arbeit ging es Marx wie uns: er
stand vor der den ebenso ätzenden wie widersprüchlichen und in
ihrem inneren Zusammenhang schwer verständlichen Erscheinungen
der bürgerlichen Gesellschaft. Als er mit seiner Ökonomiekritik
begann, war er bereits revolutionär und gewappnet mit seinen
historisch-materialistischen Überzeugungen. Dass er das Kapital
ursprünglich Darwin widmen wollte, war auch kein Versehen.
Nicht
bloße Interpretation sondern Veränderung war sein Anliegen. Mit
seiner Ökonomiekritik wollte er die bestehende Ordnung aber
nicht einfach nur anklagen, sondern ihre Entwicklung verstehen
und ihre notwendige historische Vergänglichkeit wissenschaftlich
nachweisen. In seiner enormen Forschungsarbeit hat er sich in
die Theorie und Praxis bürgerlicher Ökonomie eingearbeitet, sich
mit zahllosen Details und allen möglichen Theorien auseinander
gesetzt. Nachdem er im Fortgang dieser Forschungsarbeit zu
bestimmten Ergebnissen, der Erkenntnis des ökonomischen
Bewegungsgesetzes der bürgerlichen Gesellschaft, gekommen war,
stellte sich die Frage, wie diese Ergebnisse einer breiteren
Öffentlichkeit darzustellen seien. Die Darstellung, für die er
sich entschied, entsprang ganz seiner Auseinandersetzung mit der
Hegelschen Dialektik. (Wesentlich in diesem Zusammenhang etwa
die berühmte Einleitung zu den „Grundrissen“, besonders der
Abschnitt „Die Methode der Politischen Ökonomie“.) Zahllose
Missverständnisse des „Kapital“ beruhen auf dem Unverständnis
gegenüber der dialektischen Entwicklung der Kategorien, dem
Plan, dem die Darstellung folgt und einem verkürzten politischen
Interesse für diese Revolution der Gesellschaftswissenschaft.
2)
Als Marx daran ging, den 1. Band des Kapital für den Druck
fertig zu redigieren, war seine Forschungsarbeit weitgehend
abgeschlossen und auch seine unvollendeten Manuskripte für Bd. 3
waren bereits „fertig“. In der Darstellung seiner
Forschungsergebnisse entschloss er sich für einen deduktiven
Weg, der alle wesentlichen Widersprüche der kapitalistischen
Vergesellschaftung aus der Ware, der entdeckten „Keimzelle“ all
dieser Widersprüche, ableitet. Die voll entwickelten
Widersprüche sind aber nicht identisch mit denen in der
„Keimzelle“ vorhandenen Widersprüchen. Sie werden in den 3
Bänden sukzessive entwickelt bis hin zu den vielfältigen
Erscheinungen an der Oberfläche (Zirkulation), wo sie sich den
Subjekten in ganz verquerer Form darstellen. Selbst der
Wertbegriff, diese „Fundamentalkategorie“, ist im ersten Band
nicht abschließend entwickelt.
Zum Beispiel:
„Es ist also nur das Quantum gesellschaftlich notwendiger
Arbeit oder die zur Herstellung eines Gebrauchwertes notwendige
Arbeitszeit, welche seine Wertgröße bestimmt.“ Kapital Bd. 1,
S. 54
“Obgleich jeder einzelne Artikel oder jedes bestimmte Quantum
einer Warensorte nur die zu seiner Produktion erheischte
gesellschaftliche Arbeit enthalten mag und von dieser Seite her
betrachtet der Marktwert dieser gesamten Warensorte nur
notwendige Arbeit darstellt, so ist doch, wenn die bestimmte
Ware in einem das gesellschaftliche Bedürfnis dermalen
überschreitendem Maß produziert worden, ein Teil der
gesellschaftlichen Arbeitszeit vergeudet, und die Warenmasse
repräsentiert dann auf dem Markt ein viel kleineres Quantum
gesellschaftlicher Arbeit, als wirklich in ihr enthalten ist.
(Nur wo die Produktion unter wirklicher vorherbestimmender
Kontrolle der Gesellschaft steht, schafft die Gesellschaft den
Zusammenhang zwischen dem Umfang der gesellschaftlichen
Arbeitszeit, verwandt auf die Produktion bestimmter Artikel, und
dem Umfang des durch diese Artikel zu befriedigenden
gesellschaftlichen Bedürfnisses.) Daher müssen diese Waren unter
ihrem Marktwert losgeschlagen, ein Teil davon kann selbst ganz
unverkäuflich werden.“ Kapital Bd. 3 S. 197
3)
Wer Engels’ Vorwort zum 3. Band aufmerksam gelesen hat, für den
verbietet sich jedes dogmatische Verständnis des „Kapital“ von
selbst. (Aufruf zur Entwicklung der Kritik der Politischen
Ökonomie) Es handelt sich nicht um eine abgeschlossen
entwickelte „Lehre“, die mensch sich einfach nur „aneignen“
bräuchte. Allerdings trifft heute der Bannfluch des Dogmatismus
(„Ewig-Gestrige“) bereits jeden, der es auch nur wagt, den
grundsätzlichen Ansatz zur Kritik der Politischen Ökonomie
(materialistisch begründete Werttheorie zur Erklärung der
widersprüchlichen Phänomene bürgerlicher Gesellschaften und
ihrer revolutionären Zuspitzung) für richtig, verteidigungswert
und Perspektiven eröffnend zu halten. Natürlich ist nichts
richtig, weil Marx es gesagt hat, aber heute erscheint es
umgekehrt modern gewendeten Linken schon als ausreichend
fragwürdig, wenn man seine Gesellschaftskritik unmittelbar auf
das Marxsche Kapital stützt.
4)
Zahllose Missverständnisse der Kritik der Politischen Ökonomie
als einer neuen Gesellschaftswissenschaft basieren auf einem
falschen Verständnis des „artistischen Ganzen“ als das Marx sein
Kapital einmal bezeichnete. Man kann den 1. Band des Kapital
nur richtig verstehen, wenn man das Gesamtwerk und speziell Bd.
3 kennt. (Wert-Preis-Problematik, Organische Zusammensetzung-,
Akkumulationsproblematik, daran anknüpfend Produktionspreise und
Wert, Durchschnittsprofitrate etc.)
Dieses
„artistische Ganze“ analysiert zunächst Produktion und
Zirkulation des Kapitals als je besondere Momente des
kapitalistischen Reproduktionsprozesses (Band 1 und 2) und
arbeitet erst im 3. Band die konkreten Formen heraus, welche
„aus dem Bewegungsprozess des Kapitals als Ganzem hervorwachsen“.
“Im ersten Buch wurden die
Erscheinungen untersucht, die der kapitalistische
Produktionsprozeß, für sich genommen, darbietet, als
unmittelbarer Produktionsprozeß, bei dem noch von allen
sekundären Einwirkungen ihm fremder Umstände abgesehn wurde.
Aber dieser unmittelbare Produktionsprozeß erschöpft nicht den
Lebenslauf des Kapitals. Er wird in der wirklichen Welt ergänzt
durch den Zirkulationsprozeß, und dieser bildete den Gegenstand
der Untersuchungen des zweiten Buchs. Hier zeigte sich,
namentlich im dritten Abschnitt, bei Betrachtung des
Zirkulationsprozesses als der Vermittlung des gesellschaftlichen
Reproduktionsprozesses, daß der kapitalistische
Produktionsprozeß, im ganzen betrachtet, Einheit von
Produktions- und Zirkulationsprozeß ist. Worum es sich in
diesem dritten Buch handelt, kann nicht sein, allgemeine
Reflexionen über diese Einheit anzustellen. Es gilt vielmehr,
die konkreten Formen aufzufinden und darzustellen, welche aus
dem Bewegungsprozeß des Kapitals, als Ganzes betrachtet,
hervorwachsen. In ihrer wirklichen Bewegung treten sich die
Kapitale in solchen konkreten Formen gegenüber, für die die
Gestalt des Kapitals im unmittelbaren Produktionsprozeß, wie
seine Gestalt im Zirkulationsprozeß, nur als besondere Momente
erscheinen. Die Gestaltungen des Kapitals, wie wir sie in
diesem Buch entwickeln, nähern sich also schrittweis der Form,
worin sie auf der Oberfläche der Gesellschaft, in der Aktion der
verschiedenen Kapitale aufeinander, der Konkurrenz, und im
gewöhnlichen Bewußtsein der Produktionsagenten selbst
auftreten.“ Kapital Bd. 3 S. 33
5)
Tatsächlich aber war und blieb Band 1 die „Bibel“ nicht nur der
alten Arbeiterbewegung, sondern auch der sich darauf beziehenden
Wiederbelebungsversuche in den 70iger Jahren des vorigen
Jahrhunderts. Über Lektüre und Diskussion des 1. Bandes sind die
meisten nicht hinausgekommen. Er lieferte scheinbar alles, was
man für den „Klassenkampf“ brauchte (Kritik der Ausbeutung). Mit
dem Scheitern der Widerbelebungsversuche, dem Ausbleiben des
erhofften „Erwachens des Proletariats“, schien auch das
vermeintlich angeeignete theoretische Werkzeug endgültig
erledigt.
Befähigung
zu sozialrevolutionärer politischer Intervention setzt
zuallererst Fähigkeit zur Kritik voraus! Scheut man die Mühen
des Verstehens (wissenschaftliche Theorie verlangt
entsprechendes Studium), der Aneignung des dafür nötigen
Wissens, hält man das für intellektuellen Quatsch, sucht man
immer nur nach unmittelbar Anwendbarem, ist man in dieser
verkürzten Weise „Praxis bezogen“, dann kann bei alldem nicht
viel rum kommen. Die praktische Agitation, denn das war die
überwiegende Praxis, war oft, wenn nicht meist platt, kam ohne
mühselige Recherche aus und zeugte von arg verkürztem
Verständnis des Kapitalverhältnisses.
Die nahezu vollständige Abwendung von der Kritik der Politischen
Ökonomie, die mit dem 1. Band des Kapital verknüpft war, war die
Folge des praktischen Scheiterns von dogmatischem Kommunismus.
(Auch heute noch kann man sich bei Gelegenheit von ehemals
„profunden“ Kennern des 1. Bandes des Kapitals anhören, dass das
alles Schnee von gestern sei.)
6)
Verdinglichung und Mystifikation, objektive Gedankenformen
Die „Wiederentdeckung“ des Warenfetischismus in seiner Bedeutung
für aktuelle Gesellschaftskritik und Verständnis
gesellschaftlicher Entwicklung für Teile der Linken kann man der
„Krisis“ nicht absprechen. Mit ihren Arbeiten reproduzierte sie
aber zugleich in verschärfter Form die bornierten Fehler ebenso
überkommener wie verkürzter Marxrezeption, in dem sie nun in
vollständiger Verkennung der komplexen Zusammenhänge des
Kapitals alles unmittelbar aus der Warenanalyse ableiten wollte.
(Insofern gehört die „fundmentale Wertkritik“ noch ganz zum so
vehement kritisierten „Traditionsmarxismus“.) Auch
Verdinglichung und Mystifikation sind erst vollständig
entwickelt auf der Darstellungsebene des 3. Bandes. Wer den
Abschnitt über die Trinitarische Formel gelesen hat, wird
sofort feststellen, wie ungeheuer flach die „fundamentale
Wertkritik“ ist. In ihr wird nicht - der Realität folgend –
entwickelt, sondern zwanghaft konstruiert. Sie nennen es „Kraft
der Abstraktion“ wenn sie alle Ausdifferenzierungen des
Wertverhältnisses weg retouchiert, und bombastische Worthülsen
gefunden haben, in denen angeblich alles aufgeht. Der einfache
Warenfetisch als „Weltformel“, die nicht dadurch richtiger wird,
dass man ihr (ausgerechnet den Kapitalfetisch ignorierend) alle
möglichen und unmöglichen Fetische hinzufügt („Arbeitsfetisch“
usw.)
In dem Abschnitt über die „Trinitarische
Formel“ schreibt Marx:
“Die Vulgärökonomie tut in
der Tat nichts, als die Vorstellungen der in den bürgerlichen
Produktionsverhältnissen befangenen Agenten dieser Produktion
doktrinär zu verdolmetschen, zu systematisieren und zu
apologetisieren.“
Im
modernen Neoliberalismus wird diese Vulgärökonomie mit aller
Konsequenz ausgedrückt. So leicht deren Dummheiten in Gestalt
durch und durch ideologisierten Denkens, das sich gern
„Pragmatismus“ nennt, aufgezeigt werden können, so schwer ist
dem darauf getrimmten Alltagsverstand offenbar beizukommen. Die
Agenten der Produktion sind in ihren Produktionsverhältnissen
befangener denn je. Marx nennt es auch die „Religion des
Alltagslebens“ und diese Kennzeichnung sollte man ernst
nehmen. Dem Glauben nämlich ist schwer mit Verstand beizukommen
und der Weg zurück von dieser Alltagsreligion zu den
alt-ehrwürdigen „Sonntagsreligionen“ ist nicht weit, wenn der
Alltag die damit verknüpfte (ökonomische) Religion lügen straft.
(Die Rückkehr des christlichen Fundamentalismus).
Heute sind
in der Tat „die Naturnotwendigkeit und ewige Berechtigung
ihrer (der herrschenden Klassen, R.S.) Einnahmequellen“
nicht nur proklamiert sondern zum allgemein akzeptierten Dogma
erhoben (Marx). „Profit“ (womit Profit, Zins und Rente gemeint
ist) muss sein, dass hat auch der letzte „Malocher“ kapiert.
7) Fall
der Profirate und gesellschaftliche Entwicklung
Im akademischen
Marxismus hatte sich seit langem eine Position herausgeschält
und festgesetzt, die das Gesetz vom tendenziellen Fall der
Profitrate in Frage stellte (ausgehend von der sogenannten
Wert-Preis-Transformationsproblematik, den Kritiken der Herren
Bortkiewicz, etc.).
Die
positive Bezugnahme auf dieses Gesetz, dass Marx selbst als
das wichtigste Gesetz der kapitalistischen Produktionsweise
bezeichnete, kam zum Abschluss mit der Arbeit von Krüger
„Allgemeine Theorie der Kapitalakkumulation“(1986). (Heinrich
zum Trotz: Ohne Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate
keine Kritik der Politischen Ökonomie!) Danach verstummte diese
Richtung nahezu vollkommen. Michael Heinrichs grundlegende
Attacke mit seiner „Wissenschaft vom Wert“ blieb bereits
weitgehend unbeantwortet im Niedergang.
Auf mich
wirkte daher Rainer Roths „Kartenhaus“ wie ein Paukenschlag, mit
dem sich die Kritik der Politischen Ökonomie zurückmeldete, auch
wenn das Buch in seiner Bedeutung schon gar nicht mehr
wahrgenommen werden konnte und mir keine Diskussion darüber
bekannt ist. Das sagt bereits alles aus über den geistigen
Zustand, in dem wir uns befinden. Rainer Roths „Kartenhaus“ und
„Nebensache Mensch“ beweisen, wie lebendig und zeitgemäß die
Kritik der Politischen Ökonomie ist. Es gibt momentan nichts,
was sich damit in seiner Trefflichkeit und Überzeugungskraft
vergleichen ließe. Nirgendwo sonst ist die wirkliche soziale
Misere, die gesellschaftlichen Entwicklungstendenz in
kapitalistischen Ländern beispielhaft (Deutschland) so
vorgeführt und auf ihren Begriff gebracht. Die Bücher setzen an
den „brennenden gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit“ an und
beantworten sie schlüssig. Totgesagte (Kritik der Politischen
Ökonomie) leben länger, auch wenn die Dummheit sie totschweigt!
Typisch
für die akademische Diskussion blieb die Ferne zur
gesellschaftlichen Realität, ihre davon weitgehend losgelösten
Fragestellungen (rein metatheoretischer Disput). Liest man den
von Engels redigierten Originaltext im Kapital Bd. 3, so fällt
zuallererst auf, wie sehr die von Marx aus dem Gesetz des
tendenziellen Falls der Profitrate abgeleiteten
widersprüchlichen Erscheinungen kapitalistischer Entwicklung mit
den Erscheinungen des heutigen Kapitalismus seit der
Weltwirtschaftskrise von 1974/75 korrespondieren. Doch selbst
diese Plausibilität interessierte überhaupt niemanden mehr, sie
gab nicht einmal Anlass zu theoretischer Reflexion über den
logischen inneren Zusammenhang der Phänomene. Rainer Roth
schaffte es nicht nur, einen empirischen Nachweis für den
tatsächlichen Fall der Profitrate zu entwickeln, er
interpretierte auch wesentliche Erscheinungen und vor allem den
daraus resultierenden „Staatsbankrott“ und „Klassenkampf“ von
oben in diesem Kontext schlüssig aus einem ökonomischen
Bewegungsgesetz.
8)
Klassenanalyse
"Alle
bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im
Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die
selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der
ungeheuren Mehrzahl." (Marx/Engels, "Kommunistisches
Manifest")
Was ist
nicht alles zur Klassenanalyse geschrieben worden, welche
Kriterien wurden nicht bemüht, um die Hauptklassen der
bürgerlichen Gesellschaft zu kennzeichnen. Der für mich
auffallendste Fehler dabei ist verbunden mit dem Gebrauch des
Wortes "Arbeiterklasse", wobei die Klasse mehr und mehr im
"Arbeiter" verschwand. Wenn man den "Arbeiter" und damit die
Arbeit zum Ausgangspunkt der Klassenanalyse macht, kommt man
natürlich in arge Klemmen der Klassenanalyse. Schließlich ändert
sich in der bürgerlichen Gesellschaft nichts so dramatisch und
schnell wie die Arbeit (Gleichgültigkeit gegen die besonderen
Formen der Arbeit). So besteht denn auch ein großer Teil
klassenanalytischer Arbeit in ständigen Versuchen die
Veränderungen der industriellen Arbeit nachzuzeichnen. Ein
"Arbeiter" war natürlich immer jemand, der Handarbeit leistete
und im "produzierenden Gewerbe" tätig war. Mehr oder weniger
unterschwellig geisterten die Begriffe der bürgerlichen
Soziologie durch die Klassenanalyse. Mit einer solchen Art von
Klassenanalyse bekam mensch natürlich Schwierigkeiten noch
irgendwo eine "ungeheure Mehrzahl" der Dazugehörigen ausfindig
zu machen. In den hochentwickelten Ländern wurde diese
"Arbeiterklasse" ja offensichtlich immer kleiner.
Soweit
sich Klassenanalytiker überhaupt unmittelbar auf Kategorien der
Kritik der Politischen Ökonomie beriefen, wurde meist die
Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit zum
entscheidenden Kriterium einer Zuordnung zur "Arbeiterklasse".
Nun ist die Unterscheidung zwischen kapitalproduktiver und
unproduktiver Lohnarbeit zwar von zentraler Bedeutung für das
Verständnis des Gesamtreproduktionsprozesses, in dem zwischen
Produktions- und Zirkulationsprozess, zwischen Produktion und
Realisierung des Mehrwerts zu unterscheiden ist, aber gerade
deshalb eignen sich diese Kategorien nicht zur Kennzeichnung der
Hauptklassen der bürgerlichen Gesellschaft.
Die
Klasse, die ihren Gegensatz als Kapital erzeugt, muss beides
leisten, sie muss den Mehrwert produzieren und sie muss all jene
Zirkulationsarbeiten verrichten, die die Realisierung des
Mehrwerts ermöglichen.
Im Kontext
der Klassenanalyse wird auch immer wieder darauf verwiesen, dass
Marx ja keine ausgearbeitete Klassenanalyse hinterlassen habe
und es wird auf den letzen Abschnitt im 3. Band des Kapital
verwiesen, der die Überschrift "Die Klassen" trägt und dann
schon nach einer Seite abbricht. Ich sehe allerdings in der
ganzen Kritik der Politischen Ökonomie eine ausgewiesene
Klassenanalyse der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die
Marx sehr prägnant in eben jenem Abschnitt gleich zu Beginn auf
den Punkt bringt:
"Die Eigentümer von bloßer
Arbeitskraft, die Eigentümer von Kapital und die
Grundeigentümer, deren respektive Einkommensquellen Arbeitslohn,
Profit und Grundrente sind, also Lohnarbeiter, Kapitalisten und
Grundeigentümer, bilden die 3 großen Klassen der modernen, auf
der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden Gesellschaft."
(Marx, Kapital Bd. 3, Seite 892)
Was hier
geschrieben steht, bringt klassenanalytisch auf den Punkt, was
auf 891 Seiten davor entwickelt wurde. Und wer dieser
Klassenanalyse folgt wird sehr rasch feststellen, dass die
Mehrheit immer größer wird, die zur Klasse der LohnarbeiterInnen
gehört, unabhängig davon ob die Arbeit selbst kapitalproduktiv
oder -unproduktiv ist, unabhängig davon, ob Kopf- oder
Handarbeit geleistet wird etc.
Engels schrieb in seinem
Vorwort zum 3. Band des Kapital zur Klassenanalyse sehr
zutreffend: “Vom letzten Kapitel existiert nur der Anfang.
Hier sollten die den drei großen Revenueformen: Grundrente,
Profit, Arbeitslohn entsprechenden drei großen Klassen der
entwickelten kapitalistischen Gesellschaft - Grundeigentümer,
Kapitalisten, Lohnarbeiter - und der mit ihrer Existenz
notwendig gegebne Klassenkampf als tatsächlich vorliegendes
Ergebnis der kapitalistischen Periode dargestellt werden.
Dergleichen Schlußzusammenfassungen pflegte Marx sich für die
Schlußredaktion, kurz vor dem Druck, vorzubehalten, wo dann die
neuesten geschichtlichen Ereignisse ihm mit nie versagender
Regelmäßigkeit die Belege seiner theoretischen Entwicklungen in
wünschenswertester Aktualität lieferten.“
Danach
lassen sich die Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft
eindeutig an den Revenueformen, also den Formen des
Geldeinkommens festmachen, die sich wiederum aus den
Produktionsverhältnissen ergeben, also der Stellung der Menschen
im Produktionsprozess, zu den Produktionsmitteln. Es ging in dem
Kapitel über die Klassen also nur noch um eine Zusammenfassung,
nicht um die Entwicklung einer „Klassenanalyse“ jenseits des
bereits entwickelten.
Durch besonders "pfiffige" Einwände gegen solche
Klassenanalyse hat sich auch hier die "fundamentale Wertkritik"
hervorgetan. Auch die Manager seien schließlich lohnabhängig.
Eine solche Argumentation weiß weder etwas davon, was der Lohn
ist, noch was Abhängigkeit bedeutet. Der Lohn ist der Preis der
Ware Arbeitskraft, der durch ihren Wert, sprich ihre
Reproduktionskosten bestimmt wird. Aus der puren Notwendigkeit
nichts zu besitzen als die eigene Arbeitskraft erwächst der
Zwang, sich zu einem Lohn zu verkaufen, der die
Reproduktionskosten für das eigene Leben abdeckt. (Nicht
misszuverstehen, als physisches Minimum, was aber auch nicht
ausgeschlossen ist!) Allein auf einem solchen Lohn basiert die
Abhängigkeit. Wer "Leistungsprämien" in Millionenhöhe erhält,
bekommt weder einen Lohn, noch ist er abhängig. Es macht den
Managern nichts aus auch mal längere Zeit auszusetzen, oder nach
wenigen Jahren "Lohnarbeit" ganz aufzuhören.
In der Marxschen Bestimmung der Hauptklassen der bürgerlichen
Gesellschaft, die sich aus ihrer Stellung im kapitalistischen
Produktionsprozess und der entsprechenden Revenueform ergeben,
fehlt aber leider ein Aspekt, den ich hier gern ergänzen würde,
weil er aus meiner Sicht von großer Bedeutung ist. Aus der
Abhängigkeit vom Lohn und dem Zwang zur Lohnarbeit erwächst auch
der Zwang, sich dem Kommando des Kapitals über die eigene
Arbeitskraft zu unterwerfen. Für das Verständnis der Klassenlage
der Manager ist das sowie so von großer Bedeutung, aber es
spielt auch eine Rolle für die Klassenlage von LohnarbeiterInnen.
Es gibt verschiedene Kategorien von LohnarbeiterInnen, deren
Lohn durchaus nur die Reproduktionskosten abdeckt, die aber
Funktionäre des Kapitals sind und unmittelbare Kommandomacht
über andere Lohnabhängige ausüben. Daraus ergeben sich
zweifellos besondere Interessen, auch besonders widersprüchliche
Interessen, die ich hier nicht weiter kommentieren will.
Warum diese Bemerkungen zur Klassenanalyse?
Die
"Bildung des Proletariats zur Klasse" setzt eine entsprechende
Klassenanlyse und daran anknüpfende Politik in Gestalt konkreter
Forderungen voraus. Die "Bildung des Proletariats zur Klasse"
verlangt Konzentration auf die sozialen Klasseninteressen, die
sich aus der Lohnabhängigkeit ergeben. Orientierung auf
bestimmte Sonderinteressen von Kopf- oder Handarbeitern, auf
Interessen, die sich aus Besonderheiten der konkreten Arbeit
beziehen, die die Lohnabhängigen verausgaben müssen, dürfen für
KommunistInnen keine Rolle spielen, wenn sie die Mehrheit im
Auge haben und auf "Organisation des Proletariats zur Klasse"
wirklich aus sind. Es geht um "Arbeit überhaupt" in der Form der
Lohnarbeit, gleichgültig wie der Arbeitsprozess im einzelnen
Aussehen mag. Die asozialen Tendenzen der Lohnarbeit sind
überall die gleichen. Überall entwickelt das Kapital
Bestrebungen, die Löhne zu senken, die Arbeitszeit zu
verlängern, soziale Leistungen abzubauen etc. Nur wer diese
wesentlichen, alle Lohnabhängigen betreffenden sozialen
Missstände zum Gegenstand der Kritik und zum Anlass von
übergreifenden Forderungen macht, hat die Chance auf eine
praktische Perspektive.
Ob diese objektiv existierende Klasse der LohnarbeiterInnen oder
Lohnabhängigen eine sozialrevolutionäres Subjekt werden können,
hängt von Verständigungsprozessen über gemeinsame Interessen ab.
Es müsste vorrangiges Ziel der KommunistInnen sein, diesen
Verständigungsprozess zu organisieren. Alle bedeutenden sozialen
Auseinandersetzung im Kapitalismus resultieren aus dem Prozess
der Verwertung von Wert und den darin eingebundenen
gegensätzlichen Klassenlagen von "Eigentümern von nichts als
Arbeitskraft" und "Eigentümern von Kapital und Grundeigentum".
Alle Versuche, sozialrevolutionäre Bestrebungen außerhalb dieser
Klassengegensätze anzustoßen sind für mich Ausdruck eines
Sektierertums, das zur Lösung der "sozialen Frage" von
vornherein und prinzipiell unfähig ist.
Sich über die aus der Kritik der Politischen Ökonomie ergebende
Klassenanalyse Klarheit zu verschaffen ist aber auch noch aus
einem anderen Grunde wichtig:
Überall
da, wo das Kapitalverhältnis nicht vollständig entwickelt ist,
bilden diese 3 Hauptklassen nicht die Mehrheit der Bevölkerung.
Nimmt man es ernst mit dem Wissenschaftsanspruch der Kritik der
Politischen Ökonomie und daraus ableitbarer Klassenpolitik, dann
kann eine kommunistische Perspektive nur aus der Entwicklung der
durchkapitalisierten bürgerlichen Gesellschaften entstehen. In
Ländern mit überwiegend agrarischem Kleineigentum, in denen
Subsistenzproduktion für große Teile der Bevölkerung noch
wesentlich ist für die eigene Reproduktion, kann es keine
unmittelbar praktische kommunistische Perspektive geben. Wird
sie dennoch behauptet, dann führt das eben zu Resultaten, wie
wir sie aus Russland und China kennen, den beiden „großen
Leuchtfeuern des Sozialismus“. Letztlich bleibt immer die
objektive Reife für bestimmte gesellschaftliche Umwälzung
entscheidend, nicht die vermeintliche subjektive Stärke, die aus
der mehr oder weniger zufälligen Zuspitzung gesellschaftlicher
Widersprüche erwächst. Alle „Imperialismustheorie“ nach Marx hat
mehr oder weniger konsequent mit der werttheoretisch begründeten
Kapitalkritik gebrochen und ist zu bloßer „Klassenkampftheorie“
verkommen. Das Resultat ist ein einziger riesiger Trümmerhaufen
für das Projekt sozialer Emanzipation, den Generationen wieder
abtragen müssen.
+++++
Was wir
zunächst lesen und diskutieren sollten (ein Vorschlag):
Ich würde
mit 2 kurzen Abschnitten am Schluss beginnen und zwar mit
„Die Trinitarische Formel“ und „Distributionsverhältnisse
und Produktionsverhältnisse“.
Beides
eignet sich gut, um so ein paar ganz grundsätzliche Fragen zu
diskutieren und womöglich zu klären, oder für weiteren
Klärungsbedarf festzuhalten.
Selbstverständlich wären dann „Das Gesetz des tendenziellen
Falls der Profitrate“ und noch näher zu bestimmende
Abschnitt über zinstragendes Kapital und Bankkapital etwas
ausführlicher zu diskutieren.
Ausgehen
von der Plausibilität und Aktualität, in der Marx hier bestimmte
Phänomene einordnet, wäre es vielleicht sinnvoll auf
verschiedene Einzelfragen näher einzugehen und dazu neben
bestimmten Abschnitten aus Band 3 auch welche aus Band 1 und 2
hinzu zu ziehen (etwa das „Allgemeine Gesetz kapitalistischer
Akkumulation“.)
Vom Ansatz
her würden wir uns sozusagen von gewissen plausiblen Ergebnissen
der Theorie (Einordnung widersprüchlicher
Oberflächenerscheinungen) wieder bestimmten theoretischen
Grundfragen nähern, wie sie besonders im 1. Buch des 1. Bandes
behandelt werden.)
Bochum, den 10.12.2006
Robert
Editorische Anmerkungen
Robert Schlosser gab uns Ende Dezember 2006
seine Thesen zur Veröffentlichung.