USA: Die drei kleinen Geheimnisse einer defizitfinanzierten Importökonomie

Von Joseph Halevi

01/08

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Die seit rund sechs Monaten offen zutage tretende Finanzkrise in den Vereinigten Staaten beleuchtet den tatsächlichen Charakter der Globalisierung, deren zentrale Achsen China, die Auslandsverschuldung der USA sowie die Verschuldung der amerikanischen Privathaushalte sind.

Das Erstere hat eine absolute Neuheit für den Kapitalismus geschaffen. Endlich kann das System auf marxistische Weise funktionieren und sich systematisch auf eine industrielle Arbeitsarmee stützen, die gegen diejenige der entwickelten Staaten aktiv wirksam ist und nicht nur das. Da China über die Mehrheit der Stränge verfügt, die Input für die anderen Branchen produzieren, werden die niedrigen Arbeitskosten bei einem Großteil der Produktionsverbindungen genutzt und nicht nur in der Endfertigung. Die in China für die multinationalen Konzerne produzierten Waren können somit in punkto Masse und Profitrate auch mit den in Indonesien hergestellten Waren konkurrieren, obwohl die Löhne dort sehr viel niedriger sind. Lichtjahre von der Branchenvielfalt Chinas entfernt, verfügt Indonesien nicht über die materielle Basis, um ähnliche wirtschaftliche Dimensionen zu erreichen.

Chinas kapitalistische Transformation ist ein von den chinesischen Behörden restriktiv gesteuerter Prozess. Allerdings findet dies nicht in einseitiger Weise statt. Es geschieht auch in direkter Verbindung zu den Interessen der USA. Da braucht man sich nur die Phasen anzuschauen, die – wenige Jahre nach dem Start der vier Modernisierungen durch Deng Xiaoping – zur schnellen Zuerkennung der Meistbegünstigungsklausel für die Volksrepublik China (VRC) durch Washington im Jahr 1982 führten. Dasselbe lässt sich für den Inhalt der Verhandlungen sagen, die in Pekings Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) mündeten. Die Unternehmen, die in den USA Leute entlassen, Arbeiten verlagern und in China durch Subunternehmer erledigen lassen, ziehen daraus unmittelbaren Gewinn. Während sich die Auswirkung auf die Kaufkraft, also die Nachfrage, erst nach einer gewissen Zeit bemerkbar macht. Hier tritt sowohl die Frage der Auslandsverschuldung als auch die der Überschuldung der Privathaushalte auf den Plan und verändert die zeitliche Dimension des Problems.

Wie Alan Greenspans Vorgänger als US-Zentralbankgouverneur, Paul Volker, erläuterte, hat die gewerkschaftsfeindliche Politik der Reagan-Administration die kontinuierliche Deflation der Löhne in Gang gesetzt und zwar – füge ich hinzu – dank der Deindustrialisierung und der daraus folgenden Auslandsverschuldung. Die Deindustrialisierung hat die Zusammensetzung der Beschäftigung verändert und sie hin zu Branchen mit "flexiblen" Stellen und Löhnen polarisiert. Seit mittlerweile 30 Jahren liegen die Erhöhungen der Löhne und Gehälter der abhängig Beschäftigten in den USA nur geringfügig über dem Wertzuwachs der Produktion. Den Berechnungen des "Economic Report of the President" für 2007 zufolge liegen die realen Wochenlöhne heute noch unter denen von 1973. Hätte es die Verschuldung der Privathaushalte nicht gegeben, wäre die US-Ökonomie in eine schwere Depression gestürzt. Weder die Investitionen noch die öffentliche Verschuldung konnten nämlich jemals die Kluft zwischen dem verfügbaren Einkommen der Familien und dem Wert der Produktion schließen. Mit der privaten Verschuldung und dem öffentlichen Geldregen auf das Finanzsystem im Verlauf jeder Krise (1987 Einbruch an der Wall Street, 1989 US-Sparkassenkrise, 1995 Mexiko-Krise, 1998 Long Term Capital, 2001 Einbruch der New Economy, 2007 … Subprime-Krise), schien die Stabilität des Systems gesichert, vorausgesetzt, dass die Anderen mitspielten und das US-Defizit finanzierten.

Die Importe aus China ermöglichen es, drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Wal Mart, der größte Arbeitgeber in den Vereinigten Staaten, liefert das beste Beispiel dafür. Niedrige Löhne für die eigenen Beschäftigten in den USA, quasi eine Monopolstellung gegenüber den chinesischen Lieferanten und Import von Waren, die zu chinesischen Löhnen produziert wurden. Dies sind die drei wichtigsten Faktoren des niedrigen Inflationsniveaus bei den laufenden Preisen. Die Transformation der USA in eine globale Importökonomie stellt das Land in den Mittelpunkt der weltweiten Nachfrage und schafft ein Mitinteresse der Regierungen daran diese Stellung nicht zu untergraben.

Allem Gejammer zum Trotz ist der Rest der Welt (mit Japan und China an der Spitze) bereit das US-Defizit zu refinanzieren, indem sie beim Kauf der amerikanischen Staatsanleihen richtig abräumen, auch um die Abwertung des Dollars in Grenzen zu halten. Die große weltweite Nachfrage nach US-Schatzbriefen treibt deren Preis in die Höhe und verringert damit automatisch den langfristigen Zinssatz, der dazu dient die Höhe der Kreditzinsen festzulegen. Das zunehmende Gefälle zwischen dem Wert der Produktion und den Löhnen drängt sowohl die Banken dazu neue Kredite bereitzustellen als auch die Privathaushalte dazu, sich weiter zu verschulden.

Nötig wäre jedoch ein machbarer Zinssatz. Wenn kein fremdes Land die Washingtoner Anleihen haben wollte (wie es bei den mexikanischen, argentinischen und brasilianischen Defiziten <an einem bestimmten Punkt> der Fall war) könnten die US-Unternehmen nicht drei Fliegen mit einer Klappe schlagen und wären die Kreditzinsen nicht erschwinglich. Jetzt muss man sich, je mehr die private, interne und externe Verschuldung zunimmt, umso stärker gegen die Risiken und Unsicherheiten absichern (inklusive der mit dem Wechselkurs verbundenen) und ist es umso mehr nötig, Geld aus dem Ausland anzulocken und damit die Aussicht auf einen umso größeren künftigen Mehrwert zu schaffen – vor allem wenn die Versorgung mit Hypothekendarlehen die Nachfrage nach Häusern und Eigentumswohnungen steigen lässt und eine Inflation bei den Immobilienwerten schafft.

Das ist der Punkt, an dem der Mechanismus der "kollateralen Altpapiers" ausgelöst wird, von dem man bereits (in "il manifesto" vom 27.12.2007) die Rede war. Dieser Mechanismus ist notwendig, weil die weltweite Verbreitung dieses Altpapiers, das zum Beispiel von einigen deutschen Landesbanken gekauft wurde, Geld in Richtung USA lenkt und die "Verteilung des Risikos" ermöglicht, und damit die Abrechnung mit der Realität hinauszögert. Wenn diese sich dann manifestiert, gewinnt die Bereitschaft, die Betrüger – die dann das Finanzsystem selbst sind – zu finanzieren, problemlos die Oberhand. Dennoch sorgt, wie wir im Anschluss sehen werden, die Tiefe der Krise, gerade vonseiten multinationaler US-Konzerne, für Veränderungen, was die Bewertung der zentralen Rolle der USA anbelangt.

Dank der "souveränen Fonds" träumen manche vom Decoupling

Staatlicher Finanzkapitalismus (also kein Keynesianismus oder öffentlicher Industrialismus) und China werden immer mehr zu den Themen, um die die Problematik der Globalisierung kreist. Martin Wolf, der wichtigste Wirtschaftsredakteur der "Financial Times", stellte sich die Frage, ob dieser Begriff noch den Triumph der Marktwirtschaft auf Weltebene bedeutet. In einem Artikel vom 17.Oktober 2007 machte er darauf aufmerksam, dass eher die Staaten als die privaten Körperschaften die Hauptakteure der Globalisierung sind. Eine Bestätigung dessen haben wir in den letzten zehn Jahren bereits mit der zunehmenden Rolle der Zentralbanken bei der Bereitstellung von Liquidität, beim planetaren Carry Trade in Sachen Währungen und Staatsanleihen sowie schließlich und endlich mit der Aufrechterhaltung des moralischen Risikos (Undurchsichtigkeit und wertlose Derivate) erlebt, auf denen der Finanzmarkt beruht.

Seit knapp einem Jahr konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die souveränen Fonds und hat mit der Verdunstung der privaten Märkte für wertloses Altpapier <die so genannten "Derivate"> noch weiter zugenommen. Diese Fonds gehören zu Gesellschaften, die sich in Staatsbesitz befinden. Die größte ist eine norwegische Gesellschaft, in der das mithilfe des Erdölexports angehäufte Geld steckt. Dasselbe gilt für Saudi-Arabien und die arabischen Kleinstaaten am Persischen Golf. Dank des Energieexports schickt sich auch Russland an, auf dem Gebiet der souveränen Fonds eine bedeutende Rolle zu spielen. Im Falle Ostasiens ist überwiegend von Singapur und China die Rede.

Auch wenn es sich um einen Stadtstaat handelt, ist Singapur ein Knotenpunkt des Monopolkapitals in Asien und zählen seine souveränen Fonds zu den potentesten überhaupt. Kurz vor Weihnachten erwarb der regierungseigene Fond Temesek einen bedeutenden Anteil an <der US-Großbank> Merrill Lynch, die vom Einbruch bei den Subprime-Darlehen besonders stark betroffen ist. Dieser Vorfall bedeutete eine stärkere Stütze für die Wall Street als die konzertierte Aktion der Zentralbanken (die weiteres Geld <in den Markt> injizierte und als Garantie dafür sogar diskreditierte Subprime-Titel akzeptierte).

Solange die Krise noch nicht ans Tageslicht gekommen war, waren die souveränen Fonds harten Kritiken ausgesetzt. Da Norwegen zum Westen und zur NATO gehört, wurde sein Fond offiziell als "transparent" bezeichnet, mit besonnenen und traditionellen Portefeuilleinvestitionen. Auch die Fonds von Singapur wurden, was die Transparenz anbelangt, gefördert, wobei jedoch hervorgehoben wurde, dass sie bei der Platzierung ihrer Gelder den Versuch unternähmen, strategische Positionen zu erringen. Saudi-Arabien ist unantastbar, weshalb es am Ende die chinesischen Fonds waren, die als "gefährlich", weil undurchsichtig und politisch-strategische Zielsetzungen verfolgend, betrachtet wurden. Die heftigste Kritik daran äußerte Jeffrey Garten in der "Financial Times" vom 7.August 2007.

Mit der Zunahme der von den Subprime-Darlehen verursachten Instabilität an den Börsen änderte sich die Musik. Man begann die staatlichen Finanziers als Sicherheitsfaktoren und – prosaischer – als Geldquellen zu betrachten, auf die man zurückgreifen konnte. Die Investition seitens der Staatsfonds wurde positiv bewertet, da man darin ein langfristiges Engagement sah, das dem Verhalten der Hedge-Fund-Piraten gegenübergestellt wurde. Die westlichen Banken tun ihr Möglichstes, um die eigenen Aktien an die chinesischen bzw. von Singapur aufgelegten Staatsfonds zu verkaufen, um so wertloses Altpapier durch echte Geldquellen zu ersetzen. Gleichzeitig haben dieselben Banken, zusammen mit anderen Finanzierungsgesellschaften, die Verlagerung von Kapital nach China in großem Stil ausgeweitet, um von der gigantischen Spekulationsblase zu profitieren, die inzwischen die gesamte Ökonomie des Landes begleitet und sie dabei immer mehr einwickelt.

In diesem Kontext flackerte die Hoffnung auf, dass man dank China eine mögliche Rezession in den USA umgehen könnte. Der Schlüsselbegriff heißt "Decoupling", das heißt Abkopplung. Der Vorstand von General Electric stellte diesen Wunsch als eine Gewissheit dar und behauptete, dass das chinesische Wachstum auch im Falle einer starken Abschwächung in den USA weitergehen werde. Er zeigte sich daher, was die weltweite Entwicklung seiner Verkaufszahlen anbelangt, optimistisch. Eine gespaltene Vorstellung von der Globalisierung also – das Gegenteil dessen, was von ihren wichtigsten Verfechtern bis gestern behauptet wurde. Ähnliche Positionen wurden auch von den bedeutendsten Finanzorganen vertreten. Solche Thesen sind meiner Meinung nach reine Chimären, die von der Tatsache diktiert werden, dass die Angst Flügel verleiht. Es stimmt, dass China versuchen wird, seine wirtschaftliche Expansion beizubehalten, da andernfalls seine eigene Blase in katastrophaler Weise platzen würde. Peking wird dies allerdings tun bzw. tut dies bereits, indem es einerseits die USA weiter ankoppelt und andererseits die Exporte nach Europa verstärkt. Es genügt sich die chinesische Währungspolitik anzuschauen. Da gibt es kein Anzeichen von "Decoupling", sondern das Gegenteil. Trotz der beachtlichen Binneninflation erhöht Peking den eigenen Zinssatz nicht, um sich nicht von den USA abzukoppeln, die die Zinsen gesenkt (und damit auch den Wert des Dollars gedrückt) haben. Daraus folgt, dass China die Dynamik der im Inland vorhandenen Blase nicht kontrollieren kann. Das sagt alles über die Unwahrscheinlichkeit des "Decoupling" bzw. der Abkopplung aus.

Editorische Anmerkungen

Wir spiegelten von: http://www.labournetaustria.at/iklass15.htm

Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern von Rosso.

Der Name Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jähriger Arbeit Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe: http://www.freewebtown.com/antifauni/ Rubrik "Aktuelles" bzw. die regelmäßig erneuerten Artikel, Übersetzungen und Interviews dort).

Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen per Mail an: negroamaro@mymail.ch

Die folgenden Anmerkungen zum Artikel stammen ebenfalls von Rosso:

Im Laufe der letzten Monate ist in der Redaktion der unabhängigen linken italienischen Tageszeitung "il manifesto" und insbesondere bei den beiden "großen Alten" (d.h. den Mitbegründern und langjährigen Chefredakteuren) Rossana Rossanda und Valentino Parlato die Einschätzung gereift, "dass es eine Krise der Linken gibt", weil "die Linke ziemlich blind und ziemlich taub ist" (Interview mit Valentino Parlato in "la Rinascita della Sinistra" vom 8.11.2007). Oder um es mit Rossana Rossanda zu sagen: "’Man gelangt nirgendwohin, wenn man nicht das wahre Problem angeht, vor dem wir stehen’: die Analyse der Globalisierung, die Analyse dieses Kapitalismus, der in der Lage ist alles zu vermarkten. Von der Produktion bis zu den menschlichen Beziehungen. Eine Analyse, an der es bislang gefehlt hat." (Interview in "Liberazione" vom 3.7.2007)

Konsequenz dessen ist eine verstärkte Berichterstattung und Analyse ökonomischer und sozialer Themen. Einen bedeutenden Teil der Analysen zur Entwicklung der Weltwirtschaft liefert Joseph Halevi (siehe unten). Da seine Einschätzungen auch hierzulande von Interesse sein dürften, werden wir versuchen, an dieser Stelle regelmäßig Übersetzungen seiner wichtigsten Beiträge zu veröffentlichen. Hier zunächst einmal eine Art Einführungstext aus "il manifesto" vom 2.1.2008. Nebenstehend dann der zweite Teil mit einer detailierteren Analyse der in Kapitalkreisen inzwischen sehr verbreiteten Hoffnung auf ein "Decoupling" (Abkopplung) von den USA.

Zur Person des Autors:

Der in Italien aufgewachsene Joseph Halevi nahm dort als Student an der 68er Bewegung teil, war – wie er selbst sagt – bis 1991 Marxist und Kommunist und ist bis heute ein entschiedener Linker. Wenngleich er nun (parallel zur Ablehnung der "Verabsolutierung des Marktes") meint, dass die ökonomischen Kräfte und Konflikte gegenüber den kulturellen, religiösen oder ethnischen Kräften und Konflikten nicht mehr unbedingt ausschlaggebend seien.

Beruflich lehrt er Politische Ökonomie an der Universität von Sydney und ist zugleich assoziiertes Mitglied des Institut de Recherches Economiques sur la Production et le Développement (IREPD) an der Universität von Grenoble (Frankreich). Die auf den ersten Blick etwas erstaunliche parallele Tätigkeit auf zwei derart weit entfernten Kontinenten hat bei ihm bereits Tradition. Seit 1978 an der Universität von Sydney beschäftigt, lehrte bzw. forschte er 1983 sechs Monate lang an der römischen Sapienza, war von 1985-87 Gastprofessor an der University of Connecticut und von 1997-99 Professor an der Universität Grenoble.

Daneben verfasst er seit 1990 regelmäßig Beiträge (vor allem zu ökonomischen Themen und zur Lage im Mittleren Osten und speziell in Palästina) für "il manifesto" und darüber hinaus auch für das neulinke Theorieorgan "Monthly Review" oder die Theoriezeitschrift der aus der Autonomia-Bewegung von 1977 hervorgegangenen, linken, italienischen Basisgewerkschaft Rappresentanze di Base (RdB), "Proteo".