Zeitraum 1920 bis 1933 "Die
Arbeiter waren aus dem Krieg zurückgekehrt, hatten den
Kaiser verjagt, auch an den Straßenkämpfen teilgenommen und
erwarteten ein gerechtes und besseres Leben für sich und
ihre Kinder." (Erna Nelki, S. 32) Verwirklicht werden soll
auch ein altes Ziel der Arbeiterbewegung (Erfurter
Programm), nämlich die Trennung von Kirche und Schule
dergestalt, daß nicht zwangsläufig alle Kinder,am
Religionsunterricht teilnehmen müssen.
Eine der wenigen Schulen, an denen der
Religionsunterricht nicht obligatorisch ist, sind die 31(*).
und 32.Schule in der Rütli-Straße. Ihr Ziel ist es,
Arbeiterkinder zu fördern, ihnen die -Chance zu geben, nach
sechs Jahren eine Aufbauschule zu besuchen, die zum Abitur
führt und damit auch ein Studium zu ermöglichen. Diese
Schulen nennen sich "weltliche" Schulen. |
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Unterricht und Erziehung werden im Sinne reformpädagogischer
Ideen gestaltet. Die Auswirkungen auf Organisation und Inhalte
des Unterrichts beschreibt eine ehemalige Schülerin der
Rütli-Schule folgendermaßen: "Es war ein kind- und nicht
stoffbetonter Unterricht, und neben dem deutschkundlichen
Unterricht gab es Musik, Zeichen- und Werkunterricht,
rhythmische Gymnastik und
wöchentliche Wanderungen. Der Aufsatz stand im Mittelpunkt
und man hoffte, die Ausdruckskraft der Schüler zu
entwickeln, indem man von ihrem eigenen Erleben ausging. Die
Lehrer kooperierten mit den Eltern, und meine Eltern wurden in
den Elternausschuß gewählt." (Nelki, S. 32)
Infolge der Einrichtung dieser neuen Schulform verläßt der
alte Rektor nach elfjähriger Tätigkeit die Schule. Aus Interesse
an diesem Schulexperiment kommen viele neue Lehrer an diese
Schule, unter ihnen Casparius und Wittbrodt. 1921 besuchen über
1400 Schüler die 31.Schule, was einem Klassendurchschnitt von 50,4
Kindern entspricht. Dies bedeutete, daß in dem Teil des
Schulgebäudes, das heute der Rütli-Schule zur Verfügung steht,
diese ungeheure Zahl von Schülern untergebracht war. Vier
Klassen müssen in die Donau-Straße ausgelagert werden. Diese
hohe Zahl von Schülern beweist das immense Interesse der
Arbeitereltern dieser Gegend an der neuen Schulform.
Es werden Arbeitsgemeinschaften in Stenografie, Esperanto und
Englisch eingerichtet. Das Kollegium versucht im Unterricht, die
Ideen von W. Paulsen zu verwirklichen. Ganz im Sinne der
Reformpädagogik wird 1921 eine Werkstatt in der Schule
eingerichtet, Lehrkräfte werden in Kursen dafür ausgebildet. Die
Arbeitsgemeinschaften werden um ein Angebot in Physik
bereichert. Außerdem wird direkt neben der Schule ein
Schulgarten eingerichtet und von den Schülern und Lehrern
bearbeitet.
Im Januar 1923 erscheint W. Paulsen in seiner Eigenschaft als
.Oberstadtschulrat in der Rütli-Schule, um die Umwandlung der
Schule in eine Gemeinschaftsschule zu prüfen. Die offizielle
Bestätigung der Umwandlung der Schule in eine
Gemeinschaftsschule erfolgt im April 1923. Rektor Böse verläßt
die Schule, Wittbrodt wird kommisarischer Nachfolger, dieser
ßeschluß wird einstimmig vom Kollegium getragen.
Den rechtlichen Hintergrund für die Einrichtung von
Gemeinschaftsschulen bietet der Art. 149 der Weimarer
Verfassung, der in Abs. 1 den Kompromiß
zwischen Vertretern der konfessionellen Volksschulen und der
Trennung von Staat und Kirche enthält. "Der Religionsunterricht
ist ordentliches Lehrfach der Schulen mit Ausnahme der
bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen."
Von der Arbeit in den Lebensgemeinschaftsschulen
1. Der Gesamtunterricht wird eingestellt auf die
schöpferische Arbeit der Hand und des Geistes. Mit dem
materiellen Bildungsgrundsatz wird rücksichtslos gebrochen.
Kenntnisse und Fertigkeiten sind natürliche Ergebnisse
schaffender Arbeit, nicht Selbstzweck des Unterrichts."
2. Keine verbindlichen Stoffpläne.
3. An Stelle der Lehrpläne tritt der Arbeitsplan der
Lebens- und Arbeitsgemeinschaften. Die allgemeinen
Bildungsziele nach amtlichen Richtlinien werden auf der
Unterstufe nach vier Jahren, auf der oberen Stufe nach sechs
und acht Jahren erfüllt.
4. Stundenpläne fallen fort. Für den Fortgang der Arbeit
ist das wechselnde Bedürfnis der Gemeinschaft und der
natürliche Ablauf der Arbeit selbst, d.h. der aller
wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Arbeit
innewohnende gesetzmäßige Zwang zur Vollendung entscheidend.
5. Die für die Volksschule vorgeschriebene Stundenzahl
wird auf allen Stufen innegehalten und auf die Arbeits-
und Lebensgemeinschaften verteilt.... In den
Arbeitsgemeinschaften weitet und vertieft sich die
Allgemeinbildung zur Fachbildung, den besonderen Begabungen
und Neigungen der Schüler entsprechend. Arbeitsgemeinschaften
können.... auch für fremde Sprachen eingerichtet werden.
Von der Verfassung der
Lebensgemeinschaftsschule
1. Die Lehrer bilden den Lehrkörper, die
Elternvertreter der Klassen den Elternausschuß, die
Schülervertreter der oberen Stufen den Schülerausschuß, alle
zusammen den Schulausschuß der Schulgemeinde.
2. Der Lehrkörper entscheidet über alle
Schulangelegenheiten, soweit sie nicht ausdrücklich der
Beschlußfassung besonderer Organe der Schulgemeinde
vorbehalten sind.
3. Der Schulleiter hat kein Aufsichtsrecht
über die unterrichtliche und erzieherische Tätigkeit der :
Lehrer....
4. Die Lehrer sind in ihrer Arbeit der
Konferenz und den Behörden unmittelbar verantwortlich....
5. Der Elternausschuß nimmt an allen Fragen
des Schullebens beratend und mitarbeitend teil...widmet er
sich vornehmlich der Jugendwohlfahrtspflege und den
Fürsorgebestrebungen....
6. Der Schulausschuß ist das Bindeglied
zwischen Schule und Elternschaft. Einberufung durch den
Schulleiter in allen bedeutenden Fragen des Schullebens.
7. Der Schülerausschuß wird....insbesonders
in Sachen der Schulordnung und der Schulzucht befragt.
8. Die Schülergemeinde (Mittel- und
Oberstufe) trifft monatlich einmal zusammen.....
9. Schulgemeinde (Eltern, Lehrer und
Schüler) ist der bewußte Träger des Schullebens und ein
Bildungs- und Kulturpunkt des örtlichen öffentlichen Lebens.
Von nun an werden Jungen und Mädchen
gemeinsam unterrichtet. Lehrer haben die Möglichkeit, von einer
zur anderen Lebensgemeinschaftsschule zu wechseln. Jeder
Montagmorgen beginnt mit einer Feier, die von einzelnen Klassen
gestaltet wird.
Die Inflation erreicht ihren Höhepunkt, die
Not ist groß. Trotz allem finden Weihnachtsferien statt, in
denen die Kinder zum Beispiel von Handwerkern des Bezirks
beschenkt werden.
Umfragen innerhalb der Schülerschaft
bestätigen die große Armut, 80 Kinder können zu Hause keine
warme Mahlzeit erhalten. Erna Nelki berichtet: "Manche Eltern
boten sich an, für die Kinder von Arbeitslosen zu sorgen, und
ich teilte regelmäßig meine Brote mit einem anderen Mädchen, das
auch nach der Schule zum Mittagessen in das Haus kam."
Die Aktivität der Elternschaft ist groß. Es
beteiligen sich durchschnittlich 40 Personen, die sich jeden
Montagabend treffen. Den größten Einfluß haben Kommunisten und
Sozialisten. Ihre Themen sind: Schule und Religion, Schule und -
Klassenkampf, Strafen, Zeugnis und Versetzungen,
Aufnahme-Prüfungen an den höheren Schulen.
Die Angebote an Arbeitsgemeinschaften
wachsen: Küchenchemie, Biologie, Kunstschrift, Kunstgeschichte,
Steno, Wie baue ich einen Radioapparat?, zwei Werkstättenkurse,
Raumlehre, Englisch, Esperanto, Chorgesang und Gartenbau.
1923 verläßt Casparius die Schule, um eine
eigene Lebensgemeinschaftsschule in der heutigen Morusstraße zu
leiten. Mit ihm gehen 52 Schüler der 31. sowie 300 der 32.
Schule.
Die Klassen werden im Winter 24/25 von 1 bis
8 benannt. Verstärkt besuchen Schüler anschließend die
Aufbauschule von Fritz Karsen. 1925 sind es 9; 1926 werden 429
Schüler in 14 Klassen der 31. Schule unterrichtet, von denen
acht koedukativ sind. Nach drei Jahren wird Wittbrodt nun zum
endgültigen Schulleiter ernannt.
Die Lehrerarbeitslosigkeit wirkt sich auch
auf die Rütli-Schule aus.
Immer wieder finden Schulfeiern statt, wie
Weihnachtsfeiern ohne religiösen Charakter, Pestalozzi- und
Beethovenfeiern. Selbstverfaßte Theaterstücke werden aufgeführt,
so auch anläßlich des fünfjährigen Bestehens der
Lebensgemeinschaftsschule. Streß scheint immer zum Schulalltag
zu gehören, denn die Chronik vermerkt, daß der Konrektor "einen
völligen Nervenzusammenbruch erlitt.
Die Not der Zeit schlägt sich immer wieder im
Schulalltag nieder. Aufgrund des Kohlemangels muß die Schule im
Februar 1929 für zehn Tage geschlossen bleiben.
Im Frühjahr 1930 beschließt die Elternschaft der Schule aufgrund
der Kürzungen von 3,6 Millionen RM des Berliner Schuletats einen
Streik. Die Klassenfrequenzen sollen erhöht werden, die Mittel
für die Verschickung der Kinder in Erholungsheime gekürzt
werden, ebenso die Mittel für Wanderbeihilfen,
Fahrgelderhöhungen für die elektrische Untergrundbahn.
Die Schüler streiken an vier Tagen, wobei die
Beteiligung von 72 Prozent auf 32 Prozent sinkt, so daß der
Streik am 6. April zu Ende ist. Die BZ berichtet am 2. April:
"Kinderrevolution in Neukölln".
Wegen der geplanten Kündigung einer Lehrkraft im Oktober 1931
wird die Schule wiederum an sechs Tagen bestreikt - diesmal auf
Initiative der Elternversammlung der Schule. Die Schulstreiks
sind Ausdruck nicht bloß wachsender Erbitterung radikaler
Eltern, sondern auch ihres leidenschaftlichen Schulengagements
gerade an den Lebensgemeinschaftsschulen.
Vor der offiziellen Machtergreifung erfährt
das Kollegium am 28.1.1933 von der Auflösung aller
Lebensgemeinschaftsschulen. Einige Lehrer werden versetzt, die
Schulverwaltung Neuköllns beurlaubt. Männer der "nationalen
Bewegung" ersetzen ihren Platz. Wittbrodt kann am 21.3.1933
anläßlich der Reichstagseröffnung der Nationalsozialisten eine
Rede halten. Im Anschluß wird eine Hitleransprache übertragen.
Am 4.4.1933 erhält auch Wittbrodt seine
Beurlaubung. 76 Schüler müssen die Schule verlassen. "Auf
Anordnung der Schulbehörde sollen die weltlichen Schulen, das
Werk des Juden Löwenstein, in kürzester Frist verschwinden.
Gleich am ersten Tag wird eine Trennung der Geschlechter
vorgenommen. Dadurch entstehen die 31.Knaben und
32.Mädchenschule wie in der Vorkriegszeit." (Chronik)
Editorische Anmerkungen
Festschrift: 75 Jahre Rütli-Schule,
Westberlin 1984, Hrsg.: Brigitte Pick, Schulleiterin der
Rütli-Schule in Zusammenarbeit mit neun KollegInnen. S. 15-25
*) Die 31. Schule ist die Schule, in deren
Gebäude sich die Rütli-Schule befand bzw. befindet. Die
Festschrift behandelt nur die Geschichte dieser Schule.
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