Auszüge aus der Festschrift "75 Jahre Rütli-Schule"

herausgegeben von Brigitte Pick

01/09

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Zeitraum 1920 bis 1933

"Die Arbeiter waren aus dem Krieg zurückgekehrt, hatten den Kaiser verjagt, auch an den Straßenkämpfen teilgenommen und erwarteten ein gerechtes und besseres Leben für sich und ihre Kinder." (Erna Nelki, S. 32) Verwirklicht werden soll auch ein altes Ziel der Arbeiterbewegung (Erfurter Programm), nämlich die Trennung von Kirche und Schule dergestalt, daß nicht zwangsläufig alle Kinder,am Religionsunterricht teilnehmen müssen. Eine der wenigen Schulen, an denen der Religionsunterricht nicht obligatorisch ist, sind die 31(*). und 32.Schule in der Rütli-Straße. Ihr Ziel ist es, Arbeiterkinder zu fördern, ihnen die -Chance zu geben, nach sechs Jahren eine Aufbauschule zu besuchen, die zum Abitur führt und damit auch ein Studium zu ermöglichen. Diese Schulen nennen sich "weltliche" Schulen.

Unterricht und Erziehung werden im Sinne reformpädagogischer Ideen gestaltet. Die Auswirkungen auf Organisation und Inhalte des Unterrichts beschreibt eine ehemalige Schülerin der Rütli-Schule folgendermaßen: "Es war ein kind- und nicht stoffbetonter Unterricht, und neben dem deutschkundlichen Unterricht gab es Musik, Zeichen- und Werkunterricht, rhythmische Gymnastik und wöchentliche Wanderungen. Der Aufsatz stand im Mittelpunkt und man hoffte, die Ausdruckskraft der Schüler zu entwickeln, indem man von ihrem eigenen Erleben ausging. Die Lehrer kooperierten mit den Eltern, und meine Eltern wurden in den Elternausschuß gewählt." (Nelki, S. 32)

Infolge der Einrichtung dieser neuen Schulform verläßt der alte Rektor nach elfjähriger Tätigkeit die Schule. Aus Interesse an diesem Schulexperiment kommen viele neue Lehrer an diese Schule, unter ihnen Casparius und Wittbrodt. 1921 besuchen über 1400 Schüler die 31.Schule, was einem Klassendurchschnitt von 50,4 Kindern entspricht. Dies bedeutete, daß in dem Teil des Schulgebäudes, das heute der Rütli-Schule zur Verfügung steht, diese ungeheure Zahl von Schülern untergebracht war. Vier Klassen müssen in die Donau-Straße ausgelagert werden. Diese hohe Zahl von Schülern beweist das immense Interesse der Arbeitereltern dieser Gegend an der neuen Schulform.

Es werden Arbeitsgemeinschaften in Stenografie, Esperanto und Englisch eingerichtet. Das Kollegium versucht im Unterricht, die Ideen von W. Paulsen zu verwirklichen. Ganz im Sinne der Reformpädagogik wird 1921 eine Werkstatt in der Schule eingerichtet, Lehrkräfte werden in Kursen dafür ausgebildet. Die Arbeitsgemeinschaften werden um ein Angebot in Physik bereichert. Außerdem wird direkt neben der Schule ein Schulgarten eingerichtet und von den Schülern und Lehrern bearbeitet.

Im Januar 1923 erscheint W. Paulsen in seiner Eigenschaft als .Oberstadtschulrat in der Rütli-Schule, um die Umwandlung der Schule in eine Gemeinschaftsschule zu prüfen. Die offizielle Bestätigung der Umwandlung der Schule in eine Gemeinschaftsschule erfolgt im April 1923. Rektor Böse verläßt die Schule, Wittbrodt wird kommisarischer Nachfolger, dieser ßeschluß wird einstimmig vom Kollegium getragen.

Den rechtlichen Hintergrund für die Einrichtung von Gemeinschaftsschulen bietet der Art. 149 der Weimarer Verfassung, der in Abs. 1 den Kompromiß zwischen Vertretern der konfessionellen Volksschulen und der Trennung von Staat und Kirche enthält. "Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach der Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen."

Von der Arbeit in den Lebensgemeinschaftsschulen

1. Der Gesamtunterricht wird eingestellt auf die schöpferische Arbeit der Hand und des Geistes. Mit dem materiellen Bildungsgrundsatz wird rücksichtslos gebrochen. Kenntnisse und Fertigkeiten sind natürliche Ergebnisse schaffender Arbeit, nicht Selbstzweck des Unterrichts."

2. Keine verbindlichen Stoffpläne.

3. An Stelle der Lehrpläne tritt der Arbeitsplan der Lebens- und Arbeitsgemeinschaften. Die allgemeinen Bildungsziele nach amtlichen Richtlinien werden auf der Unterstufe nach vier Jahren, auf der oberen Stufe nach sechs und acht Jahren erfüllt.

4. Stundenpläne fallen fort. Für den Fortgang der Arbeit ist das wechselnde Bedürfnis der Gemeinschaft und der natürliche Ablauf der Arbeit selbst, d.h. der aller wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Arbeit innewohnende gesetzmäßige Zwang zur Vollendung entscheidend.

5. Die für die Volksschule vorgeschriebene Stundenzahl wird auf allen Stufen innegehalten und auf die Arbeits- und Lebensgemeinschaften verteilt.... In den Arbeitsgemeinschaften weitet und vertieft sich die Allgemeinbildung zur Fachbildung, den besonderen Begabungen und Neigungen der Schüler entsprechend. Arbeitsgemeinschaften können.... auch für fremde Sprachen eingerichtet werden.

Von der Verfassung der Lebensgemeinschaftsschule

1. Die Lehrer bilden den Lehrkörper, die Elternvertreter der Klassen den Elternausschuß, die Schülervertreter der oberen Stufen den Schülerausschuß, alle zusammen den Schulausschuß der Schulgemeinde.

2. Der Lehrkörper entscheidet über alle Schulangelegenheiten, soweit sie nicht ausdrücklich der Beschlußfassung besonderer Organe der Schulgemeinde vorbehalten sind.

3. Der Schulleiter hat kein Aufsichtsrecht über die unterrichtliche und erzieherische Tätigkeit der : Lehrer....

4. Die Lehrer sind in ihrer Arbeit der Konferenz und den Behörden unmittelbar verantwortlich....

5. Der Elternausschuß nimmt an allen Fragen des Schullebens beratend und mitarbeitend teil...widmet er sich vornehmlich der Jugendwohlfahrtspflege und den Fürsorgebestrebungen....

6. Der Schulausschuß ist das Bindeglied zwischen Schule und Elternschaft. Einberufung durch den Schulleiter in allen bedeutenden Fragen des Schullebens.

7. Der Schülerausschuß wird....insbesonders in Sachen der Schulordnung und der Schulzucht befragt.

8. Die Schülergemeinde (Mittel- und Oberstufe) trifft monatlich einmal zusammen.....

9. Schulgemeinde (Eltern, Lehrer und Schüler) ist der bewußte Träger des Schullebens und ein Bildungs- und Kulturpunkt des örtlichen öffentlichen Lebens.

Von nun an werden Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet. Lehrer haben die Möglichkeit, von einer zur anderen Lebensgemeinschaftsschule zu wechseln. Jeder Montagmorgen beginnt mit einer Feier, die von einzelnen Klassen gestaltet wird.

Die Inflation erreicht ihren Höhepunkt, die Not ist groß. Trotz allem finden Weihnachtsferien statt, in denen die Kinder zum Beispiel von Handwerkern des Bezirks beschenkt werden.

Umfragen innerhalb der Schülerschaft bestätigen die große Armut, 80 Kinder können zu Hause keine warme Mahlzeit erhalten. Erna Nelki berichtet: "Manche Eltern boten sich an, für die Kinder von Arbeitslosen zu sorgen, und ich teilte regelmäßig meine Brote mit einem anderen Mädchen, das auch  nach der Schule zum Mittagessen in das Haus kam."

Die Aktivität der Elternschaft ist groß. Es beteiligen sich durchschnittlich 40 Personen, die sich jeden Montagabend treffen. Den größten Einfluß haben Kommunisten und Sozialisten. Ihre Themen sind: Schule und Religion, Schule und - Klassenkampf, Strafen, Zeugnis und Versetzungen, Aufnahme-Prüfungen an den höheren Schulen.

Die Angebote an Arbeitsgemeinschaften wachsen: Küchenchemie, Biologie, Kunstschrift, Kunstgeschichte, Steno, Wie baue ich einen Radioapparat?, zwei Werkstättenkurse, Raumlehre, Englisch, Esperanto, Chorgesang und Gartenbau.

1923 verläßt Casparius die Schule, um eine eigene Lebensgemeinschaftsschule in der heutigen Morusstraße zu leiten. Mit ihm gehen 52 Schüler der 31. sowie 300 der 32. Schule.

Die Klassen werden im Winter 24/25 von 1 bis 8 benannt. Verstärkt besuchen Schüler anschließend die Aufbauschule von Fritz Karsen. 1925 sind es 9; 1926 werden 429 Schüler in 14 Klassen der 31. Schule unterrichtet, von denen acht koedukativ sind. Nach drei Jahren wird Wittbrodt nun zum endgültigen Schulleiter ernannt.

Die Lehrerarbeitslosigkeit wirkt sich auch auf die Rütli-Schule aus.

Immer wieder finden Schulfeiern statt, wie Weihnachtsfeiern ohne religiösen Charakter, Pestalozzi- und Beethovenfeiern. Selbstverfaßte Theaterstücke werden aufgeführt, so auch anläßlich des fünfjährigen Bestehens der Lebensgemeinschaftsschule. Streß scheint immer zum Schulalltag zu gehören, denn die Chronik vermerkt, daß der Konrektor "einen völligen Nervenzusammenbruch erlitt.

Die Not der Zeit schlägt sich immer wieder im Schulalltag nieder. Aufgrund des Kohlemangels muß die Schule im Februar 1929 für zehn Tage geschlossen bleiben.
Im Frühjahr 1930 beschließt die Elternschaft der Schule aufgrund der Kürzungen von 3,6 Millionen RM des Berliner Schuletats einen Streik. Die Klassenfrequenzen sollen erhöht werden, die Mittel für die Verschickung der Kinder in Erholungsheime gekürzt werden, ebenso die Mittel für Wanderbeihilfen, Fahrgelderhöhungen für die elektrische Untergrundbahn.

Die Schüler streiken an vier Tagen, wobei die Beteiligung von 72 Prozent auf 32 Prozent sinkt, so daß der Streik am 6. April zu Ende ist. Die BZ berichtet am 2. April: "Kinderrevolution in Neukölln".

Wegen der geplanten Kündigung einer Lehrkraft im Oktober 1931 wird die Schule wiederum an sechs Tagen bestreikt - diesmal auf Initiative der Elternversammlung der Schule. Die Schulstreiks sind Ausdruck nicht bloß wachsender Erbitterung radikaler Eltern, sondern auch ihres leidenschaftlichen Schulengagements gerade an den Lebensgemeinschaftsschulen.

Vor der offiziellen Machtergreifung erfährt das Kollegium am 28.1.1933 von der Auflösung aller Lebensgemeinschaftsschulen. Einige Lehrer werden versetzt, die Schulverwaltung Neuköllns beurlaubt. Männer der "nationalen Bewegung" ersetzen ihren Platz. Wittbrodt kann am 21.3.1933 anläßlich der Reichstagseröffnung der Nationalsozialisten eine Rede halten. Im Anschluß wird eine Hitleransprache übertragen.

Am 4.4.1933 erhält auch Wittbrodt seine Beurlaubung. 76 Schüler müssen die Schule verlassen. "Auf Anordnung der Schulbehörde sollen die weltlichen Schulen, das Werk des Juden Löwenstein, in kürzester Frist verschwinden. Gleich am ersten Tag wird eine Trennung der Geschlechter vorgenommen. Dadurch entstehen die 31.Knaben und 32.Mädchenschule wie in der Vorkriegszeit." (Chronik)

Editorische Anmerkungen

Festschrift: 75 Jahre Rütli-Schule, Westberlin 1984, Hrsg.: Brigitte Pick, Schulleiterin der Rütli-Schule in Zusammenarbeit mit neun KollegInnen. S. 15-25

*) Die 31. Schule ist die Schule, in deren Gebäude sich die Rütli-Schule befand bzw. befindet. Die Festschrift behandelt nur die Geschichte dieser Schule.

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