Schmerzhafte Diskurssprache

von Antonín Dick

01/09

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Sprachanalytische Anmerkungen zum Antisemitismus-Streit innerhalb der LINKEN, der anlässlich des Gedenkens an den 70. Jahrestag der antijüdischen Reichspogromnacht vom 9. November 1938 ausgebrochen ist.

In der neuesten Ausgabe der Zeitschrift analyse & kritik (Nr. 534 vom 18. 12. 2008) findet sich ein Interview, das der außenpolitische Sprecher der Fraktion der LINKEN im Deutschen Bundestag Norman Paech der Zeitschrift gewährte und das mit folgendem Vorspann eingeleitet wird: „Anfang November beschloss der Bundestag mit den Stimmen aller Fraktionen die Resolution ‚Den Kampf gegen Antisemitismus stärken, jüdisches Leben in Deutschland weiter fördern’. Elf Abgeordnete der Linksfraktion nahmen nicht an der Abstimmung teil, unter ihnen Norman Paech, der außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion. Mit Norman Paech sprach Susann Witt-Stahl über die Antisemitismus-Resolution, den politischen Realitätsverlust in den Nahost-Debatten und die Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln.“

Um der momentan sich immer weiter ausbreitenden Diskursverfilzung bezüglich vorliegender Thematik Einhalt zu gebieten, die doch immer nur auf neue Begriffsaustrocknungen hinausläuft, soll mit folgenden Anmerkungen für den Vorschlag geworben werden, die im Zuge des Diskurses benutzten Politiksprachen einer Analyse zu unterzuziehen, mit anderen Worten, nicht der Diskurs, der längst verfilzt und daher zur Bewegungslosigkeit verurteilt ist, interessiert, sondern die in diesem Diskurs zum Einsatz kommenden Instrumente: die Sprachen. Erst wenn Gleichartigkeit der Sprachen vorliegt, kann es wieder zu einem Diskurs kommen.

Beginnt man beispielsweise damit, mit einfachsten Mitteln der quantitativen Linguistik die von Norman Paech verwendete Diskurssprache zu untersuchen, stößt man auf eine ganze Reihe von aufschlussreichen Relationen, die zumindest eines freilegen: des Verfassers Diskursinteresse. Denn noch immer gilt: Der Wunsch ist der Vater des Gedankens.

Vergleicht man in vorliegendem Text die Frequenz von Wörtern wie „Antisemitismus“ bzw. „antisemitisch“, die von Wörtern wie „Israel“ bzw. „israelisch“, die von Wörtern wie „Palästina“ bzw. „palästinensisch“ und die von Wörtern wie „Juden“ bzw. „jüdisch“, so kommt man zu folgenden ersten Resultaten der quantitativen Linguistik:

Der Verfasser des vorliegenden Textes benutzt 19-mal das Wort „Antisemitismus“ bzw. „antisemitisch“, 10-mal das Wort „Israel“ bzw. „israelisch“, 8-mal das Wort „Palästina“ oder „palästinensisch“ und 4-mal das Wort „Juden“ bzw. „jüdisch". Erstes überraschendes Resultat: Das Wort „Juden“ bzw. „jüdisch" wird am wenigsten benutzt, das Wort „Antisemitismus“ bzw. „antisemitisch“ am häufigsten, fast fünfmal so häufig wie das Wort „Juden“ bzw. „jüdisch", obwohl doch jüdische Menschen die eigentlichen Leidtragenden des Antisemitismus sind. Beschäftigung mit dem Antisemitismus bei gleichzeitiger Ausgrenzung seiner Opfer? Dazu noch folgende Auffälligkeit: In zwei Fällen des viermaligen Auftretens des Wortes „Juden“ bzw. „jüdisch" taucht es im Zusammenhang mit mittelalterlicher Geschichte auf, also mit einer Epoche, in der der christliche Antijudaismus noch nicht in einen rassistischen Antisemitismus umgewandelt worden war. Auffälligkeit zwei bei Resultat eins: Ungefähr in der Mitte des Textverlaufes ist die Rede von der Bevölkerung Israels, aber mit keiner Silbe wird erwähnt, dass diese Bevölkerung größtenteils aus jüdischen Menschen besteht. Zweites überraschendes Resultat: Das Wort „Antisemitismus“ bzw. „antisemitisch“ ist über den ganzen Textkörper verteilt, das engt sich schon ein wenig bei dem Wort „Israel“ bzw. „israelisch“ ein, signifikant stärker bei dem Wort „Palästina“ bzw. „palästinensisch“, und bei dem Wort „Juden“ bzw. „jüdisch“ ist eine Häufigkeit zu verzeichnen, die sich nur noch auf eine Stelle des Textes konzentriert. Drittes überraschendes Resultat: Da die Häufigkeit des Wortes „Antisemitismus“ bzw. „antisemitisch“ im Textverlauf so verteilt ist, dass sie in der Mitte der Verteilungskurve ein Wellental und die des Wortes „Juden“ bzw. „jüdisch“ so, dass sie in der Mitte einen Wellenberg ergibt, ist eine negativ korrelierende Beziehung beider Verteilungskurven festzuhalten. Um aber auf eine statistische Gesetzmäßigkeit der Art „die Häufigkeit der Verwendung des Wortes ‚Antisemitismus’ bzw. ‚antisemitisch’ verhält sich umgekehrt proportional zur Häufigkeit der Verwendung des Wortes ‚Juden’ bzw. ‚jüdisch’ “ zu schließen, wäre es notwendig, mehrere Texte des Verfassers zu dieser Thematik zu analysieren. Das könnte eine der nächsten linguistischen Aufgaben sein. Zunächst müsste indessen eine vordringlichere Aufgabe angegangen werden: die Aufbrechung von tieferen Schichten des Paechschen Textkörpers nach Maßgabe der von ihm favorisierten Rangordnung der hier zur Diskussion stehenden Wörter. Und selbstverständlich gilt: Nach Ausschöpfung aller relevanten Verfahren wäre dann von der rein quantitativen zur qualitativen Linguistik überzugehen, konkret, zur Politolinguistik.

Und hier träten dann solche Auffassungen von Norman Paech, wie die beispielsweise in der Mitte des Textes vorgetragene, „dass (angeblich) die europäischen Staaten versucht haben, ihr territoriales Problem mit einem jüdischen Staat in spe zu entsorgen, indem sie es auf arabisches Gebiet verlagerten“, ins Zentrum der Sprachkritik. Nicht nur, dass der Verfasser mit dieser Auffassung die Signatarstaaten des Potsdamer Abkommens – die UdSSR, die USA, das Vereinigte Königreich und die Französische Republik – , die die Gründung des Staates Israel in der UNO durchsetzten, nachträglich offen angreift und damit auch den Sieg über Hitlerdeutschland desavouiert, diese Auffassung stellt auch eine Entgleisung gegenüber den Opfern des Faschismus dar, denn er erklärt mit dieser Auffassung die Überlebenden des faschistischen Völkermords, die Juden, zu einer Konkursmasse der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges, eine Entgleisung nicht zuletzt auch gegenüber den Tausenden von Juden, die in den Armeen der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition, in den Partisanenverbänden und Widerstandsgruppen Europas mit der Waffe in der Hand gemeinsam mit nichtjüdischen Kameraden und Genossen gegen den Hitlerfaschismus gekämpft haben, und, nebenbei gesagt, das Wort „entsorgen“, das er hier völlig gedankenlos übernimmt, ist nach Analyse des Sprachwissenschaftlers und Überlebenden des Holocaust Victor Klemperer ein typisches LTI-Wort, ein Wort der Sprache des Dritten Reiches. Mit dieser Auffassung fällt Norman Paech weit hinter Positionen zurück, die die Antifaschisten und Sozialisten in beiden deutschen Staaten Ende der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts hinsichtlich ihrer Haltung zum Staat Israel entwickelt haben. Mit dieser Auffassung fällt Norman Paech weit hinter die Erklärung des DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow vom 8. Februar 1990 zurück, der zufolge die Solidarität mit „jenem Staat, der zur rettenden Heimstatt für die Überlebenden der Shoah geworden war“, zur Staatsräson der DDR erhoben wurde. Bezeichnenderweise trägt Norman Paech seine sozialismusabstinente und jeden Respekt fehlen lassende Auffassung exakt an der Stelle seines Textes vor, in der das Wort „Juden“ bzw. „jüdisch“ in der bereits erwähnten Häufigkeit vorkommt, ein methodischer Hinweis darauf, wie sehr im Fortgang der Analyse seines Textes beide linguistischen Ansätze, der rein quantitative sowie der qualitative, schließlich zusammengeführt werden müssen, um die hier zweifellos notwendige Textkritik sprachwissenschaftlich seriös vorantreiben zu können.

Es geht um nichts weniger als um die Wiederherstellung der Diskursfähigkeit der Linken in der Frage der Stellung zu den Juden.

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung.