Gafsa in Tunesien
Terror-Urteil gegen Gewerkschafter/innen und Teilnehmer am Massenprotest im tunesischen Bergbaubecken

von Bernard Schmid

01/09

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Der Hauptprozess in Sachen Gafsa-Revolte endete Mitte Dezember mit z.T. langjährigen Haftstafen. Tunesische und internationale Menschenrechtsorganisationen üben massive Kritik an der „Justizparodie“. Unterdessen droht derzeit akut die Abschiebung von tunesischen Immigranten, die in der Solidaritätsbewegung aktiv waren, aus Frankreich - in Richtung Gafsa.         

Am Donnerstag, den 11. Dezember 2008 begann – und endete, spät Abends - in Gafsa (rund 350 km südwestlich von Tunis) die Hauptverhandlung gegen 30 Teilnehmer/innen an der sozialen Protestbewegung im Frühjahr 2008. Gewerkschafter/innen, Lehrer und Journalisten waren angeklagt, einer “terroristischen Vereinigung” angehört zu haben. Weitere acht Angeklagte waren bereits am 4. Dezember vorgeführt und teils freigesprochen, teils zu Bewährungsstrafen von zwei Jahren verurteilt worden. Es blieben 30 von insgesamt 38 Angeklagten im Gafsaprozess übrig, gegen die am 11. und 12. Dezember als „Rädelsführer“ verhandelt werden sollte – es blieb dann jedoch bei einem einzigen Prozesstag.  

Rückblende: Was war die Gafsa-Revolte? 

Von Januar bis Juni/Juli 2008 wurde das „Bergbaubecken“ von Gafsa (bassin de Gafsa) im Südwesten Tunesiens, in dem die Phosphatminen des Lands liegen, von einer heftigen Revolte erschüttet. Sie richtete sich gegen mafiöse und auf Vetternwirtschaft sowie Korrupution beruhende Einstellungspraktiken bei der Bergbaugesellschaft CGP (Compagnie des phosphates de Gafsa). (Vgl. auch www.trend.infopartisan.net/trd7808/t197808.html

Die Bewegung wurde repressiv niedergeschlagen. Dabei kam es zu mehreren Toten: Am 6. Juni 2008 starb ein junger Demonstrant durch Polizeikugeln. Ein anderer starb durch einen Stromschlag, nachdem ein durch Protestierende besetzter elektrischer Generator - der ausgeschaltet geblieben war - plötzlich und ohne Vorwarnung wieder unter Strom gesetzt worden war. Dennoch war sie zugleich insofern RELATIV erfolgreich, als sie zumindest Teilzugeständnisse seitens des mafiösen und polizeistaatlichen Regimes von Präsident Zine ben Abidine Ben Ali (der seit 1987 amtiert und vor kurzem die Verfassung ändern ließ, um sich 2011 „wiederwählen“ lassen zu können) erringen konnte. Am 16. Juli 2008 gab das Regime in Tunis einen „Unterstützungsplan“ für die Ökonomie der benachteiligten Region, die von den Tourismuseinnahmen des Landes weitestgehend abgeschnitten ist und eine Arbeitslosigkeitsquote von über 30 Prozent (offiziell: 21 %) aufweist, bekannt. (Einzelheiten werden wir demnächst an dieser Stelle noch näher analysieren.) 

Die insgesamt 38 Angeklagten der beiden Prozesstage (nachdem das Verfahren gegen die Hauptangeklagten respektive „Rädelsführer“ vom ursprünglich gemeinsamen Dossier abgetrennt worden wa       r) sind überwiegend Gewerkschafter/innen, unter ihnen viele örtliche Lehrerinnen und Lehrer. Vorgeworfen wird ihnen in den meisten Fällen die „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ sowie „Vorbereitung von Attentaten“. - Zudem war der in Paris wohnhafte Tunesier Mohieddine Cherbib, Vorsitzender der französisch-tunesischen „Vereinigung für Bürgerrechte auf beiden Ufern (des Mittelmeers) FTCR“, der „Mitgliedschaft in einer Bande“ sowie der „Verbreitung von der öffentlichen Sicherheit abträglichen Dokumenten“ angeklagt: Er wurde in Abwesenheit zu zwei Jahren Gefängnis – ohne Bewährung – verurteilt. 

Internationale Solidarität  

Am Prozess-Auftakt am 4. Dezember nahmen rund 100 Beobachter/innen, unter ihnen internationale Zeugen aus Frankreich sowie Marokko und Algerien, und eine Reihe von engagierten Anwältinnen und Anwälten teil. Auch beim Hauptprozess am 11. Dezember waren rund sechzig auswärtige Prozesszeuginnen und –zeugen erschienen.

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international hatte durch ein Kommuniqué, das am 3. Dezember 2008 in London veröffentlicht wurde, die Einrichtung einer internationalen Untersuchungskommuniqué zu Foltervorfällen im Zusammenhang mit der Niederschlagung der Gafsa-Revolte gefordert.

In Frankreich forderten die Gewerkschaftsverbände CGT, CFDT, FSU (Lehrergewerkschaft), Union syndicale Solidaires und die Bildungsgewerkschaften SUD-Education plus UNSA-Education sowie Linkskräfte wie KP, Grüne und LCR die Freilassung aller Angeklagten. Allerdings unternimmt zumindest die CGT auf praktischer Ebene fast nichts zur Solidarität für die Verfolgten der Gafsa-Revolte, aus Rücksichtnahme auf ihre langjährige tunesische „Bruder- oder Schwesterorganisation“, den tunesischen Gewerkschaftsdachverband UGTT (Allgemeine Union der tunesischen Werktätigen). Hingegen ist die Union syndicale Solidaires – lockerer Zusammenschluss u.a. der linken Basisgewerkschaften vom Typ SUD -, an deren Sitz in Paris sich Mitte Juli 2008 eine französische Solidaritätskoalition für die soziale Bewegung im Gafsa-Revier bildete, ein aktiver Motor bei der Solidaritätsarbeit. Ähnliches gilt für die Lehrer/innen/gewerkschaft FSU. 

Seit kurzem ist nun auch die französische KP aufgewacht. Nach längerem Schweigen zu den Vorgängen in Tunesien (aus Rücksichtnahme u.a. auf den UGTT-Apparat, ähnlich wie die CGT) hat ihre Parteichefin, Marie-George Buffet, in den letzten Novembertagen - nach ihrer Rückkehr von der Solidaritätsreise der französischen Delegation - die Einrichtung eines Solidaritätskollektivs gefordert. Pech nur, dass es ein solches schon gibt… Kenner/innen der tunesischen Verhältnisse vertreten allerdings die Auffassung, die wirkliche Motivation dafür, dass die französische KP-Spitze nun plötzlich aktiv werde, liege darin begründet, dass der Chef der tunesischen Ex-KP ‚Ettajdid’ (der Partei „Erneuerung“, die freilich ein rein bürgerlich-demokratisches Profil und nichts Marxistisches mehr an sich hat) - Ahmed Brahim - zur selben Zeit seine Präsidentschaftskandidatur für 2011 angekündigt hat. Während „kompromisslose“ Opponenten in Tunesien oft brutal verfolgt werden, versucht die „Erneuerungs“partei, sich als - zahme und zahnlose - legale Oppositionspartei zu platzieren. Historisch „ererbt“ hatte die französische KP, lange Jahre hindurch, eine relativ distanzlose Haltung zum tunesischen Regime. Diese hing damit zusammen, dass Letzteres vor 1972 (dem Jahr, in dem Gesetze zur „Liberalisierung“ von Investitionen ausländischen Kapitals verabschiedet wurde) eine teilweise staatssozialistisch geprägte Periode durchlaufen hatte. An den Kommandostellen saß allerdings von Anfang an - unter dem ersten Präsidenten nach der Unabhängigkeit, Habib Bourguiba (1956 bis 87) - die tunesische nationale Bourgeoisie. Unter seinem Nachfolger Ben Ali hat sie allerdings eine vorwiegend mafiöse Rolle sowie eine Funktion als Türöffner für das internationale Kapital, aus dem „Westen“ respektiven Norden sowie in jüngerer Zeit massiv auch aus den Golfmonarchien, übernommen. 

Foltervorwürfe nicht aufgeklärt, Prozess im Blitzverfahren durchgezogen 

Zurück zum Prozess, der am 11. Dezember gegen die „Rädelsführer“ stattfand.

Der Gerichtshof reagierte an diesem ersten (und einzigen) Verhandlungstag gegen die Hauptangeklagten nicht auf Anträge der Anwältin Radhia Nasraoui den Prozess zu verschieben. (Radhia Nasraoui ist selbst eine bekannte politische Aktivistin und Oppositionelle, sowie die Ehefrau von Hamma Hamani, des Chefs der „Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens“ PCOT. Diese ehemals ziemlich sektiererische – früher pro-albanische, maoistisch-stalinistische – Partei zählt derzeit zu den stärksten Einzelkräften der organisierten Opposition in Tunesien. Inzwischen ist sie allerdings eher opportunistisch, gegenüber bürgerlichen Demokraten ebenso wie tunesischen Islamisten, mit denen sie vor drei Jahren ein strategisches Bündnis gegen die Diktatur des Mafiapräsidenten Ben Ali einging...) Die Anwältin hatte diesen Antrag gestellt, um überhaupt Akteneinsicht nehmen zu können, da sie soeben frisch als Verteidigerin ernannt worden war. Auch reagierte der Vorsitzende Richter nicht auf Hinweise, dass die vorgeführten Angeklagten gefoltert worden seien, wie medizinische Gutachten bestätigen - aber auch sichtbare Spuren bei einigen von ihnen bezeugen können.

Die Angeklagten weigerten sich zunächst, auf Fragen des Gerichts zu antworten. Daraufhin sprangen Polizisten in Zivil und in Uniform auf, um sie zu verprügeln und aus dem Gerichtssaal hinaus zu befördern. Die Beamten kamen wenig später in den Verhandlungssaal zurück, um die Familien der Angeklagten anzugreifen. Mehrere Ehefrauen wurden beispielsweise brutal misshandelt. Auch die Anwältinnen und Anwälte der Verteidigung, die ihrerseits protestierten, wurden getroffen. 

 Am Abend dann fielen die Urteile: Haftstrafen zwischen zwei und zehn Jahren. Fünf der „Rädelsführer“ erhielten die Höchststrafe von zehn Jahren, aufgrund ihrer „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“, die angeblich subversive Pläne gehegt und Anschläge programmiert habe.  

Amnesty international: „Justizparodie“ 

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat die tunesischen Behörden dazu aufgefordert, unverzüglich und ohne Vorbedingungen alle verurteilten Angeklagten aus dem Massenprozess gegen Protestteilnehmer/innen im tunesischen Gafsa freizulassen. „Das Urteil und die verhängten Strafen treten die justice (Anm.: im Französischen und Englischen doppeldeutig, da sowohl <Justiz> als auch <Gerechtigkeit> bedeutend) mit Füßen. Sie dürfen nicht aufrecht erhalten werden“, erklärte dazu Hassiba Hadj Sahraoui - die stellvertretende Direktorin des „Programms Mittlere Osten und Nordafrika“ bei Amnesty international. Und sie fügte hinzu: „Die tunesischen Behörden müssen sofort/unverzüglich aufhören, sozialen Protest als einen Straftatbestand zu betrachten. Statt friedliche Demonstranten und Gewerkschafter(innen) vor Gericht zu stellen, müssen sie eher die Foltervorwürfe, die gegen sie gerichtet sind, untersuchen.“ Ferner erklärte sie: „Dieser Prozess wirft einmal mehr Fragen nach der Unabhängigkeit der Judikative in Tunesien auf, und er zeigt die Entschlossenheit der Behörden, alle unabhängigen Stimmen im Land zu ersticken.“

Amnesty International erklärte sich „besorgt über die gravierenden Verletzungen internationaler Normen, die anlässlich dieses Prozesses begangen worden sind. Insbesondere konnte die Anwälte/Anwältinnen nicht für ihre Klienten plädieren; die Angeklagten wurden vor dem Gericht nicht befragt; und Letzteres hat die Anträge der Anwälte/Anwältinnen auf eine medizinische Untersuchung, um eventuelle Spuren von Folter festzustellen und Zeugen zwecks Befragung vorzuladen, abgewiesen.“ (Erklärung vom 12. Dezember 2008, Zitatende.)

Am 13. Dezember reagierte auch die „Beobachtungsstelle für den Schutz der Verteidiger der Menschenrechte“ (Observatoire pour la protection des défenseurs des droits de l’Homme), ein gemeinsames Programm des Internationalen Verbands der Menschenrechtsvereinigungen (französ. FIDH) und der Weltorganisation gegen die Folter (französ. OMCT), auf den Prozess von Gafsa. Inter der Überschrift „Ein Urteil ohne Prozess“ erklärte die Organisation, sie „verurteile entschiede die Prozessparodie in der Affäre der <38 von Gafsa>“. Dort heißt es u.a. : „Dieser Prozess (…) hat den Respekt des Rechts auf Verteidigung vor Gericht eingespart. Das Urteil wurde gefällt, ohne dass die Verteidigung plädiert hätte und ohne Befragung der Angeklagten. Der Vorsitzende der Strafkammer des Gerichts hat es abgelehnt, die Zeugen der Verteidigung vorzuladen, den Angeklagten die durch die Polizei angeblich beschlagnahmten Beweisstücke vorzulegen, und eine medizinische Untersuchung anzuordnen, welche die Folter der Angeklagten hätte beweisen können. Die Anwälte/Anwältinnen der Verteidigung haben die Entscheidung angefochten und die Anhörung der Angeklagten abgelehnt, solange diese Vorabfragen nicht in der Verhandlung debattiert wurden. Die Verhandlung wurde gegen 11.30 (ANM. : am Donnerstag, 11. Dezember) unterbrochen. Gegen 19.15 Uhr umstellte eine große Zahl von Polizisten den Justizpalast und drang in ihn ein. Um 22.30 Uhr nahmen, nach fast zwölfstündiger Unterbrechung, drei Richter von fünfen ihren Platz im Verhandlungssaal wieder ein. Nachdem er während des Vorlesen des Urteilsspruchs unterbrochen worden war, forderte der Vorsitzende Richter die Anwälte dazu auf, ihn beim Gerichtsdiener einzusehen. Der Rechtsanwalt Antoine Aussedat, der mit einem Mandat der Beobachtungsstelle und des Euro-mediterrane Netzwerks für Menschenrechte sowie der Pariser Anwaltskammer ausgestattet war, hat als Prozessbeobachter die Verhandlungen verfolgt. Im Anschluss daran erklärte er: <Es wäre lächerlich und unanständig, das Wort ‚justice’ (Justiz/Gerechtigkeit) zu benutzen, selbst im Zusammenhang mit dem Doppelwort ‚Justizparodie’, um die Verhandlung vom 11. Dezember 2008 zu bezeichnen.> Die Beobachtungsstelle erklärt ihre schwere Besorgnis infolge der Verurteilungen und ist der Auffassung, dass sie ausschließlich darauf abzielen, die Versammlungsfreiheit und die Verteidigung der Menschenrechte durch die Anführer der Bewegung von Gafsa zu bestrafen.“ (Vgl. die Erklärung unter http://www.fidh.org/spip.php?rubrique1  ) 

Das „Komitee für Respekt der Grund- und Menschenrechte in Tunesien“ (CRLDH Tunisie, Comité pour le Respect des Libertés et des Droits de l’homme en Tunisie), Mitgliedsorganisation des Euro-mediterranen Netzwerks für Menschenrechte, spricht seinerseits in einer Erklärung von einem „Scheinprozess“. Es erklärt dazu: „Am Donnerstag, 11. Dezember kurz vor 23 Uhr hat der (Anm. : vorsitzende) Richter eilig den Prozess gegen die Anführer der sozialen Bewegung im Bergbaubecken vor dem Amtsgericht von Gafsa abgeschlossen, kurz nachdem er die Verhandlung, die gegen Mittag unterbrochen worden war, wieder aufgenommen hatte.  Er verkündete, dass die Strafmaße beschlossen worden seien, und schloss umgehend die Verhandlung, ohne die (einzelnen) Strafen bekannt zu geben, inmitten eines Polizeispaliers, das einerseits die Richter von den Angeklagten trennte, andererseits die Angeklagten von den rund sechzig Anwälten/Anwältinnen aus dem ganzen Land, die dem Prozess beiwohnten. <Wir konnten den Richter kaum sehen> erklärt als Augenzeuge der Vorsitzende der Tunesischen Liga für Menschenrechte und Anwalt im Prozess, Mokhtar Trifi.

Die beschlossenen Strafen, die durch den Vorsitzenden der Anwaltskammer beim Sekretariat des Gerichts eingesehen wurden, lauten:

10 Jahre und einen Monat Haft ohne Bewährung für Adnane Hajji (ANM.: ein Grundschullehrer und örtlicher Gewerkschaftsvorsitzender der UGTT, den deren Führung über lange Monate hinweg hatte hänge lassen, bevor er vor kurzem wieder in seine Funktionen eingesetzt wurde), Bechir Laabidi, Taieb Ben Othman (ANMERKUNG: ebenfalls zwei Mitglieder in der Lehrergewerkschaft des Dachverbands UGTT), Adel Jayar, Tarek H'limi, Hassen Ben Abdallah, Maher Fajraoui;

6 Jahre Haft für: Mdhaffar Labidi, Haroun Hlimi, Ghanem Chriti, Abid Khélaifi, Rachid Abdaoui, Ridha Amidi, Elfahem Boukadous, Fayçal Ben Omar, Ridha Ezzeddine, Sami Ben Ahmed (Amaydi), Ali Jedidi;

4 Jahre Haft für: Haftaoui Ben Othman , Mahmoud Raddadi, Boubaker Ban Boubaker ;

2 Jahre Haft für Mouhieddine Cherbib (ANMERKUNG : den im französischen Ausland lebenden Vorsitzenden der <Vereinigung der Franko-Tunesier für Bürgerrechte auf beiden Seiten des Mittelmeers>, der in Abwesenheit für ein Radiointerview, das er von Paris aus gegeben hatte, verurteilt worden ist);

Ein Jahr Haft ohne Bewährung für Thameur Maghzaoui und Hedi Bouslahi;

Eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren für Issam Fajraoui, Mouadh Ahmadi, Abdallah Fajraoui , Mohamed El Baldi, Radhouane Bouzayane, Makram Mejdi, Othamn Ben Othamn, Mahmoud Helali, Mohsen Amidi;  

Freispruch für Isamel El Jawhari, Lazhar Ben Abdelmalek, Boujemaa Chriti und Habib Khédhir.

Innerhalb von zehn Tagen konnten die Anwältinnen und Anwälte Berufung einlegen, was sie auch taten.

So endete also, am 11. Dezember in Tunesien vor dem Amtsgericht von Gafsa, in einem eilig abgeschlossenen Scheinprozess, der nicht einmal den elementarsten Rechtsregeln genügt, der zweite und letzte Verhandlungstag - der so lange erwartet worden - gegen die Anführer der wichtigsten und längstdauernden sozialen Bewegung, die Tunesien seit dem Amtsantritt von Präsident Ben Ali  (ANMERKUNG: am 07. November 1987) erlebt hat.“ (Soweit Originalton CRLDHT)

Das CRLDHT „beklagt diese Justizparodie und ruft dazu, die Solidarität mit der Bevölkerung von Redeyef (Anmerkung: jene Stadt im Bergbaubecken von Gafsa, die das Epizentrum des sozialen Aufruhrs im ersten Halbjahr 2008 bildete) und mit den verurteilten Anführern der sozialen Bewegung im Bergbaubecken auszuweiten.“

Insgesamt drei Solidaritätsdelegationen aus Frankreich waren Ende November und Anfang Dezember 2008 nach Tunesien gereist, eine hatte auch zum Prozess Beobachter/innen entsandt. Die zahlenmäßig wichtigste Delegationsreise fand vom 26. bis 28. November dieses Jahres statt und konnte sogar bis nach Redeyef - eine Stadt unter polizeilicher Belagerung, wohin sogar die Rechtsanwältinnen und Anwälte der Angeklagten nur schwer reisen können - vorstoßen. An ihr haben u.a. die (am vergangenen Wochenende wiedergewählte) KP-Vorsitzende Marie-George Buffet, die Sprecherin der französischen Grünen Cécile Duflot, der - vom Vatikan geschasste und gemobbte - progressive Bischof Monseigneur Gaillot, die anti-neoliberale frühere Pariser Vizebürgermeisterin Clémentine Autain, der ATTAC-Vertreter Robert Bret und die Vertreterin der linken Richter/innen/gewerkschaft SM (Syndicat de la Magristrature) Hélène Franco teilgenommen. Sie trafen auch mit den Familien der Angeklagten von Redeyef, ihre Anwälten und Anwältinnen sowie mit „Vertretern der Zivilgesellschaft Tunesiens“ am Sitze der Tunesischen Menschenrechtsliga in der Hauptstadt Tunis zusammen.     

Neue Verhaftungswelle in Gafsa 

Am Tag, der auf die Prozessparodie von Gafsa folgte, also am (Freitag) 12. Dezember 2008, fand jedoch in Redeyef eine Welle neuer Verhaftungen statt. Am Abend gegen 20.30 Uhr kam es zu Zusammenstößen zwischen den zusammengezogenen starken Polizeikräften und der örtlichen Jugend im Stadtviertel Houmet Essouk, später auch im Stadtteil Annezla und schließlich in der ganzen Stadt. Zwischen 2.30 Und 4 Uhr früh nahmen die Polizeikräfte zahlreiche Verhaftungen vor, drangen in Wohnungen ein und schlugen Türen kaputt. Die letzten Informationen vom Wochenende sprachen von 23 Verhafteten, unter ihnen besonders viele Jugendliche, die erst vor kurzem - nach ihrer Teilnahme an den Protesten im ersten Halbjahr 2008 - wieder aus der (Untersuchungs-)Haft freigelassen worden waren, sowie unter den Angehörigen der Verurteilten des Gafsa-Prozesses. So wurden zwei Brüder von Sami Ben Ahmed (Sami Amaïdi), der in Gafsa zu sechs Jahren Haft verurteilt worden ist, in ihrer Wohnung festgenommen 

Akutes Risiko von Abschiebungen aus Frankreich nach Gafsa  

Unterdessen drohte in der letzten Woche vor der Weihnachtspause ine Abschiebung aus Frankreich nach Tunesien, in die Region Gafsa. Aus dem westfranzösischen Nantes - wo besonders viele Einwanderer just aus dieser tunesischen Region leben, und wo die Solidaritätsbewegung im Frühjahr 2008 besonders stark war -  sollte der als Sans papiers („illegalisierter“ Einwanderer) in Frankreich lebende, 31jährige Hafnaoui Chnaiti nach Tunesien abgeschoben werden. Am Dienstag, 18. Dezember wurde er in einen Zug von Nantes nach Paris gesetzt und auf diesem Wege Abschiebehaftanstalt im nordwestfranzösischen Rennes transportiert - um Vorbereitungen für seine Abschiebung zu treffen.  

Hafnaoui Chnaiti stammt aus Redeyef und war aktiv am Solidaritätskollektiv für die soziale Protestbewegung im Bergbaubecken von Gafsa beteiligt gewesen. Einer der n jüngst in Gafsa Verurteilten, Ghanem Chraiti (oder Chriti, je nach Transkription aus dem Arabischen), der dort sechs Jahre Haft erhielt, ist sein Cousin.  

In den letzten Wochen und Monaten häufen sich die Personenkontrollen, um „illegale“ Zuwanderer aufzuspüren, auch in Nantes. Bei einer von ihnen war der junge Mann am 30. November festgenommen worden. Bis dahin lebte er mit einer Französin zusammen, die im kommenden Monat ein Kind von ihm erwartet. 

Die FTCR (französisch-tunesische „Verteinigung für Bürgerrechte auf beiden Ufern“ des Mittelmeers) und die Antirassismusbewegung MRAP reagierten sofort auf die drohende Abschiebung von Hafnaoui Chnaiti.  Sie appellierten an den französischen Minister „für Einwanderung, Integration, nationale Identität und Entwicklungszusammenarbeit“ Brice Hortefeux, seine Abschiebung in Richtung Tunesien dürfe nicht stattfinden. Die FTCR publizierte eine Kommuniqué dazu, der MRAP schrieb einen Offenen Brief an den zuständigen Minister.           

Hafnaoui Chraiti ist numehr vorläufig in Sicherheit. Vorläufig. In den Tagen vor der Weihnachtspause kursierten zunächst widersprüchliche Informationen über seinen Verbleib. Gerüchte behaupteten, der junge Mann habe sich durch Flucht der drohenden Abschiebung entziehen können und halte sich versteckt, was sich jedoch als unwahr herausstellte. Im Laufe der Tage klärte sich die Situation dann auf: Am 18. war Chraiti zunächst in die Abschiebehaftanstalt im nordwestfranzösischen Rennes transportiert worden. Dort hatte es einen Versuch zu seiner Abschiebung gegeben, der aber mit der nachdrücklichen Weigerung des jungen Tunesiers, an Bord zu gehen (‚Refus d’embarquement’), scheiterte. Daraufhin wurde Chraiti von behördlicher Seite suggeriert, er möge doch einen Asylantrag stellen. Es wurde ihm souffliert, dieser werde auch „grobzügig“ bearbeitet, obwohl er ihn auberhalb der dafür vorgesehenen Fristen (maximal fünf Tage nach Erlass einer Abschiebeverfügung) stelle. Dies tat Chraiti denn auch. Der Asylantrag wird nun bearbeitet werden, allerdings in einem Eilverfahren. Es bleibt zu hoffen, dass dies im Falle eines negativen Bescheids genügend lange dauert – oder aber mit einem positiven Bescheid für Hafnaoui Chriati endet -, um ihn zu „retten“. In der Tat beträgt die zulässige Höchstdauer der „Verwahrung“ in einer Abschiebehaftanstalt in Frankreich 32 Tage (in Deutschland, das an dem Punkt EU-weit einer der übelsten Gesetzeslagen aufweist, bis zu achtzehn Monate). Und ist der junge Tunesier erst einmal wieder drauben, so ist er in Bälde in rechtlicher Sicherheit: Im kommenden Monat kommt sein Kind auf die Welt, das (aufgrund der französischen Nationalität der Mutter) die französische Staatsbürgerschaft haben wird. Damit hat Chraiti dann einen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel, sofern er sich um das Kind auch nachweislich kümmert. Bislang weigerte sich die Ausländerbehörde von Nantes, diesen „künftigen Tatbestand“ auch (kurz) vor der Geburt des Kindes zu berücksichtigen.

Bereits am 2. Dezember 2008 war eine Abschiebung aus dem westfranzösischen Nantes nach Redeyef/Gafsa erfolgt. Sie betraf Brahim Benamor. Bislang verfügt die in Nantes lebende Familie keine Neuigkeit darüber, wie es ihm nach seiner Zwangs-Rückkehr auf tunesischem Boden erging. Ein Grobteil der in Nantes lebenden Community aus der Region – ohne zuvor in Parteien oder Gewerkschaften organisiert gewesen zu sein -hatte sich im ersten Halbjahr 2008 aktiv mit den sozialen Protesten im Bergbaubecken von Gafsa solidarisiert.

Ein jugendlicher Tunesier, der in Nantes lebt, Ess’ghaler Belkiri, war während seines Urlaubs im Herkunftsland im Hochsommer 2008 gleich bei seiner Ankunft durch die tunesischen Behörden festgenommen worden. Letztere hielten ihn einen Monat und elf Tage lang fest, misshandelten und verhörten ihn. Seine Familie blieb Wochen hindurch ohne Neuigkeiten über seinen Verbleib. Ess’ghaler Belkiri hatte an einer Hochzeit in der Region Gafsa teilnehmen wollen. Die Behörden interessierten sich zu seinen angeblichen Verbindungen zu den „subversiven Kräften“ im Raum Gafsa. 

Bewegung sogar in der UGTT 

Der bürokratische Apparat des tunesischen Einheits-Gewerkschaftsverbands – der UGTT (Union générale des travailleurs tunisiens, Allgemeine Union der tunesischen Werktätigen) – und ihre mit dem Staatsapparat verbandelte Spitze verhielten sich ausgesprochen unsolidarisch mit ihren eigenen Mitgliedern, die in Gafsa die Proteste (mit) anführten und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden.

Nun ist jedoch Bewegung in die UGTT gekommen. Fünf Branchengewerkschaften des Dachverbands haben eine gemeinsame Erklärung zum Thema herausgegeben: Die UGTT-Branchengewerkschaft der Post & Telekommunikation; der Lehrer/innen des Grundschulwesens; der Sekundarstufe; jene des Hochschulwesens; und jene des öffentlichen Gesundheitswesens (also der Krankenhäusern) sowie der Apotheken. In ihrer gemeinsamen Erklärung heibt es u.a.: „Während die Welt den 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 11. Dezember 1948 beging, fand in Gafsa gleichzeitig eine Justizparodie statt, um 38 Bürger zu verurteilen, soziale Aktivisten des Bergbaubeckens. Tatsächlich hat diese Prozessparodie von justice (Justiz/Gerechtigkeit) nur den Namen, da den Angeklagten keinerlei Garantie ihres Rechts auf Verteidigung zugestanden wurde. (...) Die unterzeichnenden Gewerkschaften sind der Auffassung, dass dieser unfaire Prozess zu den schreienden und unzähligen Verletzungen des Rechts auf gewerkschaftliche Betätigung zählt. Sie bekräftigen ihre Weigerung, sich mit diesem Prozess und den Urteilen abzufinden, und verurteilen, einmal mehr, den Beschluss der Regierung, (die sozialen Probleme des Bergbaubeckens nur als ‚Sicherheitsproblem’ zu behandeln). (...) Sie bekräftigen den Aufruf an die Behörden, alle Gefangenen freizulassen, die laufenden Prozesse einzustellen und mit Dringlichkeit die Arbeitslosigkeit und die sonstigen sozialen Probleme im Bergbaubecken und in den anderen vernachlässigten Regionen anzugehen. Sie rufen alle Gewerkschaftsmitglieder und ihre Organisation UGTT dazu auf, aktiv zu werden, um die manifeste Ungerechtigkeit in Gestalt dieses Prozesses zu bekämpfen, und um die gewerkschaftliche Position der Unterstützung der sozialen Kämpfe im Bergbaubecken für die Durchsetzung ihrer legitimen Forderungen zu bekräftigen.“

Dies dürfte noch Stoff für mächtigen Zoff innerhalb der UGTT bieten... Deren Exekutivbüro, also ihre oberste Führungsinstanz, publizierte unterdessen (am 16. Dezember 2008) ein wesentlich „schlapperes“ und gegenüber der Staatsmacht „konzilianteres“ Kommuniqué.

 Darin heißt es u.a.: „Das Exekutivbüro der UGTT verfolgt mit starker Besorgnis die Entwicklung der Situation am Ausgang des Prozesses der Inhaftierten, im Rahmen der Affären des Bergbaubeckens (…). Es bekräftigt, dass die Entscheidung zur Eskalation die Situation nur verschlimmern und verkomplizieren kann und nicht dabei hilft, die notwendige Entspannung zu schaffen, um den Spannungsprozess ein Ende zu setzen (…).“ Die oberste Instanz im Apparat der UGTT gelangt im Anschluss zu folgenden Forderungen respektive Feststellungen: „Das Exekutivbüro ist der Auffassung, trotz des Respekts, den es der Justiz und ihren Urteilen schuldet, dass die verhängten Strafen zu hart und unerwartet ausfallen; sie bilden nicht die beste Lösung, um Ereignisse zu behandeln, die in direktem Zusammenhang mit dem Übel der Arbeitslosigkeit (..) stehen. (Das  Exekutivbüro) wiederholt seinen Aufruf an Herrn Präsidenten der Republik, dass er (IN KURZFASSUNG: die Verurteilen begnadigt) und so erlaubt, die Bedingungen für ein gesundes Klima des Dialogs, es gegenseitigen Verständnisses und der Stabilität zu schaffen – die so notwendig sind, während die Welt mit einer Krise konfrontiert ist.“ Gleichzeitig verurteilt das Exekutivbüro der UGTT aber, in scharfer Form, vermeintlich zu radikale Protestformen: „Während es betont, wie sehr es der Suche nach Dialoglösungen fernab von repressiven Methoden verbunden ist, lehnt das Exekutivbüro jegliche Form der Instrumentalisierung ab und jegliche Ausdrucksformen, die nicht dazu beitragen können, die Situation zu entschärfen und das Klima der Entspannung (…) zu schaffen.“ Welch wunderschönes Blabla…

Schändlich, überaus schändlich ist aber, dass die oberste Führungsinstanz des Gewerkschaftsverbands UGTT es nicht einmal schafft, sich dazu durchzuringen, die Gewerkschaftsmitgliedschaft der (Haupt-)Verurteilten von Gafsa beim Namen zu nennen. Den die verurteilten „Rädelsführer“ werden in ihrer Erklärung nicht ein einziges Mal bei ihrer konkreten gesellschaftlichen Funktion genannt, sondern tauchen stets nur unter der ominös bleibenden Bezeichnung „die Inhaftierten“ auf. Dabei hatte die UGTT erst Anfang Dezember 2008, unmittelbar vor dem ersten Prozesstag in Gafsa (vom 4. Dezember), den wichtigsten Hauptangeklagten Adnan Hajji wieder in seine gewerkschaftlichen Ämter eingesetzt. Zuvor hatte der Dachverband ihm, der – als Grundschullehrer – Vorsitzender der örtlichen Lehrergewerkschaft war, sämtliche gewerkschaftlichen Funktionen entzogen. Nun ist er also wieder in denselben eingesetzt – aber schmort unterdessen im Knast. Und die UGTT-Führung schafft es nicht einmal, in ihn ihrem Aufruf zur Freilassung (durch Ausübung des präsidialen Gnadenrechts) der Gefangenen aus der Gafsa-Revolte als Gewerkschafter – aus ihrem eigenen Laden – zu bezeichnen.

Es wird also noch einige heftige Auseinandersetzungen innerhalb der tunesischen Einheitsgewerkschaft brauchen…

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung