Bei all diesen polizeilichen
Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Kinder hatte man noch immer
jeden Eingriff in die elterlichen Rechte vermieden. Erst in der
zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, als nach der
Gründung des Deutschen Reiches die Staatsautorität erstarkte und
zugleich mit dem wirtschaftlichen Aufschwung auch die sozialen
Spannungen wuchsen, wandten Staat und Kommunen sich der
schwierigsten Gruppe schutzbedürftiger Jugend zu, den
kriminellen und verwahrlosten Kindern und Jugendlichen. Schon
gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts war man auf sie
aufmerksam geworden, als unter dem Eindruck von Howards
Berichten über die europäischen Gefängnisse die Philanthropen
der Aufklärungszeit für eine Reform des Gefängniswesens
eintraten. Wagnitz, in seinen Nachrichten über die Zuchthäuser
in Deutschland, forderte 1794, die Kinder aus der
Strafrechtspflege ganz herauszunehmen und einer vorbeugenden
Kinderfürsorge im Rahmen der Armenpflege zu überlassen(11),
wie das in Hamburg im Einzelfall praktisch versucht wurde.
Dieser Weg wurde im neunzehnten Jahrhundert völlig aufgegeben.
Aber die heftigen Angriffe gegen die gemeinsame Unterbringung
der straffälligen Kinder und Erwachsenen veranlaßten doch
gewisse Reformversuche, die Errichtung von staatlichen
Besserungsanstalten für Jugendliche oder von Jugendabteilungen
in bestehenden Strafanstalten(12).
In Preußen schloß man vielfach Lehr- und Unterrichtsanstalten
für jugendliche Straffällige an die von den Provinzen
errichteten Landarmenhäuser an. Auch hier war es Minister von
Altenstein, der auf Grund seiner Erhebungen über die Ursachen
der Jugendkriminalität sich entschieden für eine erzieherische
Behandlung der jungen Missetäter einsetzte. Er ließ sich jeden
Einzelfall melden, die Lebensverhältnisse des Täters genau
untersuchen und, wo eine Fahrlässigkeit von Eltern,
Dienstherrschaft, Schule, Geistlichkeit, Polizei vorlag, diese
zur Verantwortung ziehen. Beim Justizministerium trat er für
eine Nacherziehung bestrafter Jugendlicher ein, die nicht
Strafcharakter tragen dürfe, und wies auf die Unzweckmäßigkeit
von Geldstrafen und kurzfristigen Gefängnisstrafen hin und die
schädliche Wirkung zu harter oder zu langer Strafen; durch ein
Gutachten der Medizinalabteilung erreichte er, daß bei den
jugendlichen Brandstiftern die psychischen Störungen der
Pubertätsjahre Berücksichtigung fanden: die Erkenntnis von der
Eigenart der Kinder und der Jugendlichen setzte sich langsam
auch im Strafrecht durch.
Diese neue Haltung hat ebenfalls ihre Wurzeln im
achtzehnten Jahrhundert, bei Rousseau, der zum erstenmal, in
seinem Erziehungsroman fimile, das Kind, das bisher als kleiner
Erwachsener behandelt und beurteilt wurde, nunmehr in seiner
Besonderheit darstellte. Das Strafrecht der Französischen
Revolution griff diese Ideen auf, und im französischen
Strafgesetz von 1791 finden sich die ersten Sonderbestimmungen
für jugendliche Straffällige: Personen unter sechzehn Jahren,
die „sans discernement", also ohne die erforderliche Einsicht —
wie es später im deutschen Strafrecht formuliert wurde — eine
Straftat begangen hatten, konnten freigesprochen werden, doch
konnte das Gericht ihre Unterbringung in eine
Besserungsanstalt, bis höchstens zum zwanzigsten Lebensjahr,
anordnen. Damit ist ein Grundbegriff des Jugendstrafrechtes, der
Begriff der erforderlichen Einsicht, eingeführt, der über den
Code Penal Napoleons im Preußischen Strafgesetzbuch von 1851
und von dort im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 aufgenommen
wurde. Das RStGB brachte einen weiteren Fortschritt, indem es
eine Strafmündigkeitsgrenze einführte: Kinder bis zum
vollendeten zwölften Lebensjahr waren nicht strafmündig,
konnten also bei Begehung einer strafbaren Handlung nicht zur
Verantwortung gezogen werden, da man generell annahm, daß ihnen
die erforderliche Einsicht in die Strafbarkeit ihrer Handlung
fehle. Bei den Zwölf- bis Achtzehnjährigen, die nur bedingt
straf mündig waren, mußte jeweils geprüft werden, ob sie die
nötige Einsicht besaßen. Fehlte diese, so waren sie
freizusprechen, konnten aber, ganz
entsprechend dem Vorbild des französischen Gesetzes von 1791, in
eine Besserungsanstalt eingewiesen werden. Aber auch diejenigen
bedingt Strafmündigen, die die erforderliche Einsicht hatten,
wurden erheblich milder als die Erwachsenen und niemals mit dem
Tode oder mit Zuchthaus bestraft. Das damalige Strafrecht war
ein Tatstrafrecht — die Auswirkungen sind noch im heutigen
Strafrecht zu erkennen —, wonach die Strafe nach der Schwere der
Tat xugemessen wird, ohne daß die Persönlichkeit des Täters eine
Rolle spielt. Die einzige Ausnahme, die diesen Grundsatz
auflockerte, war die Berücksichtigung der Jugend des Täters
(13).
In dieser ersten Fassung des RStGB
war die Frage offengeblieben, was mit denjenigen straf
unmündigen Kindern geschehen sollte, die sich erhebliche
Straftaten hatten zuschulden kommen lassen, oder mit den bedingt
Strafmündigen, denen die notwendige Einsicht gefehlt hatte.
Diese Lücke in der Gesetzgebung wurde zunächst nur in einzelnen
Bundesstaaten geschlossen, in Süddeutschland auf Grund des
Polizeistrafgesetzes, in den sächsischen Staaten durch die
Volksschulgesetzgebung, in Braunschweig und Anhalt durch eigene
Gesetze, so daß hier die Möglichkeit bestand, ge-gegebenenfalls
den Eltern die elterliche Gewalt zu entziehen, um die Erziehung
besonders gefährdeter Kinder zu sichern. Die Uneinheitlichkeit
in der Durchführung dieser Maßnahmen und die zunehmende
Besorgnis über die Verwahrlosungserscheinungen unter der Jugend
führten 1876 zu einer Novelle zum RStGB, wonach in Ergänzung des
§ 55 die straf unmündigen Kinder unter zwölf Jahren „nach
Maßgabe der landesrechtlichen Vorschriften" in einer
Erziehungs- oder Besserungsanstalt untergebracht werden konnten,
„nachdem durch Beschluß der Vormundschaftsbehörde die Begehung
der Handlung festgestellt und die Unterbringung für zulässig
erklärt ist" —; da der Strafrichter für diese Kinder nicht
zuständig war, wurde also die Tatsache ihrer Straftat und damit
der Rechtsgrund für das öffentliche Einschreiten vom
Vormundschaftsgericht festgestellt. Mit dieser neuen Bestimmung
war die Grundlage geschaffen für die sogenannte Zwangserziehung,
aus der die heutige Fürsorgeerziehung hervorging.
Die Zwangserziehungsgesetze der einzelnen Bundesstaaten, die im
nächsten Jahrzehnt erlassen wurden, gingen ausnahmslos von dem
öffentlichen Interesse an der Erziehung des Nachwuchses aus,
nicht von privatrechtlichen Überlegungen, die später, im
Bürgerlichen Gesetzbuch, die Möglichkeiten eines Eingreifens in
die elterlichen Rechte wieder beträchtlich einengten. Doch
lassen sich zwei verschiedene Richtungen feststellen. Einige
Bundesstaaten, vor allem Preußen, beschränkten sich auf
Ausführungsgesetze zu § 55 RStGB, die meisten jedoch bemühten
sich, die hier gegebenen Möglichkeiten des zwangsweisen
Vorgehens gegen pflichtvergessene Eltern erheblich auszuweiten.
So rückt das vorbildliche badische Gesetz von 1886
die Altersgrenze auf sechzehn Jahre hinauf und sah
Zwangserziehung schon dann vor, wenn durch den Mißbrauch oder
die Vernachlässigung des Erziehungsrechtes oder das Versagen
der Erziehungsberechtigten Verwahrlosung zu befürchten war,
ohne daß eine Straftat vorliegen mußte. Das preußische Gesetz
von 1878 dagegen gestattete eine Unterbringung der
strafunmündigen Kinder in Familienpflege oder in Erziehungs-
oder Besserungsanstalten nur, wenn vom Vormundschaftsgericht
der Tatbestand des strafbaren Delikts festgestellt war. Über Art
und Eintritt der Zwangserziehung erfolgte ein Beschluß des
Vormundschaftsgerichtes, wobei man sich gegebenenfalls der
freien Erziehungsanstalten als ausführender Organe bediente,
die, wie schon erwähnt wurde, sich allmählich zu dieser
Zusammenarbeit bereitfanden. Eigene Erziehungsbehörden, die
Zwangserziehungsbehörden, wurden in den preußischen Provinzen
errichtet, die sich mit den bei der Durchführung der
Zwangserziehung erwachsenden spezifischen erzieherischen und
organisatorischen Aufgaben befaßten. Anders organisiert war die
Zwangserziehung für die Zwölf- bis Sechzehnjährigen, die auf
Grund von § 56 RStGB wegen mangelnder Einsicht strafrechtlich
nicht verantwortlich waren; ihre Erziehung unterstand den
Strafvollzugsbehörden und wurde in eigenen
Zwangserziehungsanstalten durchgeführt(14).
Das Neue an dieser Entwicklung der Fürsorge für verwahrloste
Kinder war, daß die Entscheidung über ihre Unterbringung in
Anstalts- oder Familienpflege in die Hand des
Vormundschaftsgerichtes (oder einer entsprechenden Behörde)
gelegt wurde und daß, organisatorisch noch wichtiger, eine
eigene Erziehungsbehörde ihre Erziehung lenkte und überwachte.
Damit trat der Staat unmittelbar in das Gebiet der
Jugendfürsorge und der Erziehung der gefährdeten und
verwahrlosten Jugend ein, und eine erste Bresche war geschlagen
in die liberale Staatsauffassung, die jede Einmischung in die
elterliche Erziehung abgelehnt hatte.
Das Bürgerliche Gesetzbuch, das am i. i. 1900 in Kraft gesetzt
wurde, bedeutete demgegenüber einen beträchtlichen Rückschritt.
Das Elternrecht wurde als ein selbständiges autonomes Recht
angesehen, die Eingriffe des Staates, sofern sie bei Gefährdung
von Kindern und Jugendlichen notwendig wurden, auf ein Minimum
beschränkt. § 1666 BGB gestattete ein Eingreifen in die
elterliche Gewalt nur bei einem nachweisbar schuldhaften
Verhalten der Eltern gegenüber dem Kind. Das hätte bedeutet, daß
bei Inkrafttreten des BGB alle die landesgesetzlichen
Vorschriften hinfällig gewesen wären, die bei einem objektiven,
unverschuldeten Versagen der Eltern Hilfe gewähren konnten. Das
Einführungsgesetz zum BGB bestimmte daher in Art. 135, daß sie
unberührt bleiben sollten, engten jedoch die Eingriffe dadurch
ein, daß nur bei drohendem „völligen sittlichen Verderben" ein
schuldhaftes Verhalten der Eltern nicht nachgewiesen werden
mußte. Auf dieser Grundlage, die immerhin eine gewisse
Entwicklung ermöglichte, sind dann zu Anfang dieses Jahrhunderts
die Landesausfüh-rungsgesetze erlassen worden, die nicht mehr
von Zwangserziehung, sondern von „Fürsorgeerziehung" sprachen,
nach dem Beispiel des preußischen Fürsorgeerziehungsgesetzes von
1901. Während die verwaltungsmäßige Durchführung der
Fürsorgeerziehung in den verschiedenen Bundesstaaten recht
verschieden geregelt wurde, waren die Voraussetzungen
reichsrechtlich einheitlich geregelt und durften durch
Landesrecht nicht durchbrochen werden: Fürsorgeerziehung konnte
angeordnet werden auf Grund des Strafrechts (wenn das Kind oder
der Jugendliche eine Straftat begangen hatte, strafrechtlich
aber nicht verantwortlich war), auf Grund des Bürgerlichen
Rechts (wenn den Eltern schuldhaftes Verhalten nachzuweisen
war), und auf Grund des Einführungsgesetzes zum BGB (wenn
objektive Verwahrlosung vorlag). Allgemein bindend waren auch
die Bestimmungen, daß der Beschluß auf Fürsorgeerziehung vom
Vormundschaftsgericht ausgesprochen werden mußte und die
Fürsorgeerziehung, als öffentliche Erziehung, auf öffentliche
Kosten durch die zuständigen Fürsorgeerziehungsbehörden zu
erfolgen hatte. Welche Behörde als Fürsorgeerziehungsbehörde
fungierte, war in den einzelnen Ländern sehr verschieden und
blieb es auch nach Erlaß des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, das
die Ausführungsbestimmungen den Ländern überlassen hatte. In
Preußen hatte man die Durchführung der Fürsorgeerziehung den
Provinzen als kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften
übertragen, also großen und tragfähigen Verbänden mit großer
Verwaltungserfahrung, die finanziell und sachlich den neuen
Aufgaben gewachsen waren. Dort, wo zunächst nicht nur die
kreisfreien Städte, sondern auch die kleinsten Gemeinden zu
Fürsorgeerziehungsbehörden, also zu Kostenträgern, bestellt
waren, ergaben sich Schwierigkeiten. Die finanzschwachen
Gemeinden unterließen es möglichst, einen Antrag auf
Fürsorgeerziehung zu stellen, um der späteren finanziellen
Belastung zu entgehen, so daß diese Regelung aufgegeben worden
ist.
Anmerkungen
11) Wagnitz,
Historische Nachrichten, 136, II/2 137
12) Einer der schärfsten Gegner
der Unterbringung Jugendlicher in Anstalten für Erwachsene,
„Pflanzschulen des Lasters und Vorhöfe künftiger, größerer
Verbrechen", war Johannes Falk (Reis, Falk, 32). — Näheres
über Reformbestrebungen im preußischen Strafvollzug für
Jugendliche zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts bei
Schüttpelz, 28 ff., 42 ff.
13) Zum
Folgenden Koch, Verwahrlostenfürsorge im 19. Jahrhundert, 7
ff.
14) Erst in den zwanziger Jahren dieses
Jahrhunderts, als das RJWG ein einheitliches Recht für alle
deutschen Bundesstaaten aufstellte, wurden die letzten
preußischen Zwangserziehungsanstalten aufgelöst, die bis
zuletzt den Strafvollzugsbehörden unterstanden.
Editorische
Anmerkungen
Der Text ist
Teil. des 9. Kapitels von Hans Scherpner, Geschichte der
Jugendfürsorge, Göttingen 1966, S. 160ff
OCR-Scan red.
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