Die Zwangserziehung
Öffentliche Jugendfürsorge im neunzehnten Jahrhundert

von Hans Scherpner

01/10

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Bei all diesen polizeilichen Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Kinder hatte man noch immer jeden Eingriff in die elterlichen Rechte vermieden. Erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, als nach der Gründung des Deutschen Reiches die Staatsautorität erstarkte und zugleich mit dem wirtschaftlichen Aufschwung auch die sozialen Spannungen wuch­sen, wandten Staat und Kommunen sich der schwierigsten Gruppe schutz­bedürftiger Jugend zu, den kriminellen und verwahrlosten Kindern und Jugendlichen. Schon gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts war man auf sie aufmerksam geworden, als unter dem Eindruck von Howards Berichten über die europäischen Gefängnisse die Philanthropen der Aufklärungszeit für eine Reform des Gefängniswesens eintraten. Wagnitz, in seinen Nach­richten über die Zuchthäuser in Deutschland, forderte 1794, die Kinder aus der Strafrechtspflege ganz herauszunehmen und einer vorbeugenden Kin­derfürsorge im Rahmen der Armenpflege zu überlassen(11), wie das in Ham­burg im Einzelfall praktisch versucht wurde. Dieser Weg wurde im neun­zehnten Jahrhundert völlig aufgegeben. Aber die heftigen Angriffe gegen die gemeinsame Unterbringung der straffälligen Kinder und Erwachsenen veranlaßten doch gewisse Reformversuche, die Errichtung von staatlichen Besserungsanstalten für Jugendliche oder von Jugendabteilungen in bestehenden Strafanstalten(12). In Preußen schloß man vielfach Lehr- und Unterrichtsanstalten für jugendliche Straffällige an die von den Provinzen errichteten Landarmenhäuser an. Auch hier war es Minister von Altenstein, der auf Grund seiner Erhebungen über die Ursachen der Jugendkriminalität sich entschieden für eine erzieherische Behandlung der jungen Missetäter einsetzte. Er ließ sich jeden Einzelfall melden, die Lebensverhältnisse des Täters genau untersuchen und, wo eine Fahrlässigkeit von Eltern, Dienst­herrschaft, Schule, Geistlichkeit, Polizei vorlag, diese zur Verantwortung ziehen. Beim Justizministerium trat er für eine Nacherziehung bestrafter Jugendlicher ein, die nicht Strafcharakter tragen dürfe, und wies auf die Unzweckmäßigkeit von Geldstrafen und kurzfristigen Gefängnisstrafen hin und die schädliche Wirkung zu harter oder zu langer Strafen; durch ein Gutachten der Medizinalabteilung erreichte er, daß bei den jugendlichen Brandstiftern die psychischen Störungen der Pubertätsjahre Berücksichti­gung fanden: die Erkenntnis von der Eigenart der Kinder und der Jugend­lichen setzte sich langsam auch im Strafrecht durch.
Diese neue Haltung hat ebenfalls ihre Wurzeln im achtzehnten Jahr­hundert, bei Rousseau, der zum erstenmal, in seinem Erziehungsroman fimile, das Kind, das bisher als kleiner Erwachsener behandelt und beurteilt wurde, nunmehr in seiner Besonderheit darstellte. Das Strafrecht der Französischen Revolution griff diese Ideen auf, und im französischen Straf­gesetz von 1791 finden sich die ersten Sonderbestimmungen für jugend­liche Straffällige: Personen unter sechzehn Jahren, die „sans discernement", also ohne die erforderliche Einsicht — wie es später im deutschen Strafrecht formuliert wurde — eine Straftat begangen hatten, konnten freigesprochen werden, doch konnte das Gericht ihre Unterbringung in eine Besserungs­anstalt, bis höchstens zum zwanzigsten Lebensjahr, anordnen. Damit ist ein Grundbegriff des Jugendstrafrechtes, der Begriff der erforderlichen Ein­sicht, eingeführt, der über den Code Penal Napoleons im Preußischen Straf­gesetzbuch von 1851 und von dort im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 auf­genommen wurde. Das RStGB brachte einen weiteren Fortschritt, indem es eine Strafmündigkeitsgrenze einführte: Kinder bis zum vollendeten zwölf­ten Lebensjahr waren nicht strafmündig, konnten also bei Begehung einer strafbaren Handlung nicht zur Verantwortung gezogen werden, da man generell annahm, daß ihnen die erforderliche Einsicht in die Strafbarkeit ihrer Handlung fehle. Bei den Zwölf- bis Achtzehnjährigen, die nur bedingt straf mündig waren, mußte jeweils geprüft werden, ob sie die nötige Ein­sicht besaßen. Fehlte diese, so waren sie freizusprechen, konnten aber, ganz
entsprechend dem Vorbild des französischen Gesetzes von 1791, in eine Besserungsanstalt eingewiesen werden. Aber auch diejenigen bedingt Strafmündigen, die die erforderliche Einsicht hatten, wurden erheblich milder als die Erwachsenen und niemals mit dem Tode oder mit Zuchthaus bestraft. Das damalige Strafrecht war ein Tatstrafrecht — die Auswirkungen sind noch im heutigen Strafrecht zu erkennen —, wonach die Strafe nach der Schwere der Tat xugemessen wird, ohne daß die Persönlichkeit des Täters eine Rolle spielt. Die einzige Ausnahme, die diesen Grundsatz auflockerte, war die Berücksichtigung der Jugend des Täters (13).

In dieser ersten Fassung des RStGB war die Frage offengeblieben, was mit denjenigen straf unmündigen Kindern geschehen sollte, die sich erheb­liche Straftaten hatten zuschulden kommen lassen, oder mit den bedingt Strafmündigen, denen die notwendige Einsicht gefehlt hatte. Diese Lücke in der Gesetzgebung wurde zunächst nur in einzelnen Bundesstaaten ge­schlossen, in Süddeutschland auf Grund des Polizeistrafgesetzes, in den sächsischen Staaten durch die Volksschulgesetzgebung, in Braunschweig und Anhalt durch eigene Gesetze, so daß hier die Möglichkeit bestand, ge-gegebenenfalls den Eltern die elterliche Gewalt zu entziehen, um die Er­ziehung besonders gefährdeter Kinder zu sichern. Die Uneinheitlichkeit in der Durchführung dieser Maßnahmen und die zunehmende Besorgnis über die Verwahrlosungserscheinungen unter der Jugend führten 1876 zu einer Novelle zum RStGB, wonach in Ergänzung des § 55 die straf unmündigen Kinder unter zwölf Jahren „nach Maßgabe der landesrechtlichen Vorschrif­ten" in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt untergebracht werden konnten, „nachdem durch Beschluß der Vormundschaftsbehörde die Be­gehung der Handlung festgestellt und die Unterbringung für zulässig erklärt ist" —; da der Strafrichter für diese Kinder nicht zuständig war, wurde also die Tatsache ihrer Straftat und damit der Rechtsgrund für das öffentliche Einschreiten vom Vormundschaftsgericht festgestellt. Mit dieser neuen Bestimmung war die Grundlage geschaffen für die sogenannte Zwangserziehung, aus der die heutige Fürsorgeerziehung hervorging.
Die Zwangserziehungsgesetze der einzelnen Bundesstaaten, die im näch­sten Jahrzehnt erlassen wurden, gingen ausnahmslos von dem öffentlichen Interesse an der Erziehung des Nachwuchses aus, nicht von privatrechtlichen Überlegungen, die später, im Bürgerlichen Gesetzbuch, die Möglichkeiten eines Eingreifens in die elterlichen Rechte wieder beträchtlich einengten. Doch lassen sich zwei verschiedene Richtungen feststellen. Einige Bundes­staaten, vor allem Preußen, beschränkten sich auf Ausführungsgesetze zu § 55 RStGB, die meisten jedoch bemühten sich, die hier gegebenen Mög­lichkeiten des zwangsweisen Vorgehens gegen pflichtvergessene Eltern erheblich auszuweiten. So rückt das vorbildliche badische Gesetz von 1886 die Altersgrenze auf sechzehn Jahre hinauf und sah Zwangserziehung schon dann vor, wenn durch den Mißbrauch oder die Vernachlässigung des Er­ziehungsrechtes oder das Versagen der Erziehungsberechtigten Verwahr­losung zu befürchten war, ohne daß eine Straftat vorliegen mußte. Das preußische Gesetz von 1878 dagegen gestattete eine Unterbringung der strafunmündigen Kinder in Familienpflege oder in Erziehungs- oder Besse­rungsanstalten nur, wenn vom Vormundschaftsgericht der Tatbestand des strafbaren Delikts festgestellt war. Über Art und Eintritt der Zwangser­ziehung erfolgte ein Beschluß des Vormundschaftsgerichtes, wobei man sich gegebenenfalls der freien Erziehungsanstalten als ausführender Organe bediente, die, wie schon erwähnt wurde, sich allmählich zu dieser Zusam­menarbeit bereitfanden. Eigene Erziehungsbehörden, die Zwangserziehungs­behörden, wurden in den preußischen Provinzen errichtet, die sich mit den bei der Durchführung der Zwangserziehung erwachsenden spezifischen erzieherischen und organisatorischen Aufgaben befaßten. Anders organi­siert war die Zwangserziehung für die Zwölf- bis Sechzehnjährigen, die auf Grund von § 56 RStGB wegen mangelnder Einsicht strafrechtlich nicht ver­antwortlich waren; ihre Erziehung unterstand den Strafvollzugsbehörden und wurde in eigenen Zwangserziehungsanstalten durchgeführt(14). Das Neue an dieser Entwicklung der Fürsorge für verwahrloste Kinder war, daß die Entscheidung über ihre Unterbringung in Anstalts- oder Familien­pflege in die Hand des Vormundschaftsgerichtes (oder einer entsprechenden Behörde) gelegt wurde und daß, organisatorisch noch wichtiger, eine eigene Erziehungsbehörde ihre Erziehung lenkte und überwachte. Damit trat der Staat unmittelbar in das Gebiet der Jugendfürsorge und der Erziehung der gefährdeten und verwahrlosten Jugend ein, und eine erste Bresche war geschlagen in die liberale Staatsauffassung, die jede Einmischung in die elterliche Erziehung abgelehnt hatte.
Das Bürgerliche Gesetzbuch, das am i. i. 1900 in Kraft gesetzt wurde, bedeutete demgegenüber einen beträchtlichen Rückschritt. Das Elternrecht wurde als ein selbständiges autonomes Recht angesehen, die Eingriffe des Staates, sofern sie bei Gefährdung von Kindern und Jugendlichen not­wendig wurden, auf ein Minimum beschränkt. § 1666 BGB gestattete ein Eingreifen in die elterliche Gewalt nur bei einem nachweisbar schuldhaften Verhalten der Eltern gegenüber dem Kind. Das hätte bedeutet, daß bei In­krafttreten des BGB alle die landesgesetzlichen Vorschriften hinfällig ge­wesen wären, die bei einem objektiven, unverschuldeten Versagen der Eltern Hilfe gewähren konnten. Das Einführungsgesetz zum BGB be­stimmte daher in Art. 135, daß sie unberührt bleiben sollten, engten jedoch die Eingriffe dadurch ein, daß nur bei drohendem „völligen sittlichen Verderben" ein schuldhaftes Verhalten der Eltern nicht nachgewiesen werden mußte. Auf dieser Grundlage, die immerhin eine gewisse Entwicklung ermöglichte, sind dann zu Anfang dieses Jahrhunderts die Landesausfüh-rungsgesetze erlassen worden, die nicht mehr von Zwangserziehung, son­dern von „Fürsorgeerziehung" sprachen, nach dem Beispiel des preußischen Fürsorgeerziehungsgesetzes von 1901. Während die verwaltungsmäßige Durchführung der Fürsorgeerziehung in den verschiedenen Bundesstaaten recht verschieden geregelt wurde, waren die Voraussetzungen reichsrecht­lich einheitlich geregelt und durften durch Landesrecht nicht durchbrochen werden: Fürsorgeerziehung konnte angeordnet werden auf Grund des Strafrechts (wenn das Kind oder der Jugendliche eine Straftat begangen hatte, strafrechtlich aber nicht verantwortlich war), auf Grund des Bürger­lichen Rechts (wenn den Eltern schuldhaftes Verhalten nachzuweisen war), und auf Grund des Einführungsgesetzes zum BGB (wenn objektive Ver­wahrlosung vorlag). Allgemein bindend waren auch die Bestimmungen, daß der Beschluß auf Fürsorgeerziehung vom Vormundschaftsgericht aus­gesprochen werden mußte und die Fürsorgeerziehung, als öffentliche Er­ziehung, auf öffentliche Kosten durch die zuständigen Fürsorgeerziehungs­behörden zu erfolgen hatte. Welche Behörde als Fürsorgeerziehungsbehörde fungierte, war in den einzelnen Ländern sehr verschieden und blieb es auch nach Erlaß des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, das die Ausführungsbe­stimmungen den Ländern überlassen hatte. In Preußen hatte man die Durchführung der Fürsorgeerziehung den Provinzen als kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften übertragen, also großen und tragfähigen Verbänden mit großer Verwaltungserfahrung, die finanziell und sachlich den neuen Aufgaben gewachsen waren. Dort, wo zunächst nicht nur die kreisfreien Städte, sondern auch die kleinsten Gemeinden zu Fürsorgeer­ziehungsbehörden, also zu Kostenträgern, bestellt waren, ergaben sich Schwierigkeiten. Die finanzschwachen Gemeinden unterließen es möglichst, einen Antrag auf Fürsorgeerziehung zu stellen, um der späteren finanziel­len Belastung zu entgehen, so daß diese Regelung aufgegeben worden ist.

Anmerkungen

11)  Wagnitz, Historische Nachrichten, 136, II/2 137
12) Einer der schärfsten Gegner der Unterbringung Jugendlicher in Anstalten für Er­wachsene, „Pflanzschulen des Lasters und Vorhöfe künftiger, größerer Verbrechen", war Johannes Falk (Reis, Falk, 32). — Näheres über Reformbestrebungen im preußischen Strafvollzug für Jugendliche zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts bei Schüttpelz, 28 ff., 42 ff.
13) Zum Folgenden Koch, Verwahrlostenfürsorge im 19. Jahrhundert, 7 ff.
14) Erst in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, als das RJWG ein einheitliches Recht für alle deutschen Bundesstaaten aufstellte, wurden die letzten preußischen Zwangserziehungsanstalten aufgelöst, die bis zuletzt den Strafvollzugsbehörden unterstanden.

Editorische Anmerkungen

Der Text ist Teil. des 9. Kapitels von Hans Scherpner, Geschichte der Jugendfürsorge, Göttingen 1966, S. 160ff

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