Das Philosophische Wörterbuch  BAND 2

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

01/10

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Metaphysik [griech] - 1. idealistische Lehre vom Wesen des Seienden, das über die uns in den Sinnen gegebene Erfahrungswelt hinausgehen soll, 2. die der dialektischen entgegengesetzte Denkweise.

Ursprünglich war «Metaphysik» nur die Be­zeichnung für diejenigen Schriften des Aristo­teles, die Andronikos von Rhodos nach den naturwissenschaftlichen angeordnet hatte. Sie hatten die «erste Philosophie» zum Inhalt, die «Wissenschaft, deren Betrachtung gerichtet ist auf das Seiende» und «die höher reicht als die Naturwissenschaft», denn sie hat es nicht mit einem bestimmten Seienden zu tun, sondern mit dem Seienden schlechthin, und auch nur, sofern es ist. «Jene erste Wissenschaft aber handelt von Dingen, die abgesondert und unbeweglich sind.» Die erste Philosophie untersucht nicht die Natur, sondern das ihr angeblich zugrunde liegende Wesen, sie ist daher «die Wissenschaft vom Gött­lichen».

In der Folgezeit wurde die Bezeichnung «Meta­physik» zum Begriff für «erste Philosophie». Unter Metaphysik wurde die philosophische Lehre vom Übersinnlichen, von dem, was jenseits der mate­riellen Welt existieren soll, vom wahren Sein, das allem Seienden zugrunde liege, verstanden. In diesem Sinne wird Metaphysik auch heute noch von verschiedenen idealistischen Strömungen, insbesondere vom Neuthomismus, als philo­sophische Grundwissenschaft betrieben. Sie ist rein spekulativ und errichtet in dogmatischer Weise ihr Begriffsgebäude, das keine echte Be­ziehung zur objektiven Realität besitzt. kant stellte sich in der Kritik der reinen Vernunft die Aufgabe, diese spekulative dogmatische Meta­physik zu zerstören, indem er die Möglichkeiten der menschlichen Erkenntnis untersuchte und nachwies, daß diese die Grenzen der Erfahrung nicht überschreiten könne. Er hielt jedoch eine kritisch geläuterte Metaphysik im Sinne von philosophischer Theorie für notwendig und be­trachtete die Kritik der reinen Vernunft als «not­wendige vorläufige Veranstaltung zur Beförderung einer gründlichen Metaphysik» (B XXXVI).

Eine völlige Umgestaltung erfuhr die spekulative Metaphysik durch Hegel, der an ihre Stelle die objektive Logik setzte, in welcher der Geist sich in Form von Begriffen dialektisch entwickelt. Zu­gleich bahnte sich bei Hegel ein Bedeutungswandel des Begriffs «metaphysisch» an, indem er darunter das Verfahren des Verstandes faßte, mit ein­seitigen und abstrakten Bestimmungen zu ope­rieren, im Gegensatz zur dialektischen Vernunft, welche die Einseitigkeiten überwindet und zu konkreten Begriffen gelangt. Im dialektischen Materialismus erhält der Begriff «Metaphysik» vor allem die Bedeutung von meta­physischer Denkweise, die im Gegensatz zur Dia­lektik steht. Charakteristische Züge der meta­physischen Denkweise sind das Ignorieren oder die mangelnde Beachtung des universellen Zu­sammenhangs der Gegenstände und Erscheinun­gen.

«Für den Metaphysiker sind die Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe, vereinzelte, eins nach dem anderen und ohne das andre zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal ge­gebne Gegenstände der Untersuchung. Er denkt in lauter unvermittelten Gegensätzen: seine Rede ist ja, ja, nein, nein, was darüber ist, ist vom Übel. Für ihn existiert ein Ding entweder, oder es existiert nicht: ein Ding kann ebensowenig zu­gleich es selbst und ein andres sein. Positiv und negativ schließen einander absolut aus; Ursache und Wirkung stehn ebenso in starrem Gegensatz zueinander. Diese Denkweise erscheint uns auf den ersten Blick deswegen äußerst plausibel, weil sie diejenige des sog. gesunden Menschenverstan­des ist. Allein der gesunde Menschenverstand, ein so respektabler Geselle er auch in dem haus­backenen Gebiet seiner vier Wände ist, erlebt ganz wunderbare Abenteuer, sobald er sich in die weite Welt der Forschung wagt; und die metaphysische Anschauungsweise, auf so weiten, je nach der Natur des Gegenstandes ausgedehnten Gebieten sie auch berechtigt und sogar notwendig ist, stößt doch jedesmal früher oder später auf eine Schran-ke, jenseits welcher sie einseitig, borniert, ab­strakt wird und sich in unlösliche Widersprüche verirrt, weil sie über den einzelnen Dingen deren Zusammenhang, über ihrem Sein ihr Werden und Vergehn, über ihrer Ruhe ihre Bewegung ver­gißt, weil sie vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht.» (Marx/Engels 20, 20f).

Die metaphysische Denkweise unterliegt mit der Entwicklung der Wissenschaften auch einer ge­wissen Veränderung. Überall dort, wo sie in offenen Gegensatz zu allgemein anerkannten Er­gebnissen der Wissenschaft gerät, paßt sie sich den neuen Gegebenheiten an, ohne indes ihren un­dialektischen Charakter aufzugeben. Heute ist es beispielsweise schlechterdings unmöglich, jede Entwicklung zu bestreiten. Daher äußert sich die metaphysische Denkweise in einer evolutionistischen Verflachung des Entwicklungsprinzips oder auch in der Behauptung, die Entwicklung könne nicht zu neuen Qualitäten führen, wenn nicht zugleich eine geistige Kraft wirksam werde. Die metaphysische Denkweise ist wesentlich ein Ergebnis der sammelnden und analysierenden Periode der modernen Naturwissenschaft. Die beginnende einzelwissenschaftliche Forschung mußte zunächst zur systematischen Sammlung der einzelnen Tatsachen und zu ihrer Analyse schreiten, ohne die inneren Zusammenhänge zu kennen.

«Die Zerlegung der Natur in ihre einzel­nen Teile, die Sonderung1 der verschiedenen Natur­vorgänge und Naturgegenstände in bestimmte Klassen, die Untersuchung des Innern der orga­nischen Körper nach ihren mannigfachen ana­tomischen Gestaltungen war die Grundbedingung der Riesenfortschritte, die die letzten 400 Jahre uns in der Erkenntnis der Natur gebracht. Aber sie hat uns ebenfalls die Gewohnheit hinterlassen, die Naturdinge und Naturvorgänge in ihrer Vereinzelung, außerhalb des großen Gesamtzu­sammenhangs aufzufassen; daher nicht in ihrer Bewegung, sondern in ihrem Stillstand, nicht als wesentlich veränderliche, sondern als feste Be­stände, nicht in ihrem Leben, sondern in ihrem Tod. Und indem, wie dies durch Bacon und Locke geschah, diese Anschauungsweise aus der Naturwissenschaft sich in die Philosophie über­trug, schuf sie die spezifische Borniertheit der letzten Jahrhunderte, die metaphysische Denk­weise» (Marx/Engels 20, 20).

Die Entwicklung der Wissenschaften schuf aber auch die Voraussetzungen dafür, diese undia­lektische Denkweise wieder zu überwinden, nach­dem sie ihre historisch begrenzte Aufgabe erfüllt hatte. Die naturwissenschaftliche Forschung wies immer umfassender nach, daß in der materiellen Welt ein universeller Zusammenhang existiert und eine Entwicklung vom Niederen zum Höheren stattfindet. Die Entwicklung des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung schuf die sozialen Voraus­setzungen für die Ausarbeitung der materialisti­schen Dialektik, der wissenschaftlichen Denk­weise, welche die metaphysische theoretisch end­gültig überwand.

Die Tatsache, daß die metaphysische Denkweise trotzdem auch in der Gegenwart noch wirksam ist, hat erkenntnistheoretische und vor allem soziale Ursachen. Eine wichtige erkenntnistheo­retische Quelle des metaphysischen Denkens be­steht in der Eigenart der menschlichen Erkennt­nis, daß sie den Gegenstand nicht sogleich als Ganzes, vollständig, in allen seinen Zusammen­hängen abbilden kann, sondern sich diesem Ziel nur schrittweise, durch immer tiefer gehende Ana­lyse und Synthese, durch die Bildung von Ab­straktionen, Begriffen und Gesetzen, nähern kann. Hierbei werden als Durchgangsetappe notwendige Zusammenhänge zerstückelt, Konti­nuierliches unterbrochen und das lebendige Ganze in einem gewissen Sinne «getötet». Das kann dazu führen, daß einzelne Momente des Erkenntnisprozesses verabsolutiert werden und der dialektische Charakter des Gegenstandes nicht erfaßt wird.

Die soziale Ursache für den Fortbestand der meta­physischen Denkweise sind die Klasseninteressen der reaktionären Kreise der Bourgeoisie, die sich mit allen Mitteln dem gesellschaftlichen Fort­schritt entgegenstemmen. Schon marx (23, 27f) bemerkte, daß die dialektische Denkweise dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein «Ärgernis und ein Greuel» sei, weil sie die Vergänglichkeit alles Bestehenden nachweise. In der metaphysischen Denkweise sieht sie eine Methode, die bestehenden sozialen Verhältnisse zu verteidigen. Daher durchdringt die meta­physische Denkweise weitgehend noch alle Strö­mungen der bürgerlichen Ideologie der Gegen­wart.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S.715f

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