Ökonomische Krise und präventive Konterrevolution
Ein Beitrag zur aktuellen Weltwirtschaftskrise und zum dreißigsten
Todestag von Herbert Marcuse
von Christian Girschner

01/10

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„Die Konterrevolution ist weitgehend präventiv; in der westlichen Welt ist sie das ausschließlich. Hier gibt es keine neuere Revolution, die rückgängig gemacht werden müsste, und es steht auch keine bevor. Und doch schafft die Angst vor einer Revolution gemeinsame Interessen und verbindet verschiedene Stadien und Formen der Konterrevolution von der parlamentarischen Demokratie über den Polizeistaat bis hin zur offenen Diktatur. Der Kapitalismus reorganisiert sich, um der Gefahr einer Revolution zu begegnen“ (KuR,8).

Die derzeitige Weltwirtschaftskrise besitzt für die meisten kritischen Köpfe unserer Tage ihre Ursache in der neoliberalen Ideologie und Praxis. Es stehen nicht nur tief greifende ökonomische, sondern gesellschaftliche Veränderungen als Folge der Weltwirtschaftskrise auf der Tagesordnung. Wie soll man die kommenden Ereignisse einordnen und erklären? Und reicht der Hinweis auf den unsäglichen Neoliberalismus als Ursache für die ökonomische Weltkrise, obwohl ein jeder weiß, es gibt keinen krisenfreien Kapitalismus und schon der >funktionierende< Geschäftsgang produziert nicht nur >Wohlstand<, sondern täglich Fremdbestimmung, Indoktrination, Armut, Hunger, Verelendung, Krieg und Katastrophen auf der Welt? Will man in der kritischen Gesellschaftswissenschaft das seit dreißig Jahren verwendete Interpretationsmuster, wonach der Kapitalismus sich im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus befindet, abermals bemühen, um die derzeitige Weltwirtschaftskrise und ihre Folgen in diese starre Schablone zu pressen? Aber möglicherweise befinden wir uns längst an einem besonderen historischen Wendepunkt in der kapitalistischen Entwicklung, der ähnlich einschneidende gesellschaftliche und politikökonomische Veränderungen hervorbringen wird, wie dies im Fall der Weltwirtschaftskrise von 1929 gewesen war?

Ein Rückgriff auf einige Einsichten über die kapitalistische Entwicklung von Herbert Marcuse könnte helfen, der sich nie scheute, in seiner Beurteilung der gesellschaftlichen Entwicklung die Negation des Kapitalverhältnisses theoretisch und praktisch einzufordern, eine andere Betrachtung auf die aktuelle Krise zu eröffnen. Marcuse hat einen bislang nicht wahrgenommenen Erklärungsansatz über die kapitalistische Entwicklungsdynamik entwickelt, der sich implizit durch sein gesamtes Werk zieht. Dieser Ansatz geht davon aus, dass die spätkapitalistische Geschichte vor allem eine Geschichte von aufeinanderfolgenden präventiven Konterrevolutionen ist. Dies möchte ich hier anhand zahlreicher, aber nicht systematisch ausgearbeiteter Hinweise und Bemerkungen von Marcuse im Folgenden rekonstruieren bzw. reinterpretieren.

Bei Herbert Marcuse stellt die präventive Konterrevolution eine politik-ökonomische Reaktion der bürgerlichen Gesellschaft auf die wachsenden Reproduktions- und Expansionsprobleme des Kapitalismus dar. Ab einem bestimmten historisch erreichten Niveau der Kapitalakkumulation und Produktivität treten diese Probleme der Ökonomie für Marcuse in einer neuartigen und unausweichlichen Schärfe auf, die die Weiterexistenz des Kapitalismus ernsthaft infrage stellen. Mit dem Erreichen dieses historischen Zeitpunktes bedarf es vonseiten der herrschenden Machtelite, des Kapitals und Staates einer neuartigen Herrschaftsstrategie, um die Expansion und damit die Erhaltung des Kapitalismus sowie die dazugehörige Unterwerfung der Menschen weiterhin zu gewährleisten. Der in dieser Hinsicht entscheidende Wendepunkt in der Geschichte des Kapitalismus stellt in den Augen von Marcuse die große Weltwirtschaftskrise von 1929 dar, die eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung des Faschismus als erste historische Form der präventiven Konterrevolution in Deutschland werden sollte. Aber die präventive Konterrevolution blieb auch nach der Niederlage des Faschismus dadurch erhalten, dass sie neue Gestaltformen annahm, da die schwerwiegenden Reproduktions- und Expansionsprobleme des Kapitalismus weiter bestehen blieben. Keynesianismus, Neo-Konservativismus und Neoliberalismus bilden daher in der Geschichte der präventiven Konterrevolution nur neuere politikökonomische Paradigmen bzw. herrschaftssichernde Ideologien, um die Kapitalexpansion entgegen allen Krisentendenzen und gesellschaftlichen Widersprüchen zu fördern und zu sichern.

Jenseits der (Post-)Fordismustheorie: die Endlichkeit des Kapitalismus

Der Ansatz, die Geschichte der kapitalistischen Entwicklung ab einem bestimmten Zeitpunkt als eine Geschichte einer auf Dauer gestellten präventiven Konterrevolution zu analysieren, kann zugleich als eine explizite Kritik an der strukturalistisch inspirierten Regulationstheorie gelesen werden, die Begrifflichkeiten wie Fordismus und Post-Fordismus zu Allerweltskategorien der Kapitalismuskritik gemacht hat.
Es ist noch nicht lange her, da postulierte ein bundesdeutscher Vertreter der Regulationstheorie, dass sich die kapitalistische Gesellschaft seit einigen Jahren im sogenannten Postfordismus befindet (Hirsch 2005, 130ff.), der ein neues Akkumulationsmodell darstellt. Der seit den siebziger Jahren kriselnde >Fordismus< (als besonderes Akkumulations- und Regulationsregime) würde deswegen der Vergangenheit angehören. Allerdings hat die 2008 eingetretene Weltfinanz- und Wirtschaftskrise diese Periodisierungsvorstellung der Regulationstheorie hinreichend widerlegt bzw. blamiert1). Die Vertreter dieser in den achtziger Jahren entwickelten Phasentheorie des Kapitalismus ordnen unter dem Paradigma des (Post)Fordismus vorschnell und gern die Weltgeschehnisse, Moden, Kulturen und Theorien ein. So wurden z. B. die Analysen über die spätkapitalistische Gesellschaft von Herbert Marcuse historisiert, in dem diese zu Beschreibungen des nun untergehenden Fordismus stilisiert wurden (Roth 1985). Zudem habe Marcuse nicht die Endlosigkeit des Kapitalismus erkannt, wie es die Regulationstheorie in ihrer Vorstellung von der unendlichen Abfolge von Akkumulationsmodellen behauptet. Ist deshalb Herbert Marcuse für die heutige Analyse des Kapitalismus nur noch ein >toter Hund<?

Herbert Marcuse hatte unter dem Stichwort „Verdinglichung der Marxschen Theorie“ vor einem ahistorischen wie strukturalistischen Zugriff auf die bürgerliche Gesellschaft gewarnt: „Die Reduktion der Marxschen Theorie auf feste >Strukturen< scheidet die Theorie von der Wirklichkeit und verleiht ihr einen abstrakten, distanzierten, >wissenschaftlichen< Charakter, der ihre dogmatische Ritualisierung erleichtert.“ (KuR, 44) Die Post/Fordismustheorie verblieb trotz gegenteiliger Rhetorik in dieser strukturalistischen Logik gefangen: Die immer gleichen „festen Strukturen“ des Kapitals verändern sich hier nicht mit der historischen Entwicklung des Kapitals, sondern nur die empirische bzw. ökonomisch-quantitative Zusammensetzung des Kapitals für eine behauptete Phase. Die ökonomischen Kategorien unterliegen damit keiner historischen Entwicklungsdynamik, sondern werden nur noch mit selektiv ausgewähltem historischen Material gefüllt, welches wiederum in die Schablone eines am Schreibtisch zusammenkonstruierten Akkumulationsmodells hineingepresst wird. Soweit gibt es in der Regulationstheorie auch keine innere Entwicklungsgrenze des Kapitals, sondern nur noch eine unendliche Abfolge von unterschiedlichen und voneinander isolierten Akkumulationsmodellen. Eine historische Kontinuität wie Entfaltung der kapitalistischen Kategorien wird in der Regulationstheorie nicht mehr thematisiert. Vielmehr werden die Kategorien nur noch äußerlich aus der Empirie aufgegriffen und ihre Konstitution nicht mehr erklärt, weshalb die zu erklärende Genese und die zu bestimmende ökonomische Form des Kapitals durch die Frage nach der Aufrechterhaltung der schon immer vorgefundenen kapitalistischen Ordnung ersetzt wurden. So gleitet die Regulationstheorie notwendigerweise ins strukturfunktionalistische Fahrwasser ab. Daraus entspringt zuguterletzt das Postulat eines unendlich wandlungsfähigen und expansiven kapitalistischen Systems, welches - in den Augen der Vertreter der Regulationstheorie - jede ökonomische Krise als Verjüngungskur seiner selbst nutzt (vgl. Girschner 2006). fabulierte

Dagegen ist die Existenz des Kapitals für Marcuse von vergänglicher Natur. Der Niedergang des Kapitalismus begründet sich für ihn durch den tendenziellen Fall der Profitrate, der selbst in der ökonomischen Form des Kapitals eingeschrieben ist. Der todbringende, aber langwierige Fall der Profitrate für das Kapital ist deshalb auch nicht auf ein Versagen, sondern auf den Expansionserfolg des Kapitals rückführbar. Die Kapitalakkumulation mit ihren historisch sich entfaltenden Gestalt- und Entwicklungsformen bildet nicht nur eine Kontinuitätslinie, sondern vielmehr die Grundlage für die historisch wachsenden Reproduktions- und Expansionsprobleme der bürgerlichen Gesellschaft. Der ahistorischen und strukturalistischen Bestimmung der kapitalistischen Warengesellschaft setzte Marcuse die nachstehenden Erkenntnisse entgegen (vgl. KuR, 43f., VR, 145f.):

Die Begriffe, die für eine Untersuchung des Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert benutzt wurden, dürfen nicht unreflektiert auf eine gegenwärtige Phase angewandt werden.
Die politikökonomischen Kategorien des Kapitals sind vielmehr historisch sich entwickelnde Kategorien.
Denn der Kapitalismus ist zwar in allen seinen Phasen Kapitalismus, aber die Leistungsfähigkeit des Kapitals entwickelt sich erst im Verlauf seiner Expansion, die damit einhergehenden „strukturellen Veränderungen“ betreffen zudem die gesamte Gesellschaft.
Wer dies ignoriert, reduziert den Kapitalismus auf „eine ahistorische, undialektische Abstraktion“ und hält „umstandslos an der Begrifflichkeit früherer Entwicklungsstadien“ fest.
Ökonomische Krisen resultieren aus der Widersprüchlichkeit des Kapitals selbst und sind „also keine >Störungen< oder schwache Stellen innerhalb eines harmonischen Ganzen, sondern gerade die Bedingungen, in denen Struktur und Tendenzen der Wirklichkeit an den Tag treten“.
Diese Krisen des Kapitals sind notwendige Momente „der >Selbstentfaltung< des Kapitalismus“, und diese enthüllt ihren „wahren Inhalt durch den negativen Akt des Zusammenbruchs.“

Zur Bedeutung der „präventiven Konterrevolution“

Die präventive Konterrevolution als übergreifendes politikökonomisches Organisations- und Funktionsprinzip der kapitalistischen Entwicklung bildet sich für Marcuse also ab einem bestimmten historischen Zeitpunkt heraus, nämlich als diffuse Reaktion auf die widersprüchliche Entwicklungs- und Krisendynamik des Kapitals, die im tendenziellen Fall der Profitrate ihren pointierten Ausdruck findet. Denn die „innere Dynamik des Kapitalismus“ treibt „zum Zusammenbruch (...), trotz der und in den Gegentendenzen“ (ZM, 22). Aber die „Frage >wie lange noch?< lässt sich nicht rational beantworten: die Theorie ist keine Prophetie.“ (ÜB, 20) Entgegen fetischisierten bzw. bürgerlichen und marxistischen Vorstellungen von einer Trennung und Dualität von Politik und Ökonomie insistiert Marcuse auf eine unzertrennliche Einheit von Politik und Ökonomie. Politischer Kampf ist für ihn ein innerer Bestandteil und Antriebsmotor der kapitalistischen Ökonomie: „Es wäre eine grobe Verdinglichung des Marxschen Begriffs, wenn die Zusammenbruchstendenz verabsolutiert würde. Auch als Grundtendenz enthält sie den subjektiven Faktor: die Praxis.“ (ZM, 22) Trotzdem werden in der historisch langfristigen Entwicklung und Entfaltung des Kapitalismus „strukturelle Arbeitslosigkeit, Saturierung des Marktes, Inflation, innerkapitalistische Konflikte“ stetig und unausweichlich zunehmen (ÜB, 20). Zu dieser historischen Entwicklungstendenz des Kapitals formulierte Marcuse einige Thesen (vgl. SD, 130ff., 145, 148ff; VR, 279f.):

Der Niedergang des Kapitalismus ist ein weltweiter Entwicklungsprozess, „der ein Jahrhundert währen kann“.
Denn die kapitalistische Gesellschaft wird sich angesichts der hoch entwickelten technologischen Kontrollmechanismen und einem riesigen Militärapparat noch lange reproduzieren können. Zudem hat der Kapitalismus seine „Reichweite und Macht rationaler Praktiken in einem unerheblichen Maße erweitert“. Es dürfte daher zu einer „lange(n) Periode der Barbarei“ kommen. Insbesondere die „weitgehenden politischen und administrativen Regulierungen“ konstituieren ein „Wechselspiel von Ordnung und Zufall, bewusster Aktion und blinden Mechanismen“, die die ökonomische Wachstumsfähigkeit des Kapitals trotz größer werdenden Problemen über einen längeren Zeitraum sichern können.

Marcuse brachte die für ihn zwangsläufig zunehmenden Expansionsprobleme des Kapitals in knapper Form auf den Punkt, als er ausführte: Der tendenzielle Fall der Profitrate konstituiert sich aus dem Sachverhalt, dass sich in der historischen Entwicklung des Kapitals eine säkulare Tendenz herausbildet, die beinhaltet, dass die lebendige und wertsetzende Arbeit immer mehr aus der Produktion herausgedrängt wird, das heißt auch, dass sich der menschliche Arbeitsaufwand zur Produktion von immer größeren Warenmengen kontinuierlich verringert. Es handelt sich hierbei um das „>Gespenst der Automation<“ (AI, 22). Diese eherne Entwicklungstendenz der bürgerlichen Gesellschaft, die die innere Entwicklungsschranke des Kapitals konstituiert, machte Marcuse an den folgenden Punkten fest (VR, 273ff.; PuPo, 71f.; AI, 22):

Das Kapital entwickelt in seiner historischen Entwicklung und Entfaltung die Produktivkräfte rasant und steigert damit beständig die Mehrwertproduktion (Rationalisierung, Intensivierung der Arbeit). Dies vermindert jedoch zugleich die Menge der lebendigen bzw. wertsetzenden wie wertvermehrenden Arbeit im Verhältnis zu der Quantität der Produktionsmittel, die Kapitalakkumulation wird deshalb schwieriger und muss immer aufwendiger organisiert wie gesichert werden. Das Kapital beruht deshalb auf einem unlösbaren Dilemma, dem es, wie es sich auch drehen und wenden mag, nicht entkommen kann. Denn gelingt es dem Kapitalismus nicht, die Produktivkräfte weiter auszubauen und zu entwickeln, „fällt die Produktivität der Arbeit unter das von der Profitrate geforderte Niveau“ und stürzt deshalb in eine ökonomische Existenzkrise. „Und wenn der Kapitalismus dieser Forderung folgt und die Automation rücksichtslos weitertreibt, stößt er auf seine innere Grenze: die Quelle des Mehrwerts für die Aufrechterhaltung der Tauschgesellschaft versickert.“ Es läutet unwiederbringlich die Todesglocke des Kapitals ein, denn die „vollendete Automation der gesellschaftlich notwendigen Arbeit (ist) mit der Erhaltung des Kapitalismus unvereinbar.“
Mit dieser Entwicklung und Entfaltung der Produktion auf stets größerer Stufenleiter „geht eine Vergrößerung der Masse des Kapitals in den Händen individueller Kapitalisten einher“ und bringt eine „monopolistische Konkurrenz zwischen gigantischen Unternehmen“ hervor.
Durch die beständige Schaffung neuer Produktionszweige und Bedürfnisse versucht der Kapitalismus andauernd seine eigenen Expansionsgrenzen hinauszuschieben; es eröffnet damit neue kapitalistische Verwertungszonen.
In der langfristigen historischen Entwicklung des Kapitals lässt sich jedoch der tendenzielle Fall der Profitrate immer schwieriger aufhalten bzw. hinauszögern. Der Fall der Profitrate verschärft dann „sowohl den Konkurrenzkampf als auch den Klassenkampf: politische Methoden der Ausbeutung ergänzen die ökonomischen, welche langsam ihre Grenzen erreichen“.
Eine Folge für das Kapital ist nicht nur das wiederkehrende Auftreten von Überproduktionskrisen, vielmehr wird eine „profitable Investierung von Kapital (…) immer schwieriger. Der Kampf um neue Märkte pflanzt den Samen für immer neue internationale Kriege“.
Die Ergebnisse der kapitalistischen Expansion bleiben „blind. Die fallende Profitrate, die dem kapitalistischen Mechanismus tendenziell innewohnt, untergräbt gerade die Grundlagen des Systems und errichtet die Schranke, über die hinaus die kapitalistische Produktion nicht fortschreiten kann.“


Das Konzept der präventiven Konterrevolution von Marcuse geht nun davon aus, dass die Reproduktionsfähigkeit des Kapitals ohne eine umfassende Strategie der Wachstumssicherung und –förderung, die keine gesellschaftlichen Sphären mehr unbehelligt lässt, nicht mehr gewährleistet werden kann und deshalb ein alles ergreifendes politik-ökonomisches Herrschaftsprojekt erfordert. Denn die sich historisch entwickelnde Kapitalvermehrung bringt nicht nur beständig neue Organe hervor, um dadurch die Expansion voranzutreiben und um so die eigene ökonomische Form zu erhalten, sondern ab einer bestimmten historischen Entwicklungsstufe muss die Gesellschaft ebenfalls neue soziale und politische (Ausbeutungs-)Organe für die Ausdehnung des Kapitals hervorbringen und bereitstellen. Eine bloß passive und äußerliche Unterordnung bzw. „Subsumtion“ (Marx) der Gesellschaft unter die Imperative der Wertvermehrung reicht nicht mehr aus, um die Expansion und Selbsterhaltung des Kapitals zu gewährleisten. Es bedarf sowohl einer permanenten gesellschaftlichen Mobilisierung und Neuformierung der Individuen als auch einer fortdauernden Reorganisation wie Neukonstitution von sozialen und politischen Institutionen. Die Aufrechterhaltung und Sicherung des kapitalistischen Wirtschaftswachstums benötigt eine beständige soziale, psychologische, politische, ideologische und institutionelle Anpassungs-, Innovations- und Mobilisierungstechnik, die dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegenwirkt. Die gesellschaftlichen Institutionen und die Menschen stehen damit unter einem beständigen Ausnahmezustand, um den dauernd sich verändernden Ansprüchen des sich zugleich unaufhörlich reorganisierenden Kapitals nachzukommen bzw. zuvorzukommen. Jede Sphäre der Gesellschaft muss der zu steigernden Produktivität der Arbeit und damit der Profitabilität des Kapitals zu Hilfe eilen. Es darf keine Freiräume mehr geben, die nicht einem dauernden Test unterworfen werden, inwieweit sie der Förderung des Kapitalwachstums noch dienlich sind bzw. für diesen Zweck noch dienlicher gemacht werden könnten: „Die Regierung fortgeschrittener und fortschreitender Industriegesellschaften kann sich nur dann behaupten und sichern, wenn es ihr gelingt, die der industriellen Zivilisation verfügbare technische, wissenschaftliche und mechanische Produktivität zu mobilisieren, zu organisieren und auszubeuten. Und diese Produktivität mobilisiert die Gesellschaft als Ganzes über allen partikulären oder Gruppeninteressen.“ Aus diesem Grund erlegt die Kapitalverwertung der „Arbeitszeit und der Freizeit, der materiellen und der geistigen Kultur die ökonomischen wie politischen Erfordernisse seiner Verteidigung und Expansion auf.“ (EM, 23) Die Steigerung der Leistungs- und Profitfähigkeit wird von den Individuen von nun an nicht mehr als äußerer Zwang empfunden, vielmehr in „Selbstdisziplin und Selbstbeherrschung überführt“, was als Selbstentfaltung und –verwirklichung ausgegeben und aufgefasst wird (EFT, 346ff.). Mit der wissenschaftlich entwickelten und nun allseitig angewendeten Psychotechnik gelingt es, dem Individuum ein Gefühl zu geben, dass es sich selbst entfaltet, „indem es Funktionen erfüllt, die sein Selbst auflösen in eine Folge verlangter Aktionen und Antworten. In diesen Grenzen wird Individualität nicht nur erhalten, sondern auch gepflegt und belohnt“, damit es die „Pflichten verinnerlicht und übernimmt, die ihm aufgetragen werden.“ (ebd., 352)


Trotz der permanenten Anwendung neuartiger Methoden der Leistungssteigerung und Produktionsausdehnung in allen Bereichen, die die präventive Konterrevolution zustande bringt, kann die bürgerliche Gesellschaft in ihrem weiteren historischen Verlauf dem tendenziellen Fall der Profitrate immer weniger entgegenwirken. Für Marcuse kommt es deshalb neben einer wachsenden „Saturierung des Marktes in den Metropolen“ zur Herausbildung neuer Armutszonen „außerhalb der privilegierten, zahlungsfähigen Bevölkerung“. Andererseits wird die für die Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit immer kürzer, aber ohne „dass das Gesamtquantum an abhängiger Arbeit reduziert würde: sie bleibt >full-time<-Beschäftigung, Lebensinhalt.“ (ZM, 26) Die historisch schwieriger werdende Entwicklung und Entfaltung des Kapitals bringt ferner einen Berg an neuen sozialen, ökonomischen und ökologischen Problemen hervor, die die Reichtumsvermehrung des Kapitals weiter erschweren und behindern (ebd., 28). Darunter fasste Marcuse folgende Aspekte:

Aus der langsameren Akkumulationsfähigkeit des Kapitals resultiert eine steigende Arbeitslosigkeit sowie Verarmung und letztendlich eine Verschärfung des Klassenkampfes.
Darüber hinaus kommt es zu einer zunehmenden Umweltzerstörung und zu einem gewaltigen Raubbau bzw. einer beständig ansteigenden Vernutzung an natürlichen Ressourcen (Rohstoff- und Energieverknappung).
Die aus der schwieriger gewordenen Kapitalakkumulation entspringende Intensivierung der kapitalistischen Konkurrenz zwischen den Konzernen und Staaten (Wachstums-, Ressourcen-, Markt-, internationale bzw. regionale Herrschaftssicherung etc.) wird zunehmend neue Konflikte und Kriege hervorrufen.

Aus dem folgt, dass „die Tendenz zur Katastrophe als Folge des Fortschritts“ des Kapitalwachstums eine „reale Gefahr für die bestehenden Formen der Industriegesellschaft“ darstellt. Gegen diese Gefahr und gegen das Erlahmen der Expansionsfähigkeit des Kapitals wird „die Gesellschaft mobilisiert“ und in „leistungsfähigeren Herrschaftsformen“ organisiert (PP, 136). Jedoch verliert die präventive Konterrevolution mit jeder höheren Stufenleiter der kapitalistischen Reichtumsproduktion ein Stück ihrer Wirksamkeit, da die menschliche Arbeitskraft als einzige Quelle des kapitalistischen Reichtums immer stärker aus dem Produktions- und Verwertungsprozess des Kapitals verdrängt wird. Kurz gesagt, der eigene Erfolg des Kapitals führt unabwendbar in den ökonomischen und gesellschaftlichen Abgrund.

Aspekte der „rebellischen Subjektivität“

Die Grundlage der präventiven Konterrevolution beruht also einerseits darauf, dass das Kapital ein historisch einmaliges Niveau der Produktivität erzeugt, das die Kapitalverwertung immer schwieriger werden lässt. Andererseits führt diese Entwicklung dazu, dass die Arbeit zur Erbringung der lebensnotwendigen Güter des Lebens auf ein Minimum reduziert werden könnte. Damit die kapitalistische Verwertung auf höherer Stufenleiter weiter fortgeführt wird, müssen demnach beständig neue Produktionszweige geschaffen und neue Bedürfnisse bei den Menschen hervorgerufen werden. Im Prinzip könnte das „Reich der Notwendigkeit“ enorm verkleinert werden, wenn zugleich die Menschen die Autonomie über die Produktion übernehmen würden, was jedoch unter kapitalistischen Bedingungen nicht möglich ist. Sowohl die Reduktion der Arbeitszeit für lebensnotwendige Waren auf ein Minimum als auch die expansive Schaffung neuer sozial-kultureller Bedürfnisse bei den Individuen konstituieren für Marcuse das unberechenbare Potenzial einer „rebellischen Subjektivität“, die die kapitalistische Warengesellschaft infrage stellt. An diesem Punkt muss daher für Marcuse auch die präventive Konterrevolution ansetzen, um die Herrschaft des Kapitals gegenüber den Individuen und Klassen mit Hilfe von psychologischen, ökonomischen und kulturellen Herrschaftsmethoden abzusichern.


Marcuse glaubte schließlich, dass aus der Entfaltung der Produktivkräfte die für alle Menschen offensichtlich werdende Möglichkeit entspringt, sich von der mühseligen Arbeit für das Kapital und den damit konstituierten Herrschaftsstrukturen zu befreien: „Die Erfahrung verschwendeter, unnötiger Arbeitszeit (...) lässt sich immer schwerer unterdrücken: sie stimuliert das Bedürfnis nach dem >Reich der Freiheit<, das in der spätkapitalistischen Warenwelt dauernd produziert und negiert wird. Der Kapitalismus erzeugt stetig Bedürfnisse, die er nicht erfüllen kann, vor allem das Bedürfnis nach Abschaffung der ausgebeuteten Arbeit als Lebensform. Denn der Kapitalismus ist abhängig von der Reproduktion und der Intensivierung der ausgebeuteten Arbeit: Die Luxusgüter, das kapitalistische Reich der Befriedigung und der Lust, sind Waren, die gekauft und verkauft werden müssen: Tauschware. So transformiert der Kapitalismus das Reich der Freiheit (das er selbst provoziert und erscheinen lässt) in ein Reich seiner Notwendigkeit: die Produktion von Überfluss, von Schönheit, Erfüllung; die Arbeit für Luxusgüter wird zur gesellschaftlich notwendigen, unmenschlichen Arbeit, der Ziel und Ende versagt sind.“ (ZM, 26f.)


Allerdings gelang nach Marcuse der kapitalistischen Gesellschaft bislang diese ihr innewohnenden Freiheitstendenzen erfolgreich zu kanalisieren und in herrschaftserhaltende Aggressionen umzuformen. Diese Einschätzung beruht auf den folgenden Gesichtspunkten (VüB, 78f.; PP, 136f. u. vgl. ZM, 23; ReTo, 94f.):


Der Widerspruch zwischen den Möglichkeiten eines „leichten und freien Leben“ und der Verewigung des Existenzkampfes ruft „bei der unterworfenen Bevölkerung jene sich steigernde Aggressivität“ hervor, „die (wenn sie nicht gesteuert wird, den angeblichen Feind zu hassen und zu bekämpfen) jedes passende Ziel trifft: Weiß oder Schwarz, den Einheimischen oder den Fremden, den Juden oder Christen, Reich oder Arm. Das ist die Aggressivität der Opfer der Repression, die wegen ihres Lebensunterhalts auf die repressive Gesellschaft angewiesen sind und daher die Alternative verdrängen. Ihre Gewalt ist die des Establishments und nimmt sich Figuren zur Zielscheibe, die, zu Recht oder zu Unrecht, anders zu sein und eine Alternative zu repräsentieren scheinen“.
Das Potenzial eines befreiten Lebens wird aber auch durch „die Anziehungskraft“ des kapitalistisch produzierten Überflusses konterkariert und „bewirkt die Verewigung des Existenzkampfes, die zunehmende Notwendigkeit, Nicht-Notwendiges zu produzieren und zu konsumieren. (...) Der phantastische Ausstoß von Dingen und Dienstleistungen aller Art übersteigt jede Vorstellungskraft; aber er beschränkt und entstellt sie in der Warenform, wodurch die kapitalistische Produktion ihre Gewalt über das menschliche Dasein erweitert“.
Nicht zuletzt deswegen kann auf eine „terroristische Eingliederung“ verzichtet werden, da die Menschen in den kapitalistischen Metropolen einen „guten Grund haben, sich einzuordnen oder sich einordnen zu lassen. Ihre Mitarbeit und ihr Einverständnis mit dem bestehenden System erscheint als rational, ja sie reproduzieren selbst ihre Einordnung; nachdem einmal ihre Bedürfnisse und Neigungen den Erfordernissen des Apparates angepasst sind, bestimmen sie in der Tat als Wähler die Politik, wählen sie denjenigen unter den ihnen vorgesetzten Kandidaten, der ihrer Meinung nach oder ihres Teiles der öffentlichen Meinung nach ihre Interessen innerhalb des Apparates am besten vertritt“.
Zudem haben die Menschen die „Wahlfreiheit innerhalb ihrer Kaufkraft auch in der Konsumtionssphäre und in der höheren Kultur – mit anderen Worten: die Einordnung geschieht durch einen demokratischen Pluralismus“.
Die Konterrevolution sichert zudem die mentale Integration der Menschen mithilfe der gesellschaftlichen Etablierung der „repressiven Toleranz“, das heißt: „Toleranz wird auf politische Maßnahmen, Bedingungen und Verhaltensweisen ausgedehnt, die nicht toleriert werden sollten, weil sie die Chancen, ein Dasein ohne Furcht und Elend herbeizuführen, behindern, wo nicht zerstören.“ Toleranz verliert damit seinen früheren emanzipatorischen und kritischen Gehalt und verkehrt sich in ein Mittel, um „den Kampf ums Dasein zu verewigen und die Alternativen zu unterdrücken.“
Allerdings werden mit der historischen Entwicklung des Kapitals immer mehr Schichten jenseits dieser pluralen Einkaufs-Demokratie leben, „die nicht eingeordnet sind und vielleicht auch nicht eingeordnet werden können, nämlich rassische und nationale Minderheiten, dauernd Arbeitslose und Arme. Sie stellen die lebendige Negation des Systems dar, aber sie bilden eine Minderheit, die das Funktionieren des Ganzen bis jetzt nicht ernsthaft infrage stellt.“

Der deutsche Faschismus als „präventive Konterrevolution“

“Die effektive Verwirklichung der Interessen der Großindustrie war eines der stärksten Motive für die Überführung der ökonomischen in totalitäre politische Herrschaft; Effektivität ist einer der Hauptgründe für die Macht des faschistischen Regimes über die beherrschte Bevölkerung.“ (EFT, 356)

Die präventive Konterrevolution beginnt für Marcuse mit dem einsetzenden Faschismus in Europa, weil sich hier eine historisch neue Herrschaftsform des Kapitals konstituierte, um die aus dem tendenziellen Fall der Profitrate resultierende Grenze des Kapitalwachstums wie die daraus entspringenden Gefahren und Widersprüche (soziale Aufstände, Widerstände, Revolten etc.) für das Kapital aufzufangen. Die präventive Konterrevolution in der Gestalt des Faschismus, die hier nur kurz angerissen werden soll, hat eine offen staatsterroristische Form angenommen, nämlich (ZM, 24):

durch die terroristische Unterdrückung der Opposition;
als „Liquidierung einer ganzen Generation revolutionärer Vertreter der Arbeiterklasse“;
durch die zentrale Organisierung der Ökonomie für „die Restauration und Expansion des Großkapitals bei gleichzeitiger Delegierung der ökonomischen Souveränität an den faschistischen Machtapparat“;
durch „Transformation der ausgebeuteten Klassen“ in eine gleichgeschaltete Masse und „als privilegierte Bevölkerung gegenüber den geopferten >Fremdgruppen<“.

Dementsprechend definiert Marcuse den Faschismus als eine „als totalitäre Organisation der Gesellschaft zur Bewahrung und Ausdehnung des Kapitalismus in einer Situation, in der dieses Ziel durch die normale Entwicklung des Marktes nicht mehr erreicht werden kann.“ (SD, 174) Die besondere historische Entwicklungsschranke für das Kapital sah Marcuse in zwei zentralen Faktoren: einerseits „durch eine starke sozialistisch-kommunistische Opposition im eigenen Land“, andererseits „durch den gravierenden Rückgang der Kapitalakkumulation als Folge eines verlorenen Krieges, einer tief greifenden Wirtschaftskrise usw.“ Die Krisenlösung zur Überwindung der vom Kapital selbst konstituierten Entwicklungsschranke bestand im Faschismus darin, auf der einen Seite das Lohnniveau zu senken und die Macht der Gewerkschaften zu brechen, auf der anderen eine aggressive imperialistische Politik zu betreiben. Und dies „erfordert die Mobilisierung der gesamten Bevölkerung für das durch die herrschende Klasse definierte nationale Interesse, die Abschaffung des Rechtsstaates, die Entmachtung des Parlaments als Plattform für die Opposition, die Militarisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und die faktische Außerkraftsetzung der demokratischen Ideologie.“ (ebd., 174) Dies beinhaltete ebenfalls eine Transformation des „gesamten kulturellen Gefüges.“ (VR, 361) Der Faschismus zerstörte deswegen den „liberalistischen Rahmen der Kultur“ und „schaffte“ damit den „letzten Bezirk ab, in dem das Individuum sein Recht gegenüber Gesellschaft und Staat beanspruchen konnte.“ (ebd., 362) Der Nationalsozialismus glorifiziert demgegenüber „die Massen und hält am >Volk< in seiner vorrationalen, natürlichen Verfassung fest. (...) Das autoritäre System kann (...) das Leben seiner Gesellschaftsordnung nur dadurch aufrechterhalten, dass es jedes Individuum ohne Rücksicht auf sein Interesse auf den ökonomischen Prozess zwangsverpflichtet. Die Idee individueller Wohlfahrt weicht der Forderung des Opfers. >Die Pflicht des Opferns für die Gesamtheit hat keine Grenzen, wenn wir das Volk als das höchst Gut auf Erden ansehen ...<.“ (ebd., 364f.) Ein besonderes Merkmal des deutschen Faschismus bestand für Marcuse in der alles durchdringenden Rationalität als allgemeingültiges Organisationsprinzip nicht nur der Produktion, sondern des gesellschaftlichen und privaten Lebens, um die Menschen für das Kapital und für die anstehenden Eroberungskriege zu mobilisieren und zu formieren. So wird die „Bevölkerung mit einer Rationalität durchtränkt, die alles an den Kriterien von Effizienz, Erfolg und Nützlichkeit misst.“ (FD, 25) Entsprechend werden die letzten vorkapitalistischen Reste im deutschen Faschismus beseitigt und „die relativ unabhängige Stellung all jener Gruppen zunichtegemacht, die der Entwicklung zum Großunternehmen hinterherhinkten. Betroffen sind vor allem kleine und mittlere Unternehmen sowie der Handels- und Finanzbereich. Hier ist der freie Markt überall staatlicher Reglementierung unterworfen worden. Der Nationalsozialismus hat die Arbeiterschaft in den Herrschaftsbereich der Industrie eingegliedert, die Hindernisse, welche die Sozialgesetzgebung einer solchen Eingliederung in den Weg gestellt hatte, beseitigt und stattdessen direkte politische Kontrollmöglichkeiten geschaffen. Die gesetzmäßige Verfasstheit der Organe von Arbeitnehmern und Arbeitgebern wurde ebenso abgeschafft wie das Recht auf die freie Aushandlung von Verträgen und zur politischen Vertretung. Der Nationalsozialismus hat industrielle, ministerielle und halboffizielle (Partei-)Bürokratie miteinander verschmolzen und den Staat an die Erfordernisse des industriellen Apparates angepasst.“ (ebd., 27f.)

Dieser ökonomische Mobilisierungsprozess der Institutionen und Klassen ergreift auch das Individuum, um es für das Kapital gewinnbringender ausbeuten zu können, es findet eine „ebenso umfassende Anpassung der individuellen wie der kollektiven Moral und Psychologie“ statt. Denn: „Noch in ihren irrationalsten Ausprägungen ist die neue Mentalität das Ergebnis einer totalitären >Rationalisierung<, die alles, was der rücksichtslosen wirtschaftlichen und politischen Ausbeutung in Gestalt moralischer Hemmnisse, Vergeudung und Ineffizienz im Wege steht, beseitigt.“ (ebd., 28) Dabei ist hervorzuheben, dass diese neue „Mentalität“ „einer gesellschaftlichen Organisationsform (entspricht), die mit dem Nazisystem nicht identisch ist, auch wenn dieses ihre aggressivste Ausdrucksform darstellt.“ (ebd.) Vielmehr passte diese neue Mentalität „perfekt“ zu „dem neuesten Stand von Technologie, Großindustrie und Konzernorganisation“, so „dass jeder Rückfall hinter diesen Stand dem allgemeinen Trend der internationalen Entwicklung widersprechen müsste.“ (ebd.)
Der deutsche Faschismus entdeckte also das Individuum als psychosozial zu mobilisierender und formender Faktor der ökonomischen Kapitalexpansion: „So seltsam es auch klingen mag, das Individuum ist das Lieblingskind des nationalsozialistischen Regimes. Es bemüht sich ständig, seine Fähigkeiten zu steigern, seiner Leistungsfähigkeit zu verbessern und es mit Energie und Initiative zu füttern. (...). Die gesamte Sozialpolitik der Nationalsozialisten wird von dem Ziel geleitet, >alle schlummernden Fähigkeiten im Mann zu entwickeln, seine Leistungsfähigkeit zu stärken, das Wesen seiner Persönlichkeit zu erweitern<. Das ist mehr als Ideologie. Der Nationalsozialismus hat ein äußerst elaboriertes System physischer, moralischer und geistiger Erziehung errichtet, das darauf abzielt, die individuellen Fähigkeiten mit höchst subtilen wissenschaftlichen Methoden und Techniken zu erhöhen.“ (ebd., 102) Zu diesem Zweck wurden psychologische und technologische Institute eingerichtet, „um die geeignetsten Methoden für die Zerlegung der Arbeit zu untersuchen und um den schädlichen Auswirkungen der Mechanisierung entgegenzuwirken. Die Fabriken, Schulen, Ausbildungslager, Sportstätten, die kulturellen Institutionen und die Freizeitorganisationen sind wahre Laboratorien des Individualismus. Jedem Mitglied der deutschen Rasse wird unabhängig von seiner sozialen Stellung beigebracht, sich wie ein einzigartiges und selbstsicheres Wesen zu fühlen und zu verhalten, selbst das mechanistische Produkt zu seiner eigenen persönlichen Arbeit zu machen, und seine Wohnstätte soll sich durch die Merkmale seines eigenen persönlichen Geschmacks auszeichnen.“ (ebd., 103f.) Die Entdeckung der Psychologie als Methode zur Anpassung der Menschen an die neuen Erfordernisse der Kapitalverwertung geht bei den Betroffenen einher mit dem Schein einer größeren Individualität (EFT, 352). Zahlreiche Aspekte dieser psychosozialen Mobilisierung und Formierung der Menschen für die Sicherung der Expansionsfähigkeit des Kapitals werden in den später folgenden Konterrevolutionen nicht nur fortgesetzt, sondern weiter verfeinert und fortentwickelt.

Über einige Aspekte des „Spätkapitalismus in der Phase der präventiven Gegenrevolution“ (ZM, 24)

„Der totalitäre Staat ist nur eine der Formen – vielleicht eine schon veraltete Form -, in denen sich der Kampf gegen die geschichtliche Möglichkeit der Befreiung abspielt. Die andere, die demokratische Form verwirft den Terror, weil sie stark und reich genug ist, sich ohne ihn zu retten und zu reproduzieren“ (PuPo, 10).

Die spätkapitalistische Konterrevolution wird endlich mittels der scheinbar unendlichen Expansion der Waren und neu geschaffenen Bedürfnissen in die psychologische Tiefenstruktur der Menschen verankert; sie wird den Menschen zur „zweiten Natur“: Diese „zweite Natur des Menschen widersetzt sich jeder Veränderung, welche diese Abhängigkeit der Menschen von einem dichter mit Handelsartikeln gefüllten Markt sprengte oder vielleicht abschaffte – seine Existenz als Konsument aufhöbe, der sich im Kaufen und Verkaufen selbst konsumiert.“ (VüB, 26f.) Darüber hinaus sind die kapitalistisch organisierten Massenmedien zu Organen „zur Werbung für Gewalt und Dummheit, zur Bestrickung der Zuhörer“ geworden und schaffen eine „Harmonie zwischen Herrschern und Beherrschten“. Auf dieser Grundlage kommt es zu einer radikalen Umdeutung gesellschaftlicher Werte und Verhaltensweisen: „Anpassung verkehrt sich in Spontaneität, in Autonomie; und die Wahl zwischen sozialen Notwendigkeiten erscheint als Freiheit. In diesem Sinn ist die fortdauernde Ausbeutung nicht nur hinter dem technologischen Schleier verborgen, sondern tatsächlich >umgewandelt<. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse sind nicht nur für die Knechtschaft und Mühsal verantwortlich, sondern ebenso für das größere Glück und Vergnügen, wie sie der Mehrzahl der Bevölkerung zugänglich sind – und sie liefern mehr Güter als je zuvor.“ (ebd., 27ff.) So existiert für Marcuse in der spätkapitalistischen Phase eine „sozial gesteuerte Lähmung des Bewusstseins“, während die “Entwicklung und Befriedigung der Bedürfnisse“, „die Knechtschaft der Ausgebeuteten verewigen.“ (ebd., 33)

Mit der historischen Entfaltung des Spätkapitalismus werden auch alt hergebrachte Vorstellungen über die Rolle und Bedeutung der Ideologie in der bürgerlichen Gesellschaft antiquiert bzw. „unangemessen“ (SD, 44). Denn die Ideologie nimmt angesichts der erreichten Stufenleiter der Kapitalakkumulation und des Warenreichtums neue Gestaltformen an. Allerdings nicht im Sinne eines >Ende der Ideologie<. Vielmehr ist die kapitalistische bzw. herrschaftsabsichernde Ideologie in der Warengesellschaft allgegenwärtig geworden, in dem sie sich längst in den Waren, Institutionen und in der Psyche der Menschen vergegenständlicht hat (ZM 26). Damit ist gemeint, dass es zu einer „Institutionalisierung, >Verkörperung< der Ideologie im alltäglichen Verhalten, im Funktionieren der Gesellschaft und der Individuen“ gekommen ist. Die Ideologie ist nicht mehr nur eine Sphäre der politisch sich streitenden Ideen und Meinungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen, sondern sie materialisiert sich als herrschaftssichernde Praxis vielmehr in den „Vorstädten, Nuklearanlagen, Supermärkten, Apotheken und psychiatrischen Praxen“ (SD 44f.). Diese materialisierte Ideologie verankert sich über diesen Weg nicht nur in das Bewusstsein der Menschen, sondern auch in ihre „Triebstruktur für die Reproduktion des Bestehenden innerhalb und außerhalb der Arbeitswelt“ (ebd.). So herrscht eine umfassende “materielle und mentale Integration” der Menschen vor, die dafür sorgt, dass ein nonkonformistisches Bewusstsein scheinbar nicht mehr existiert (SiF, 137).

Zudem spielen die kapitalistischen Medien eine entscheidende Rolle in der präventiven Konterrevolution. Schließlich sichern die Medien durch ihre allgegenwärtige Indoktrination die Konterrevolution im Bewusstsein und Verhalten der Menschen ab. Denn sie rufen für Marcuse u.a. eine „Normalisierung des Grauens“ (AI, 19) hervor. Es gibt eine medial erzeugte Gewöhnung der Menschen an den Krieg und seine Folgen, der Umweltverschmutzung und sozialen Verelendung: „Die Verrohung der Sprache und des Bildes, die Darstellung vom Töten, Verbrennen und Vergiften der Opfer einer neo-kolonialen Schlächterei erfolgt in einem alltäglichen, tatsachengebundenen, manchmal sogar humoristischen Stil, der das radikal Böse mit den Untaten jugendlicher Krimineller, mit Fußballspielen, Unfällen, Börsen- und Wetterberichten gleichsetzt“ (ebd.). Diese Ausrichtung der Medien wird durch eine „reglementierte Sprache“ ergänzt, die sich „einer unerbittlichen Diskriminierung“ bedient: Ein „besonderes Vokabular des Hasses, des Ressentiments und der Diffamierung gilt dem Feind und denjenigen, die gegen eine aggressive Politik opponieren. Das Muster bleibt sich stets gleich“ (ebd., 20). Die „Mobilisierung von Aggressivität“ erklärt sich daraus, dass es um die „Stabilisierung und Festigung eines Systems“ geht, „das durch seine eigene Irrationalität bedroht ist – durch die prekäre Grundlage, auf der sein Wohlstand ruht, durch die Enthumanisierung, die sein verschwenderischer und parasitärer Überfluss erzwingt.“ (ebd., 21) Es kommt notwendigerweise zu einer Abwertung der Wahrheit, da diese „dem Schutz und der Verbesserung des Lebens dient“ (ebd., 27).
Die Massenmedien konstituieren ferner einen besonderen Stil im Umgang mit Werbung, Meinungen und Informationen, der aus beständiger Wiederholung besteht: „dieselbe Reklame, die unaufhörlich mit demselben Text oder Bild gesendet oder ausgestrahlt wird; dieselben Phrasen und Gemeinplätze, die von Informanten und Meinungsbildnern unaufhörlich verbreitet werden; dieselben Parteistandpunkte und -programme, die von den Politikern unaufhörlich verkündet werden.“ Dies zusammen „zerstört geistige Autonomie, Intelligenz und Verantwortungsbewusstsein, verleitet zu Trägheit, Fügsamkeit, Wohlbefinden in der Reduktion von Spannungen, gibt Schutz gegen traumatische Neuerungen.“ (ebd., 28f.) Die spätkapitalistische Konterrevolution verringert damit die „Last des Verstandes und die Mühsal und Anspannung, die autonomes Denken begleiten – so gesehen wird die Politik der Wiederholung wirksame Aggression gegen den Geist in seinen kritischen, die Gesellschaft aufstörenden Funktionen.“ (ebd., 29) Es ist dann auch nicht mehr verwunderlich, wenn das Bildungswesen „funktional“ zugerichtet wird, das heißt, „an den Jobs ausgerichtet (wird), die zur Verfügung stehen und die erledigt werden müssen – Dienst am Establishment, der seinen Lohn findet.“ (SD, 151)

Die „präventiv-gegenrevolutionäre Stabilisierung des Spätkapitalismus“ besteht für Marcuse insbesondere aus den nachstehenden Punkten (ZM, 23f.):

Es existiert eine kapitalistisch organisierte Befriedigung und Steuerung der Bedürfnisse, um die Kapitalexpansion weiterzutreiben und zu sichern.
Es findet eine Gleichschaltung der intellektuellen und materiellen Kultur durch die Institutionalisierung und Proliferation von „System-Wissenschaften“ und therapeutisch arbeitenden Geisteswissenschaften statt, die das >eindimensionale Denken< konstituieren, nähren und legitimieren. Hierunter fällt insbesondere die Verbreitung von Philosophien, „die sich die kritische Transzendierung der Begrifflichkeit verbieten“.
Es kommt zu einer „Pseudo-Demokratisierung in der Konsumsphäre bei gleichzeitiger Stärkung und Ausdehnung der Exekutivgewalt“.
Es findet eine internationale „Mobilisierung des Großkapitals für die Sicherung der Ausbeutung und die Eindämmung oder Unterdrückung der Revolte“ statt.

Neoliberalismus als neue spätkapitalistische Konterrevolution

Herbert Marcuse hat noch einige Aspekte der in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts beginnenden neoliberalen bzw. neokonservativen Konterrevolution bestimmt, die ich hier noch abschließend in Erinnerung rufen möchte.
In den siebziger Jahren sieht Marcuse eine Phase, in der die Reproduktion des Kapitals und damit seine Expansion einschneidend schwieriger wurde, worauf das Kapital im Zeitalter des „monopolistischen Staatskapitalismus“ mit einem generellen Angriff auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen reagierte. Er brachte diesen Sachverhalt so auf den Punkt: „1. Die zunehmend schwieriger werdende Kapitalakkumulation und das Einbrechen der Märkte sind jetzt nicht das Resultat eines verlorenen Krieges oder anderer anormaler Bedingungen, sondern ergeben sich aus dem ungeheuren Anwachsen der Arbeitsproduktivität sowie konstanter Überproduktion selbst bei geringer Produktionskapazität. 2. Die Opposition gegen die repressive Wirtschaftspolitik äußert sich als Widerstand der Gewerkschaften gegen die Absenkung des Lohnniveaus und als Widerstand der Arbeiter gegen intensivierte Ausbeutung.“ (SD, 174f.)

Mit dem Neoliberalismus bzw. Neokonservativismus beginnt in den 70er Jahren eine neue Strategie der präventiven Konterrevolution, deren „Zentrum“ „in den Vereinigten Staaten“ liegt (SiF, 114), um für das Kapital wieder bessere Akkumulationsbedingungen herzustellen. Dazu gehörte die Förderung und Unterstützung der Mobilität des Kapitals auf dem Weltmarkt. Über diesen Weg wurde auch die Kampfkraft der Arbeiterklasse in den USA und in den Metropolen, nämlich durch „Abwanderung von Betrieben, Einschränkung der Produktion in Regionen mit hohen Löhnen“, geschwächt. Die „drohende Verarmung trifft nicht nur (und vielleicht nicht einmal primär) den Teil der Arbeiterklasse, der durch seine Organisationen (Gewerkschaften und Parteien) noch widerstandsfähig ist, sondern auch weite Schichten der Mittelklassen ohne politische und ökonomische Organisation.“ (ZM, 30f.) Die Opposition ist in den kapitalistischen Metropolenstaaten in einer sehr schlechten Verfassung. Sie ist nicht mehr in der Lage, eine entsprechende Gegenmacht gegen die aufkommende neoliberale Konterrevolution zu entwickeln: „Die Basis der Bevölkerung wird durch eine Triebstruktur verfestigt, mittels derer sich das kapitalistische System in den Individuen reproduziert. Zur Basis gehört die große Mehrheit der Arbeiterklasse. Natürlich ist die >Verbürgerlichung< der Arbeiterklasse keine grundlegend neue Entwicklung. Neu ist die fast völlige Abwesenheit von Bedingungen, durch die der Prozeß in sein Gegenteil verkehrt werden könnte. Es gibt keine Arbeiterpartei und keine Arbeiterpresse, und der Sozialismus auch nur als Zielvorstellung wird abgelehnt. Was den politischen Charakter der bürgerlichen Demokratie angeht, so sieht diese sich keiner feudalen oder postfeudalen Macht mehr gegenüber; sie hat die Armee, den öffentlichen Dienst, die Erziehungs- und Bildungsinstitutionen völlig erobert. Daraus resultiert die untergeordnete Bedeutung, die das Parlament mittlerweile besitzt. Die Monopolisierung der Wirtschaft findet ihren Ausdruck in der Machtfülle, die der Exekutive zugefallen ist. Die Bourgeoisie herrscht uneingeschränkt, und obwohl die Arbeiterklasse in der Bevölkerung, die diese Herrschaft stützt, noch eine eigene Klassenposition innehat, bleibt sie als Klasse innerhalb dieser Gesellschaft, geht nicht als ihre >bestimmte Negation< über sie hinaus. Und der Klassenkampf stört nicht die Kreise der brutalen imperialistischen Politik.“ (SD, 160)

Marcuse sieht eine Ursache für die beschriebene politische Stabilität und das Schwinden der oppositionellen Kräfte im Zeitalter der neoliberalen Konterrevolution ferner in einer besonderen, tief verankerten gesellschaftlichen Seelenstruktur der Menschen, die einen, wie es Erich Fromm bezeichnete, „sadomasochistischen Charakter“ und „Konformismus“ angenommen hat (ebd., 153ff., 159). Diese gesellschaftliche Lust an der eigenen wie selbstschädigenden Unterwerfung, Bestrafung, Selbstverstümmelung und am Todestrieb, die nichts anderes als eine „>Flucht vor der Freiheit<, vor der Politik“ ist (ebd., 155), zeigt sich z. B. an diesem noch relativ harmlosen Phänomen: Die Menschen bilden „eine durch und durch konservative Mehrheit, die sich im und durch den Wahlvorgang fortschreibt, die herrschende Klasse und ihre Regierung immer aufs neue bestätigt und die Opposition enttäuscht und frustriert zurücklässt.“ (ebd., 152f.) Obwohl es den Menschen in den kapitalistischen Metropolen möglich ist, sich Informationen zu besorgen, „die nicht regierungskonform, nicht manipuliert, nicht zensiert sind“, scheint es so, „als wollten sie es nicht, als hätten sie nicht wirklich den Wunsch, das Bedürfnis, irgendetwas zu lesen, zu sehen oder zu hören, das der allgemein akzeptierten Wahrheit oder Falschheit widerspricht“ (ebd.). Aus diesem Grund weist Marcuse darauf hin, dass es falsch zu sagen ist, „dass die Bevölkerung keine Schuld hätte, dass sie keine Macht besäße, die Dinge zu ändern, auch wenn sie das wollte. Die Bevölkerung kann etwas tun!“ Aber stattdessen „identifizieren“ sich die Leute mit den Regierenden und „der institutionalisierten Brutalität und Aggression“ (ebd., 153). Für Marcuse bestätigt sich hier die These, dass die „äußere Unterdrückung durch eine Unterdrückung aus dem Inneren unterstützt“ wird: „Das unfreie Individuum introjiziert seine Herren und deren Befehle in seinen eigenen psychischen Apparat. Der Kampf gegen die Freiheit wiederholt sich in der Seele des Menschen als Selbstunterdrückung des unterdrückten Individuums, und die Selbstunterdrückung wiederum stützt die Herrschenden und ihre Institutionen.“ (TuG, 22)(2)

Aufgrund der fundamentalen Schwäche der Opposition gegenüber dem Neoliberalismus und der ökonomisch schwieriger gewordenen Lage der Lohnabhängigen (Arbeitslosigkeit) hat die neue Gestalt der Konterrevolution keinen mächtigen politischen Gegner zu erwarten. Die Agenten des Kapitals müssen deshalb keine Rücksicht mehr nehmen, was diese wissen und rigoros ausnutzen, weshalb sie die ihnen früher von der Arbeiterklasse aufgezwungenen sozialen und politischen Konzessionen in aller Offenheit wegräumen: „Es hat den Anschein, als würde der Kapitalismus sich jetzt sicher genug fühlen, um alles von sich zu werfen, was seiner produktiven Destruktivität Schranken auferlegt – juristische, moralische, politische Schranken (oder als könne er sich diese Schranken nicht mehr leisten). Das System reißt sich selbst den Schleier vom Gesicht und stellt sich als das dar, was es ist. Durch sein eigenes Verhalten demonstriert es täglich die Wahrheit der Marxschen Theorie. Verglichen mit der Realität ist Engels` dritter Abschnitt des Anti-Dühring so zahm und zurückhaltend wie Lenins Imperialismusanalyse. Die Vereinigung von Großkapital und Staat tritt ganz unvermittelt und offen zutage. Die Vorstellung, es könne zwischen privaten Interessen und der Regierung einen Konflikt geben, wird nicht mehr ernst genommen, oder, falls nötig, durch einen Regierungserlass beseitigt. Da es keine Unterschiede zwischen Geschäftswelt, Mafia und Politik mehr gibt, ist Korruption zu einem Begriff ohne Bedeutung geworden. Je weiter oben sie angesiedelt ist, desto mehr wird sie allein durch die Tatsache, dass sie so weit oben ist, geschützt und >legitimiert<.“ (ebd., 161) Dies führt auch dazu, dass die neoliberale Konterrevolution auf „einem nie da gewesenen Niveau die organisierte Aufstandsbekämpfung (Counterinsurgency) im In- und Ausland“ betreibt (SiF, 115). Weitere Folgen der neokonservativen Konterrevolution benannte Marcuse, die den umfassenden gesellschaftlichen Charakter dieses neuen Herrschaftsprojektes des Kapitals weiter verdeutlichen (SiF, 122; VüB, 105, 110, 115):

Die Gerichte werden „mehr und mehr als politische Tribunale benutzt“.
Es findet ein gewaltiger Bildungs- und Sozialabbau in den reichsten Ländern der Welt statt.
Die bürgerlichen Grundrechte werden in zunehmenden Maßen eingeschränkt oder sogar beseitigt.
Dies geht einher mit der Etablierung von wirtschaftlichen „Sanktionen, wenn man politisch oder anderweitig suspekt ist“.
Es findet eine wachsende „Einschüchterung und Selbstzensur der Massenmedien“ statt.
Die Lobbyistengruppen des Kapitals und ihre Netzwerke übernehmen immer mehr die Regierungsgewalt.
Der herrschenden Minderheit gelingt es in einem stets größer werdenden Maße, einseitige Definitionen von Wörtern und die Deutungshoheit von Geschehnissen durchzusetzen: „Politische Linguistik ist ein Schutzpanzer des Establishments“, denn „das etablierte Vokabular diskriminiert die Opposition von vornherein – es schützt das Establishment“.

Der Neoliberalismus bzw. Neokonservativismus hat darüber hinaus ein weiteres Kampffeld eröffnet, nämlich der Kampf gegen den geglaubten Verfall des Leistungsprinzips und der Unterwerfungskompetenz. Für die neoliberale Konterrevolution muss daher mit allen Mitteln gegen die wachsende Auflösung kapitalistischer Leistungsideale als Folge der „sogenannten Konsumgesellschaft“ angekämpft werden, dies heißt gegen „Untüchtigkeit, Arbeitswiderstand, Verweigerung der Pflichterfüllung, Fahrlässigkeit und Gleichgültigkeit – alles dysfunktionale Faktoren“. Entsprechend wird mehr >Eigenverantwortung<, Eigeninitiative usw. eingefordert und ein Loblied auf Fleiß, Tüchtigkeit und Anspruchslosigkeit gesungen. Aber in Wahrheit ist die Infragestellung des Leistungsprinzips nicht Folge der >Konsumgesellschaft<, sondern es sind die Widersprüche und inneren Schranken des entwickelten Kapitalismus selbst, die das Leistungsprinzip bei den Menschen fragwürdig erscheinen lassen. Denn die Widersprüche des Spätkapitalismus manifestieren sich für Marcuse „in der zunehmenden Auflösung der moralischen Festigkeit und Kohäsion der Gesellschaft, im Nachlassen von Arbeitsdisziplin, Verantwortungsgefühl und Effizienz, in der völligen Abkehr von jenem Geist der innerweltlichen Askese, der bis vor Kurzem die Haupttriebfeder des Kapitalismus war. Die Widersprüche zeigen sich in der Form von Aussteigern, Rückzügen und Abspaltungen nicht nur in den rebellierenden Mittelschichten, sondern auch in der herrschenden Klasse. Kurz, in dieser sogenannten Konsumgesellschaft erleben wir eine weithin unpolitische, diffuse, ungeregelte und dennoch tief gehende Nicht-Identifikation mit dem System. (...) – diese Rebellion gegen die vom kapitalistischen System geforderten Verhaltensmuster und Werte wird vom System nicht nur hervorgebracht, sondern auch ständig vorangetrieben und weiter verschärft. (...) Neben der Welt von entfremdeter Arbeit, Elend und Unterdrückung bringt der Kapitalismus im gegenwärtigen Stadium eine Welt von Komfort und technischen Spielereien, von Spaß und Überfluß hervor, an den die Menschen in zunehmender Zahl, wenn auch größtenteils prekär teilhaben. Der Reichtum kapitalistischer Gesellschaften ist immer noch, wie Marx es definiert hat, eine ungeheure Warensammlung, aber diese Waren erfordern zu ihrer Produktion immer weniger Arbeitskraft. Das heißt, sie stellen eine immer kleinere Quelle des Mehrwerts dar. (...) Mit anderen Worten, die Konsumgesellschaft zeigt in ganz handgreiflicher Form die inneren Grenzen der kapitalistischen Produktion auf.“ (SiF, 120f.; vgl. VüB, 124)

Die in den siebziger Jahren beginnende neo-konservative/-liberale Konterrevolution hatte für Marcuse also zwei entscheidende Merkmale. Einerseits wurde sowohl die (gewerkschaftliche) Gegenmacht der Lohnabhängigen als auch das Aufkommen (teil-)oppositioneller, sozial-kultureller oder sogar systemkritischer Bewegungen gegenüber dem Kapital durch wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen massiv geschwächt und zurückgedrängt. Flankiert wurde dies über einen pseudo-moralischen Diskurs über den Verfall des Leistungsprinzips, der Marktdisziplin und anderer bürgerlicher Tugenden wie Sauberkeit, Disziplin, Ordnung, Pünktlichkeit etc. sowie einer Kritik an dem angeblichen Aufkommen einer unbegrenzten wie überzogenen Anspruchsmentalität der Menschen gegenüber dem Staat und den Unternehmen. Demgegenüber wurden unternehmerische Tugenden und allgegenwärtige Konkurrenz als heilsames Stahlbad gegen ökonomische wie individuelle Ineffizienz in allen gesellschaftlichen Bereichen eingefordert, die dann, um eine entsprechende Entsolidarisierung durchzusetzen, mit einem radikalen Abbau von sozialstaatlichen >Wohltaten< und Bürgerrechten den Menschen aufgenötigt wurden. Andererseits wurde mit diesem gesellschaftspolitischen Rollback und der unmittelbaren politischen Unterstützung des Kapitals zwecks Erhöhung seiner nationalen/internationalen Mobilität, Konkurrenzfähigkeit etc. und dem Erschaffen neuer Verwertungszonen versucht, die in den siebziger Jahren offensichtlich gewordene ökonomische Wachstumskrise (also dem Fall der Profitrate) zu begegnen. Jedoch ist diese besondere Konterrevolution stärker – angesichts des errichten Niveaus der Produktivkräfte, dem >Gespenst der Automation< - als je zuvor mit dem Problem des tendenziellen Falls der Profitrate konfrontiert, weshalb die vermeintliche Übermacht auf Sand gebaut ist. Denn mit jeder von der neo-konservativen/-liberalen Macht- und Kapital-Clique angewendeten Methode zur Steigerung der Profitabilität des Kapitals wird der langfristige Fall der Profitrate umso heftiger beschleunigt und untergräbt durch die damit ausgelösten Wirtschaftskrisen und sozio-ökonomischen Verwerfungen die Legitimität und Wirksamkeit der neoliberalen Konterrevolution.

Resümee: Befreiender Hass und präventive Konterrevolution

„Wenn man Liebe und Gewaltlosigkeit predigt, spielt man denen, die Hass und Gewalt praktizieren, in die Hände. Je nachdem, wie sich die Aggressivität äußert, können ihr unterschiedliche Triebe und >politische< Haltungen zugrunde liegen: Der Hass auf das Böse, auf Unterdrückung und Zerstörung, stärkt den Lebenstrieb und schwächt den Todestrieb, die sadomasochistische Struktur. Es ist etwas Wahres an der Auffassung, dass fast immer die falschen Menschen, das heißt die Freiheitskämpfer, vor der Zeit sterben (…). Adorno schreibt: >Es kann gut sein, dass unsere Gesellschaft sich zu einem Extrem entwickelt hat, in dem die Wirklichkeit der Liebe de facto nur noch durch den Hass auf das Bestehende ausgedrückt werden kann, während jeder direkte Liebesbeweis nur dazu dient, genau jene Bedingungen zu bestätigen, die den Hass ausbrüten.< Dieser befreiende Hass ist das Zeichen des befreiten Bewusstseins, seine Einwirkung auf die Triebstruktur. (…) Die Welt kann nicht durch Liebe verändert werden (…), aber sie kann durch Liebe verändert werden, die sich in Hass verwandelt hat und die wieder zu Liebe wird, wenn der Kampf gewonnen ist.“ (SD, 156f.)

Herbert Marcuse zeigt mit seinem leider nie explizit ausgearbeiteten und deshalb nur bruchstückhaft vorgetragenen Konzept der präventiven Konterrevolution auf, dass die historisch immer prekärer werdende Expansion wie Akkumulation des Kapitals ab einem bestimmten historischen Zeitpunkt eine neue und auf Dauer gestellte Herrschaftsstrategie erforderte, die nicht nur das Kapital, sondern sowohl alle Institutionen als auch die Individuen für die ökonomische Wachstumssicherung formieren und mobilisieren muss. Eine passive bzw. äußerliche Subsumtion der Menschen und Institutionen unter die Verwertungsinteressen des Kapitals ist seitdem nicht mehr ausreichend, um das ewig gleichbleibende Hamsterrad der Kapitalexpansion weiter am Leben zu erhalten. Das Konzept der präventiven Konterrevolution wendet sich damit gegen die Vorstellung, dass das Kapital ein automatischer Selbstläufer ist, der sich unendlich weiterreproduziert und nicht mehr infrage gestellt wird, sofern sich die Gesellschaft einmal unter der Herrschaft des Kapitals vollständig subsumiert hat, indem alle vorbürgerlichen wie vorkapitalistischen Produktions- und Lebensbedingungen zerstört wurden. So bedarf das Kapital und die bürgerliche Gesellschaft für Marcuse zur Selbstentfaltung und Selbsterhaltung ihrer selbst willen eine auf Dauer gestellte soziale, kulturelle, wissenschaftliche, politische, psychologische Mobilisierung und Anpassungs-, Reorganisationstechnik der Individuen und der gesellschaftlichen Institutionen, die zusammen die Gestalt historisch besonderer Konterrevolutionen annehmen, die sich stets aus einer Mixtur aus zufälligem, blindem und geplantem Handeln ergeben.

Das Konzept der Konterrevolution ist für Marcuse allerdings keine fertige Schablone, die sich ahistorisch über die bürgerliche Gesellschaft stülpen lässt, sondern ist ein Erklärungsansatz, der den jeweiligen historisch zu konkretisierenden Stand der Kapitalakkumulation (Kapitalformen, Produktionszweige, Produktivkräfte, geschaffenen Bedürfnissen usw.), der politikökonomischen Institutionen, politische Kräfteverhältnisse (Parteien, Gewerkschaften, Bewegungen, Staatsform etc.) sowie die sozial-kulturelle und psychologische Formierung und Indoktrinierung der Individuen (Medien, Ideologie, Wissenschaft, Erziehungs- und Bildungssystem usw.), einschließlich ihrer aufgenötigten Bedürfnisstruktur, berücksichtigt. Die jeweils historisch zu konkretisierende präventive Konterrevolution dient allerdings nur dem Zweck, die sukzessiv schwieriger werdende Expansionsfähigkeit des Kapitals - wegen des sich durchsetzenden tendenziellen Falls der Profitrate und den aus der kapitalistischen Entwicklung entspringenden Widersprüchen - zu sichern und zu fördern, um so auch jede wirksame und systemtranszendierende Opposition zu verhindern bzw. einzudämmen.

Die Kategorien des Kapitals sind für Marcuse stets historisch sich entwickelnde und zu erklärende Formen, weshalb eine ahistorische wie strukturalistische Untersuchung nicht mit seinem Ansatz der präventiven Konterrevolution vereinbar ist. Es gibt daher kein vorgefertigtes und alles umfassendes Modell der Konterrevolution, dies würde dem widersprüchlichen und politischen Entwicklungscharakter des Kapitals als unmittelbarer Einheit von Politik und Ökonomie gänzlich widersprechen. Die historisch konkreten Konterrevolutionen unterscheiden sich deshalb immer auf der >Ebene< des Standes der Verwertungs- und Krisenlage des Kapitals einerseits, der ideologischen, politischen, psychologischen, kulturellen Praxis sowohl der Gesellschaft als auch der Individuen (und ihren Bedürfnissen) andererseits.
Der gemeinsame Nenner der verschiedenen Arten der Konterrevolutionen liegt für Marcuse in der säkularen historischen Entwicklung des Kapitals selbst, die sich darin äußert, dass es für die kapitalistische Gesellschaftsform im historischen Verlauf und mit dem Anwachsen des kapitalistischen Reichtums und der Entfaltung der Produktivkräfte stetig schwieriger wird, sich erfolgreich zu reproduzieren. Dies ist das Resultat der inneren Schranke des Kapitals, da es die lebendige und wertsetzende Arbeit durch eine stetig wachsende Maschinerie (Automatisierung der Produktion) ersetzen muss, die sich im tendenziellen Fall der Profitrate ausdrückt. Diese säkulare Entwicklungstendenz des Kapitals kann im Einzelnen nicht prognostiziert werden, da die Kapitalakkumulation selbst ein unmittelbar durch politische Kämpfe konstituiertes Formverhältnis darstellt, die sich um die Arbeits- und Lebensbedingungen bzw. um die Sicherung der Kapitalakkumulation drehen. Jedoch lässt sich prognostizieren, dass sich mit jedem Akkumulationserfolg des Kapitals der langfristige Fall der Profitrate umso stärker beschleunigt und damit die ökonomische Wachstumskrise des Kapitals weiter verschärft wird. Für Marcuse ist dieser kapitalistische Entwicklungsprozess in der ökonomischen Form des Kapitals selbst angelegt und diesem kann es nicht entkommen. Das Kapital als besondere historisch ökonomische Form muss daher in dem Moment, wo es sich restlos verwirklicht, entwickelt und vervollkommnet hat, in sich zusammenbrechen. Bis dahin werden regionale und internationale ökonomische Krisen, Verwerfungen, Instabilitäten, Unbeständigkeiten und politische Konflikte, soziale und ökologische Katastrophen sowie kriegerische Auseinandersetzungen bzw. deren Androhungen, aber auch der Kampf um Absatzmärkte, Ressourcen, Transportwege und billigere Arbeitskräfte kontinuierlich zunehmen. Die kapitalistische Weltordnung wird daher in ihrem weiteren historischen Verlauf zwangsläufig und im wachsenden Maße noch größere barbarische Züge als bisher annehmen. Und dies wird die Grundlage für die zunehmend rücksichtsloseren Versuche der präventiven Konterrevolution sein, neue Wachstumsstrategien für das Kapital aus dem Boden zu stampfen. Wer angesichts der noch bestehenden Übermacht der kapitalistischen Ordnung und der offensichtlichen Ohnmacht der Opposition noch nicht völlig apathisch und gleichgültig gegenüber dem Zustand der Welt geworden ist, wird, wie es Marcuse sah, einen ganz gewaltigen, aber einen befreienden und lebensbejahenden Hass entfalten. Diese Aggressivität „darf nicht unterdrückt, sondern muss gegen den wirklichen Feind gerichtet werden, gegen die konkreten und sichtbaren Verkörperungen des kapitalistischen Systems, gegen seine Lakaien wie auch seine Herren in der Regierung, der Industrie, der Armee, den Universitäten, den Kirchen usw. Aber solche Aktionen dürfen nicht die analen Charakterzüge und nicht die Grausamkeit und den Zynismus aufweisen, die das Vorrecht des Establishments sind.“ (SD, 159f.)

Literatur

Abkürzungen für die verwendete Literatur von Herbert Marcuse:

AI: Aggressivität in der gegenwärtigen Industriegesellschaft, in: Marcuse H./ Rapoport, A. (Hg): Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft; 1972, Frankfurt a. M.
EFT: Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie; in: Horkheimer, M./ Pollock, F. u.a. (Hg): Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, 1981, Frankfurt a. M.
EM: Der eindimensionale Mensch; 1985, Darmstadt/Neuwied
FD: Feindanalysen. Über die Deutschen; 1998, Lüneburg
KuR: Konterrevolution und Revolte; 1973, Frankfurt a. M.
PP: Philosophie und Psychoanalyse (nachgelassene Schriften); 2002, Lüneburg
PuPo: Psychoanalyse und Politik; 1980, Frankfurt a. M.
ReTo: Repressive Toleranz; in: Wolff, R. P./Barrington, M./Marcuse, H. (Hg): Kritik der reinen Toleranz, 1967, Frankfurt a. M.
TuG: Triebstruktur und Gesellschaft; 1984, Frankfurt a. M.
SD: Das Schicksal der bürgerlichen Gesellschaft (nachgelassene Schriften); 1999, Lüneburg
SiF: Die Studentenbewegung und ihre Folgen (nachgelassene Schriften); 2004, Lüneburg
ÜB: Über Bahro, den Protosozialismus und den Spätkapitalismus; 1978, in: Kritik. Zeitschrift für sozialistische Diskussion, Nr. 19
VR: Vernunft und Revolution; 1985, Darmstadt/Neuwied
VüB: Versuch über die Befreiung; 1980, Frankfurt a. M.
ZM: Zeit-Messungen; 1975, Frankfurt a. M.

Weitere Literatur:

Girschner, Christian 2006: Ökonomismus und Funktionalismus. Eine Kritik an der Regulationstheorie von J. Hirsch; in: trend onlinezeitung, Dezember
Hirsch, Joachim 1986: Das neue Gesicht des Kapitalismus; Hamburg
Ders. 1995: Der nationale Wettbewerbsstaat; Berlin
Ders. 2005: Materialistische Staatstheorie; Hamburg
Ders. 2009: Weltwirtschaftskrise 2.0 oder der Zusammenbruch des neoliberalen Finanzkapitalismus; in: Zeitschrift für kritische Theorie 28-29
Roth, Rainer 1985: Rebellische Subjektivität. Herbert Marcuse und die neuen Protestbewegungen; Frankfurt M./New York

1)  Angesichts der Weltwirtschaftskrise räumt Hirsch derzeit ein, dass der „Postfordismus der Vergangenheit“ angehört, denn es wäre „nun deutlicher geworden“, dass der „Begriff >Postfordismus< (…) eher eine Hilfsbezeichnung (war)“ (Hirsch 2009, 182f.). Nachdem Hirsch seit rund 25 Jahren in etlichen Aufsätzen und Büchern über die >Krise des Fordismus< bzw. die Herausbildung eines neuen postfordistischen Akkumulationsmodells geschrieben hat, fällt ihm plötzlich auf, dass es „nicht ganz leicht zu erkennen (ist), mit welchem Kapitalismus man es gerade zu tun hat“ (ebd.). Entsprechend willkürlich oder flexibel hat der Autor seine Kapitalismusperiodisierung in seinen zahlreichen Veröffentlichungen vorgetragen. So heißt es 1986: „Mit der ökonomischen Rezession Mitte der siebziger Jahre ist die Krise der fordistischen Formation unübersehbar geworden.“ (Hirsch 1986, 78; ebenso noch: Ders. 1995, 83) Dagegen wird 2005 von Hirsch verkündet, dass die Krise des Fordismus vorüber sei und durch die „Existenz einer spezifischen postfordistischen Formation des Kapitalismus“ abgelöst wurde, wann dies geschehen sei, darüber schwieg damals der Verfasser. Heute geht Hirsch unerwartet davon aus, dass der Fordismus „bis Mitte der siebziger Jahre“ währte, um dann nach seiner Krise durch den Postfordismus ersetzt zu werden, der „etwas über dreißig Jahre“ andauerte (Hirsch 2009, 182). Demzufolge existiert seit Ende der siebziger Jahre der Postfordismus als ein neues Akkumulationsregime, obwohl der Autor noch in den achtziger und neunziger Jahren beständig über die anhaltende Krise des Fordismus bzw. über die irgendwie sich abzeichnende Herausbildung eines Postfordismus fabulierte, der sich angesichts der anhaltenden säkularen Wachstumsschwäche des Kapitals nicht richtig herausbilden wollte. Schon dieser Überblick verdeutlicht die relativ beliebige Periodisierung des Kapitalismus durch die Regulationstheorie. Besitzt diese nach Gutdünken vorgenommene Periodisierung mehr als nur einen banalen Erkenntniswert? Ist diese Periodisierungsunterteilung wirklich mehr als nur ein akademisches Glasperlenspiel? Und was für ein Akkumulationsmodell folgt wohl nach dem Ende des Postfordismus? Vielleicht ein Neo-Post-Fordismus? Lassen wir uns überraschen. Denn nach der Regulationstheorie geht es ja mit dem Kapitalismus immer munter weiter. Aber Hirsch räumt im Augenblick ein: „Der Kapitalismus steht tatsächlich vor einem GAU. Dessen Folgen könnten, was die politischen Verhältnisse angeht, mehr als desaströs sein.“ (ebd., 186) Entsprechend spricht Hirsch nicht mehr von einer Durchsetzung eines neuen Akkumulationsmodells, sondern davon, „dass der staatsmonopolistische Kapitalismus, die enge Verbindung von Staat und Kapital, zwecks Sicherung des Profits weiter ausgebaut wird und festere institutionelle Strukturen bekommt.“ (ebd.) Wird damit die Regulationstheorie von Hirsch nun verworfen?

2) „Das Individuum“, schreibt Marcuse an anderer Stelle, „reproduziert in seinem Tiefsten, in seiner Triebstruktur, die Wertungen und Verhaltensweisen, die der Aufrechterhaltung der Herrschaft dienen, während die Herrschaft immer weniger autonom, immer weniger >persönlich<, immer objektiver und allgemeiner wird. Was eigentlich herrscht, ist der zur unteilbaren Einheit gewordene ökonomische, politische und kulturelle Apparat, den die gesellschaftliche Arbeit aufgebaut hat.“ (PuPo, 9; vgl. TuG, 48ff.)
 

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.