„Die Konterrevolution ist
weitgehend präventiv; in der westlichen Welt ist sie das
ausschließlich. Hier gibt es keine neuere Revolution, die
rückgängig gemacht werden müsste, und es steht auch keine
bevor. Und doch schafft die Angst vor einer Revolution
gemeinsame Interessen und verbindet verschiedene Stadien und
Formen der Konterrevolution von der parlamentarischen
Demokratie über den Polizeistaat bis hin zur offenen Diktatur.
Der Kapitalismus reorganisiert sich, um der Gefahr einer
Revolution zu begegnen“ (KuR,8).
Die derzeitige
Weltwirtschaftskrise besitzt für die meisten kritischen Köpfe
unserer Tage ihre Ursache in der neoliberalen Ideologie und
Praxis. Es stehen nicht nur tief greifende ökonomische,
sondern gesellschaftliche Veränderungen als Folge der
Weltwirtschaftskrise auf der Tagesordnung. Wie soll man die
kommenden Ereignisse einordnen und erklären? Und reicht der
Hinweis auf den unsäglichen Neoliberalismus als Ursache für
die ökonomische Weltkrise, obwohl ein jeder weiß, es gibt
keinen krisenfreien Kapitalismus und schon der
>funktionierende< Geschäftsgang produziert nicht nur
>Wohlstand<, sondern täglich Fremdbestimmung, Indoktrination,
Armut, Hunger, Verelendung, Krieg und Katastrophen auf der
Welt? Will man in der kritischen Gesellschaftswissenschaft das
seit dreißig Jahren verwendete Interpretationsmuster, wonach
der Kapitalismus sich im Übergang vom Fordismus zum
Postfordismus befindet, abermals bemühen, um die derzeitige
Weltwirtschaftskrise und ihre Folgen in diese starre Schablone
zu pressen? Aber möglicherweise befinden wir uns längst an
einem besonderen historischen Wendepunkt in der
kapitalistischen Entwicklung, der ähnlich einschneidende
gesellschaftliche und politikökonomische Veränderungen
hervorbringen wird, wie dies im Fall der Weltwirtschaftskrise
von 1929 gewesen war?
Ein Rückgriff auf einige Einsichten über die
kapitalistische Entwicklung von Herbert Marcuse könnte helfen,
der sich nie scheute, in seiner Beurteilung der
gesellschaftlichen Entwicklung die Negation des
Kapitalverhältnisses theoretisch und praktisch einzufordern,
eine andere Betrachtung auf die aktuelle Krise zu eröffnen.
Marcuse hat einen bislang nicht wahrgenommenen
Erklärungsansatz über die kapitalistische Entwicklungsdynamik
entwickelt, der sich implizit durch sein gesamtes Werk zieht.
Dieser Ansatz geht davon aus, dass die spätkapitalistische
Geschichte vor allem eine Geschichte von aufeinanderfolgenden
präventiven Konterrevolutionen ist. Dies möchte ich hier
anhand zahlreicher, aber nicht systematisch ausgearbeiteter
Hinweise und Bemerkungen von Marcuse im Folgenden
rekonstruieren bzw. reinterpretieren.
Bei Herbert Marcuse stellt die präventive
Konterrevolution eine politik-ökonomische Reaktion der
bürgerlichen Gesellschaft auf die wachsenden Reproduktions-
und Expansionsprobleme des Kapitalismus dar. Ab einem
bestimmten historisch erreichten Niveau der
Kapitalakkumulation und Produktivität treten diese Probleme
der Ökonomie für Marcuse in einer neuartigen und
unausweichlichen Schärfe auf, die die Weiterexistenz des
Kapitalismus ernsthaft infrage stellen. Mit dem Erreichen
dieses historischen Zeitpunktes bedarf es vonseiten der
herrschenden Machtelite, des Kapitals und Staates einer
neuartigen Herrschaftsstrategie, um die Expansion und damit
die Erhaltung des Kapitalismus sowie die dazugehörige
Unterwerfung der Menschen weiterhin zu gewährleisten. Der in
dieser Hinsicht entscheidende Wendepunkt in der Geschichte des
Kapitalismus stellt in den Augen von Marcuse die große
Weltwirtschaftskrise von 1929 dar, die eine wesentliche
Voraussetzung für die Entstehung des Faschismus als erste
historische Form der präventiven Konterrevolution in
Deutschland werden sollte. Aber die präventive
Konterrevolution blieb auch nach der Niederlage des Faschismus
dadurch erhalten, dass sie neue Gestaltformen annahm, da die
schwerwiegenden Reproduktions- und Expansionsprobleme des
Kapitalismus weiter bestehen blieben. Keynesianismus,
Neo-Konservativismus und Neoliberalismus bilden daher in der
Geschichte der präventiven Konterrevolution nur neuere
politikökonomische Paradigmen bzw. herrschaftssichernde
Ideologien, um die Kapitalexpansion entgegen allen
Krisentendenzen und gesellschaftlichen Widersprüchen zu
fördern und zu sichern.
Jenseits der (Post-)Fordismustheorie: die
Endlichkeit des Kapitalismus
Der Ansatz, die Geschichte der kapitalistischen
Entwicklung ab einem bestimmten Zeitpunkt als eine Geschichte
einer auf Dauer gestellten präventiven Konterrevolution zu
analysieren, kann zugleich als eine explizite Kritik an der
strukturalistisch inspirierten Regulationstheorie gelesen
werden, die Begrifflichkeiten wie Fordismus und Post-Fordismus
zu Allerweltskategorien der Kapitalismuskritik gemacht hat.
Es ist noch nicht lange her, da postulierte ein
bundesdeutscher Vertreter der Regulationstheorie, dass sich
die kapitalistische Gesellschaft seit einigen Jahren im
sogenannten Postfordismus befindet (Hirsch 2005, 130ff.), der
ein neues Akkumulationsmodell darstellt. Der seit den
siebziger Jahren kriselnde >Fordismus< (als besonderes
Akkumulations- und Regulationsregime) würde deswegen der
Vergangenheit angehören. Allerdings hat die 2008 eingetretene
Weltfinanz- und Wirtschaftskrise diese
Periodisierungsvorstellung der Regulationstheorie hinreichend
widerlegt bzw. blamiert1). Die Vertreter dieser in den
achtziger Jahren entwickelten Phasentheorie des Kapitalismus
ordnen unter dem Paradigma des (Post)Fordismus vorschnell und
gern die Weltgeschehnisse, Moden, Kulturen und Theorien ein.
So wurden z. B. die Analysen über die spätkapitalistische
Gesellschaft von Herbert Marcuse historisiert, in dem diese zu
Beschreibungen des nun untergehenden Fordismus stilisiert
wurden (Roth 1985). Zudem habe Marcuse nicht die Endlosigkeit
des Kapitalismus erkannt, wie es die Regulationstheorie in
ihrer Vorstellung von der unendlichen Abfolge von
Akkumulationsmodellen behauptet. Ist deshalb Herbert Marcuse
für die heutige Analyse des Kapitalismus nur noch ein >toter
Hund<?
Herbert Marcuse hatte unter dem Stichwort
„Verdinglichung der Marxschen Theorie“ vor einem ahistorischen
wie strukturalistischen Zugriff auf die bürgerliche
Gesellschaft gewarnt: „Die Reduktion der Marxschen Theorie auf
feste >Strukturen< scheidet die Theorie von der Wirklichkeit
und verleiht ihr einen abstrakten, distanzierten,
>wissenschaftlichen< Charakter, der ihre dogmatische
Ritualisierung erleichtert.“ (KuR, 44) Die
Post/Fordismustheorie verblieb trotz gegenteiliger Rhetorik in
dieser strukturalistischen Logik gefangen: Die immer gleichen
„festen Strukturen“ des Kapitals verändern sich hier nicht mit
der historischen Entwicklung des Kapitals, sondern nur die
empirische bzw. ökonomisch-quantitative Zusammensetzung des
Kapitals für eine behauptete Phase. Die ökonomischen
Kategorien unterliegen damit keiner historischen
Entwicklungsdynamik, sondern werden nur noch mit selektiv
ausgewähltem historischen Material gefüllt, welches wiederum
in die Schablone eines am Schreibtisch zusammenkonstruierten
Akkumulationsmodells hineingepresst wird. Soweit gibt es in
der Regulationstheorie auch keine innere Entwicklungsgrenze
des Kapitals, sondern nur noch eine unendliche Abfolge von
unterschiedlichen und voneinander isolierten
Akkumulationsmodellen. Eine historische Kontinuität wie
Entfaltung der kapitalistischen Kategorien wird in der
Regulationstheorie nicht mehr thematisiert. Vielmehr werden
die Kategorien nur noch äußerlich aus der Empirie aufgegriffen
und ihre Konstitution nicht mehr erklärt, weshalb die zu
erklärende Genese und die zu bestimmende ökonomische Form des
Kapitals durch die Frage nach der Aufrechterhaltung der schon
immer vorgefundenen kapitalistischen Ordnung ersetzt wurden.
So gleitet die Regulationstheorie notwendigerweise ins
strukturfunktionalistische Fahrwasser ab. Daraus entspringt
zuguterletzt das Postulat eines unendlich wandlungsfähigen und
expansiven kapitalistischen Systems, welches - in den Augen
der Vertreter der Regulationstheorie - jede ökonomische Krise
als Verjüngungskur seiner selbst nutzt (vgl. Girschner 2006).
fabulierte
Dagegen ist die Existenz des Kapitals für Marcuse von
vergänglicher Natur. Der Niedergang des Kapitalismus begründet
sich für ihn durch den tendenziellen Fall der Profitrate, der
selbst in der ökonomischen Form des Kapitals eingeschrieben
ist. Der todbringende, aber langwierige Fall der Profitrate
für das Kapital ist deshalb auch nicht auf ein Versagen,
sondern auf den Expansionserfolg des Kapitals rückführbar. Die
Kapitalakkumulation mit ihren historisch sich entfaltenden
Gestalt- und Entwicklungsformen bildet nicht nur eine
Kontinuitätslinie, sondern vielmehr die Grundlage für die
historisch wachsenden Reproduktions- und Expansionsprobleme
der bürgerlichen Gesellschaft. Der ahistorischen und
strukturalistischen Bestimmung der kapitalistischen
Warengesellschaft setzte Marcuse die nachstehenden
Erkenntnisse entgegen (vgl. KuR, 43f., VR, 145f.):
Die Begriffe, die für eine Untersuchung des
Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert benutzt wurden, dürfen
nicht unreflektiert auf eine gegenwärtige Phase angewandt
werden.
Die politikökonomischen Kategorien des Kapitals sind
vielmehr historisch sich entwickelnde Kategorien.
Denn der Kapitalismus ist zwar in allen seinen Phasen
Kapitalismus, aber die Leistungsfähigkeit des Kapitals
entwickelt sich erst im Verlauf seiner Expansion, die damit
einhergehenden „strukturellen Veränderungen“ betreffen zudem
die gesamte Gesellschaft.
Wer dies ignoriert, reduziert den Kapitalismus auf
„eine ahistorische, undialektische Abstraktion“ und hält
„umstandslos an der Begrifflichkeit früherer
Entwicklungsstadien“ fest.
Ökonomische Krisen resultieren aus der
Widersprüchlichkeit des Kapitals selbst und sind „also keine
>Störungen< oder schwache Stellen innerhalb eines harmonischen
Ganzen, sondern gerade die Bedingungen, in denen Struktur und
Tendenzen der Wirklichkeit an den Tag treten“.
Diese Krisen des Kapitals sind notwendige Momente „der
>Selbstentfaltung< des Kapitalismus“, und diese enthüllt ihren
„wahren Inhalt durch den negativen Akt des Zusammenbruchs.“
Zur Bedeutung der „präventiven Konterrevolution“
Die präventive Konterrevolution als übergreifendes
politikökonomisches Organisations- und Funktionsprinzip der
kapitalistischen Entwicklung bildet sich für Marcuse also ab
einem bestimmten historischen Zeitpunkt heraus, nämlich als
diffuse Reaktion auf die widersprüchliche Entwicklungs- und
Krisendynamik des Kapitals, die im tendenziellen Fall der
Profitrate ihren pointierten Ausdruck findet. Denn die „innere
Dynamik des Kapitalismus“ treibt „zum Zusammenbruch (...),
trotz der und in den Gegentendenzen“ (ZM, 22). Aber die „Frage
>wie lange noch?< lässt sich nicht rational beantworten: die
Theorie ist keine Prophetie.“ (ÜB, 20) Entgegen
fetischisierten bzw. bürgerlichen und marxistischen
Vorstellungen von einer Trennung und Dualität von Politik und
Ökonomie insistiert Marcuse auf eine unzertrennliche Einheit
von Politik und Ökonomie. Politischer Kampf ist für ihn ein
innerer Bestandteil und Antriebsmotor der kapitalistischen
Ökonomie: „Es wäre eine grobe Verdinglichung des Marxschen
Begriffs, wenn die Zusammenbruchstendenz verabsolutiert würde.
Auch als Grundtendenz enthält sie den subjektiven Faktor: die
Praxis.“ (ZM, 22) Trotzdem werden in der historisch
langfristigen Entwicklung und Entfaltung des Kapitalismus
„strukturelle Arbeitslosigkeit, Saturierung des Marktes,
Inflation, innerkapitalistische Konflikte“ stetig und
unausweichlich zunehmen (ÜB, 20). Zu dieser historischen
Entwicklungstendenz des Kapitals formulierte Marcuse einige
Thesen (vgl. SD, 130ff., 145, 148ff; VR, 279f.):
Der Niedergang des Kapitalismus ist ein weltweiter
Entwicklungsprozess, „der ein Jahrhundert währen kann“.
Denn die kapitalistische Gesellschaft wird sich
angesichts der hoch entwickelten technologischen
Kontrollmechanismen und einem riesigen Militärapparat noch
lange reproduzieren können. Zudem hat der Kapitalismus seine
„Reichweite und Macht rationaler Praktiken in einem
unerheblichen Maße erweitert“. Es dürfte daher zu einer
„lange(n) Periode der Barbarei“ kommen. Insbesondere die
„weitgehenden politischen und administrativen Regulierungen“
konstituieren ein „Wechselspiel von Ordnung und Zufall,
bewusster Aktion und blinden Mechanismen“, die die ökonomische
Wachstumsfähigkeit des Kapitals trotz größer werdenden
Problemen über einen längeren Zeitraum sichern können.
Marcuse brachte die für ihn zwangsläufig zunehmenden
Expansionsprobleme des Kapitals in knapper Form auf den Punkt,
als er ausführte: Der tendenzielle Fall der Profitrate
konstituiert sich aus dem Sachverhalt, dass sich in der
historischen Entwicklung des Kapitals eine säkulare Tendenz
herausbildet, die beinhaltet, dass die lebendige und
wertsetzende Arbeit immer mehr aus der Produktion
herausgedrängt wird, das heißt auch, dass sich der menschliche
Arbeitsaufwand zur Produktion von immer größeren Warenmengen
kontinuierlich verringert. Es handelt sich hierbei um das
„>Gespenst der Automation<“ (AI, 22). Diese eherne
Entwicklungstendenz der bürgerlichen Gesellschaft, die die
innere Entwicklungsschranke des Kapitals konstituiert, machte
Marcuse an den folgenden Punkten fest (VR, 273ff.; PuPo, 71f.;
AI, 22):
Das Kapital entwickelt in seiner historischen
Entwicklung und Entfaltung die Produktivkräfte rasant und
steigert damit beständig die Mehrwertproduktion
(Rationalisierung, Intensivierung der Arbeit). Dies vermindert
jedoch zugleich die Menge der lebendigen bzw. wertsetzenden
wie wertvermehrenden Arbeit im Verhältnis zu der Quantität der
Produktionsmittel, die Kapitalakkumulation wird deshalb
schwieriger und muss immer aufwendiger organisiert wie
gesichert werden.
Das Kapital beruht deshalb auf einem unlösbaren
Dilemma, dem es, wie es sich auch drehen und wenden mag, nicht
entkommen kann. Denn gelingt es dem Kapitalismus nicht, die
Produktivkräfte weiter auszubauen und zu entwickeln, „fällt
die Produktivität der Arbeit unter das von der Profitrate
geforderte Niveau“ und stürzt deshalb in eine ökonomische
Existenzkrise. „Und wenn der Kapitalismus dieser Forderung
folgt und die Automation rücksichtslos weitertreibt, stößt er
auf seine innere Grenze: die Quelle des Mehrwerts für die
Aufrechterhaltung der Tauschgesellschaft versickert.“ Es
läutet unwiederbringlich die Todesglocke des Kapitals ein,
denn die „vollendete Automation der gesellschaftlich
notwendigen Arbeit (ist) mit der Erhaltung des Kapitalismus
unvereinbar.“
Mit dieser Entwicklung und Entfaltung der Produktion
auf stets größerer Stufenleiter „geht eine Vergrößerung der
Masse des Kapitals in den Händen individueller Kapitalisten
einher“ und bringt eine „monopolistische Konkurrenz zwischen
gigantischen Unternehmen“ hervor.
Durch die beständige Schaffung neuer Produktionszweige
und Bedürfnisse versucht der Kapitalismus andauernd seine
eigenen Expansionsgrenzen hinauszuschieben; es eröffnet damit
neue kapitalistische Verwertungszonen.
In der langfristigen historischen Entwicklung des
Kapitals lässt sich jedoch der tendenzielle Fall der
Profitrate immer schwieriger aufhalten bzw. hinauszögern. Der
Fall der Profitrate verschärft dann „sowohl den
Konkurrenzkampf als auch den Klassenkampf: politische Methoden
der Ausbeutung ergänzen die ökonomischen, welche langsam ihre
Grenzen erreichen“.
Eine Folge für das Kapital ist nicht nur das
wiederkehrende Auftreten von Überproduktionskrisen, vielmehr
wird eine „profitable Investierung von Kapital (…) immer
schwieriger. Der Kampf um neue Märkte pflanzt den Samen für
immer neue internationale Kriege“.
Die Ergebnisse der kapitalistischen Expansion bleiben
„blind. Die fallende Profitrate, die dem kapitalistischen
Mechanismus tendenziell innewohnt, untergräbt gerade die
Grundlagen des Systems und errichtet die Schranke, über die
hinaus die kapitalistische Produktion nicht fortschreiten
kann.“
Das Konzept der präventiven Konterrevolution von
Marcuse geht nun davon aus, dass die Reproduktionsfähigkeit
des Kapitals ohne eine umfassende Strategie der
Wachstumssicherung und –förderung, die keine
gesellschaftlichen Sphären mehr unbehelligt lässt, nicht mehr
gewährleistet werden kann und deshalb ein alles ergreifendes
politik-ökonomisches Herrschaftsprojekt erfordert. Denn die
sich historisch entwickelnde Kapitalvermehrung bringt nicht
nur beständig neue Organe hervor, um dadurch die Expansion
voranzutreiben und um so die eigene ökonomische Form zu
erhalten, sondern ab einer bestimmten historischen
Entwicklungsstufe muss die Gesellschaft ebenfalls neue soziale
und politische (Ausbeutungs-)Organe für die Ausdehnung des
Kapitals hervorbringen und bereitstellen. Eine bloß passive
und äußerliche Unterordnung bzw. „Subsumtion“ (Marx) der
Gesellschaft unter die Imperative der Wertvermehrung reicht
nicht mehr aus, um die Expansion und Selbsterhaltung des
Kapitals zu gewährleisten. Es bedarf sowohl einer permanenten
gesellschaftlichen Mobilisierung und Neuformierung der
Individuen als auch einer fortdauernden Reorganisation wie
Neukonstitution von sozialen und politischen Institutionen.
Die Aufrechterhaltung und Sicherung des kapitalistischen
Wirtschaftswachstums benötigt eine beständige soziale,
psychologische, politische, ideologische und institutionelle
Anpassungs-, Innovations- und Mobilisierungstechnik, die dem
tendenziellen Fall der Profitrate entgegenwirkt. Die
gesellschaftlichen Institutionen und die Menschen stehen damit
unter einem beständigen Ausnahmezustand, um den dauernd sich
verändernden Ansprüchen des sich zugleich unaufhörlich
reorganisierenden Kapitals nachzukommen bzw. zuvorzukommen.
Jede Sphäre der Gesellschaft muss der zu steigernden
Produktivität der Arbeit und damit der Profitabilität des
Kapitals zu Hilfe eilen. Es darf keine Freiräume mehr geben,
die nicht einem dauernden Test unterworfen werden, inwieweit
sie der Förderung des Kapitalwachstums noch dienlich sind bzw.
für diesen Zweck noch dienlicher gemacht werden könnten: „Die
Regierung fortgeschrittener und fortschreitender
Industriegesellschaften kann sich nur dann behaupten und
sichern, wenn es ihr gelingt, die der industriellen
Zivilisation verfügbare technische, wissenschaftliche und
mechanische Produktivität zu mobilisieren, zu organisieren und
auszubeuten. Und diese Produktivität mobilisiert die
Gesellschaft als Ganzes über allen partikulären oder
Gruppeninteressen.“ Aus diesem Grund erlegt die
Kapitalverwertung der „Arbeitszeit und der Freizeit, der
materiellen und der geistigen Kultur die ökonomischen wie
politischen Erfordernisse seiner Verteidigung und Expansion
auf.“ (EM, 23) Die Steigerung der Leistungs- und
Profitfähigkeit wird von den Individuen von nun an nicht mehr
als äußerer Zwang empfunden, vielmehr in „Selbstdisziplin und
Selbstbeherrschung überführt“, was als Selbstentfaltung und
–verwirklichung ausgegeben und aufgefasst wird (EFT, 346ff.).
Mit der wissenschaftlich entwickelten und nun allseitig
angewendeten Psychotechnik gelingt es, dem Individuum ein
Gefühl zu geben, dass es sich selbst entfaltet, „indem es
Funktionen erfüllt, die sein Selbst auflösen in eine Folge
verlangter Aktionen und Antworten. In diesen Grenzen wird
Individualität nicht nur erhalten, sondern auch gepflegt und
belohnt“, damit es die „Pflichten verinnerlicht und übernimmt,
die ihm aufgetragen werden.“ (ebd., 352)
Trotz der permanenten Anwendung neuartiger Methoden der
Leistungssteigerung und Produktionsausdehnung in allen
Bereichen, die die präventive Konterrevolution zustande
bringt, kann die bürgerliche Gesellschaft in ihrem weiteren
historischen Verlauf dem tendenziellen Fall der Profitrate
immer weniger entgegenwirken. Für Marcuse kommt es deshalb
neben einer wachsenden „Saturierung des Marktes in den
Metropolen“ zur Herausbildung neuer Armutszonen „außerhalb der
privilegierten, zahlungsfähigen Bevölkerung“. Andererseits
wird die für die Reproduktion der Arbeitskraft notwendige
Arbeitszeit immer kürzer, aber ohne „dass das Gesamtquantum an
abhängiger Arbeit reduziert würde: sie bleibt
>full-time<-Beschäftigung, Lebensinhalt.“ (ZM, 26) Die
historisch schwieriger werdende Entwicklung und Entfaltung des
Kapitals bringt ferner einen Berg an neuen sozialen,
ökonomischen und ökologischen Problemen hervor, die die
Reichtumsvermehrung des Kapitals weiter erschweren und
behindern (ebd., 28). Darunter fasste Marcuse folgende
Aspekte:
Aus der langsameren
Akkumulationsfähigkeit des Kapitals resultiert eine steigende
Arbeitslosigkeit sowie Verarmung und letztendlich eine
Verschärfung des Klassenkampfes.
Darüber hinaus kommt es zu einer zunehmenden
Umweltzerstörung und zu einem gewaltigen Raubbau bzw. einer
beständig ansteigenden Vernutzung an natürlichen Ressourcen
(Rohstoff- und Energieverknappung).
Die aus der schwieriger gewordenen Kapitalakkumulation
entspringende Intensivierung der kapitalistischen Konkurrenz
zwischen den Konzernen und Staaten (Wachstums-, Ressourcen-,
Markt-, internationale bzw. regionale Herrschaftssicherung
etc.) wird zunehmend neue Konflikte und Kriege hervorrufen.
Aus dem folgt, dass „die Tendenz
zur Katastrophe als Folge des Fortschritts“ des
Kapitalwachstums eine „reale Gefahr für die bestehenden Formen
der Industriegesellschaft“ darstellt. Gegen diese Gefahr und
gegen das Erlahmen der Expansionsfähigkeit des Kapitals wird
„die Gesellschaft mobilisiert“ und in „leistungsfähigeren
Herrschaftsformen“ organisiert (PP, 136). Jedoch verliert die
präventive Konterrevolution mit jeder höheren Stufenleiter der
kapitalistischen Reichtumsproduktion ein Stück ihrer
Wirksamkeit, da die menschliche Arbeitskraft als einzige
Quelle des kapitalistischen Reichtums immer stärker aus dem
Produktions- und Verwertungsprozess des Kapitals verdrängt
wird. Kurz gesagt, der eigene Erfolg des Kapitals führt
unabwendbar in den ökonomischen und gesellschaftlichen
Abgrund.
Aspekte der „rebellischen Subjektivität“
Die Grundlage der präventiven Konterrevolution beruht
also einerseits darauf, dass das Kapital ein historisch
einmaliges Niveau der Produktivität erzeugt, das die
Kapitalverwertung immer schwieriger werden lässt. Andererseits
führt diese Entwicklung dazu, dass die Arbeit zur Erbringung
der lebensnotwendigen Güter des Lebens auf ein Minimum
reduziert werden könnte. Damit die kapitalistische Verwertung
auf höherer Stufenleiter weiter fortgeführt wird, müssen
demnach beständig neue Produktionszweige geschaffen und neue
Bedürfnisse bei den Menschen hervorgerufen werden. Im Prinzip
könnte das „Reich der Notwendigkeit“ enorm verkleinert werden,
wenn zugleich die Menschen die Autonomie über die Produktion
übernehmen würden, was jedoch unter kapitalistischen
Bedingungen nicht möglich ist. Sowohl die Reduktion der
Arbeitszeit für lebensnotwendige Waren auf ein Minimum als
auch die expansive Schaffung neuer sozial-kultureller
Bedürfnisse bei den Individuen konstituieren für Marcuse das
unberechenbare Potenzial einer „rebellischen Subjektivität“,
die die kapitalistische Warengesellschaft infrage stellt. An
diesem Punkt muss daher für Marcuse auch die präventive
Konterrevolution ansetzen, um die Herrschaft des Kapitals
gegenüber den Individuen und Klassen mit Hilfe von
psychologischen, ökonomischen und kulturellen
Herrschaftsmethoden abzusichern.
Marcuse glaubte schließlich, dass aus der Entfaltung
der Produktivkräfte die für alle Menschen offensichtlich
werdende Möglichkeit entspringt, sich von der mühseligen
Arbeit für das Kapital und den damit konstituierten
Herrschaftsstrukturen zu befreien: „Die Erfahrung
verschwendeter, unnötiger Arbeitszeit (...) lässt sich immer
schwerer unterdrücken: sie stimuliert das Bedürfnis nach dem
>Reich der Freiheit<, das in der spätkapitalistischen
Warenwelt dauernd produziert und negiert wird. Der
Kapitalismus erzeugt stetig Bedürfnisse, die er nicht erfüllen
kann, vor allem das Bedürfnis nach Abschaffung der
ausgebeuteten Arbeit als Lebensform. Denn der Kapitalismus ist
abhängig von der Reproduktion und der Intensivierung der
ausgebeuteten Arbeit: Die Luxusgüter, das kapitalistische
Reich der Befriedigung und der Lust, sind Waren, die gekauft
und verkauft werden müssen: Tauschware. So transformiert der
Kapitalismus das Reich der Freiheit (das er selbst provoziert
und erscheinen lässt) in ein Reich seiner Notwendigkeit: die
Produktion von Überfluss, von Schönheit, Erfüllung; die Arbeit
für Luxusgüter wird zur gesellschaftlich notwendigen,
unmenschlichen Arbeit, der Ziel und Ende versagt sind.“ (ZM,
26f.)
Allerdings gelang nach Marcuse der kapitalistischen
Gesellschaft bislang diese ihr innewohnenden
Freiheitstendenzen erfolgreich zu kanalisieren und in
herrschaftserhaltende Aggressionen umzuformen. Diese
Einschätzung beruht auf den folgenden Gesichtspunkten (VüB,
78f.; PP, 136f. u. vgl. ZM, 23; ReTo, 94f.):
Der Widerspruch zwischen den Möglichkeiten eines
„leichten und freien Leben“ und der Verewigung des
Existenzkampfes ruft „bei der unterworfenen Bevölkerung jene
sich steigernde Aggressivität“ hervor, „die (wenn sie nicht
gesteuert wird, den angeblichen Feind zu hassen und zu
bekämpfen) jedes passende Ziel trifft: Weiß oder Schwarz, den
Einheimischen oder den Fremden, den Juden oder Christen, Reich
oder Arm. Das ist die Aggressivität der Opfer der Repression,
die wegen ihres Lebensunterhalts auf die repressive
Gesellschaft angewiesen sind und daher die Alternative
verdrängen. Ihre Gewalt ist die des Establishments und nimmt
sich Figuren zur Zielscheibe, die, zu Recht oder zu Unrecht,
anders zu sein und eine Alternative zu repräsentieren
scheinen“.
Das Potenzial eines befreiten Lebens wird aber auch
durch „die Anziehungskraft“ des kapitalistisch produzierten
Überflusses konterkariert und „bewirkt die Verewigung des
Existenzkampfes, die zunehmende Notwendigkeit,
Nicht-Notwendiges zu produzieren und zu konsumieren. (...) Der
phantastische Ausstoß von Dingen und Dienstleistungen aller
Art übersteigt jede Vorstellungskraft; aber er beschränkt und
entstellt sie in der Warenform, wodurch die kapitalistische
Produktion ihre Gewalt über das menschliche Dasein erweitert“.
Nicht zuletzt deswegen kann auf eine „terroristische
Eingliederung“ verzichtet werden, da die Menschen in den
kapitalistischen Metropolen einen „guten Grund haben, sich
einzuordnen oder sich einordnen zu lassen. Ihre Mitarbeit und
ihr Einverständnis mit dem bestehenden System erscheint als
rational, ja sie reproduzieren selbst ihre Einordnung; nachdem
einmal ihre Bedürfnisse und Neigungen den Erfordernissen des
Apparates angepasst sind, bestimmen sie in der Tat als Wähler
die Politik, wählen sie denjenigen unter den ihnen
vorgesetzten Kandidaten, der ihrer Meinung nach oder ihres
Teiles der öffentlichen Meinung nach ihre Interessen innerhalb
des Apparates am besten vertritt“.
Zudem haben die Menschen die „Wahlfreiheit innerhalb
ihrer Kaufkraft auch in der Konsumtionssphäre und in der
höheren Kultur – mit anderen Worten: die Einordnung geschieht
durch einen demokratischen Pluralismus“.
Die Konterrevolution sichert zudem die mentale
Integration der Menschen mithilfe der gesellschaftlichen
Etablierung der „repressiven Toleranz“, das heißt: „Toleranz
wird auf politische Maßnahmen, Bedingungen und
Verhaltensweisen ausgedehnt, die nicht toleriert werden
sollten, weil sie die Chancen, ein Dasein ohne Furcht und
Elend herbeizuführen, behindern, wo nicht zerstören.“ Toleranz
verliert damit seinen früheren emanzipatorischen und
kritischen Gehalt und verkehrt sich in ein Mittel, um „den
Kampf ums Dasein zu verewigen und die Alternativen zu
unterdrücken.“
Allerdings werden mit der historischen Entwicklung des
Kapitals immer mehr Schichten jenseits dieser pluralen
Einkaufs-Demokratie leben, „die nicht eingeordnet sind und
vielleicht auch nicht eingeordnet werden können, nämlich
rassische und nationale Minderheiten, dauernd Arbeitslose und
Arme. Sie stellen die lebendige Negation des Systems dar, aber
sie bilden eine Minderheit, die das Funktionieren des Ganzen
bis jetzt nicht ernsthaft infrage stellt.“
Der deutsche Faschismus als „präventive
Konterrevolution“
“Die effektive Verwirklichung der Interessen der
Großindustrie war eines der stärksten Motive für die
Überführung der ökonomischen in totalitäre politische
Herrschaft; Effektivität ist einer der Hauptgründe für die
Macht des faschistischen Regimes über die beherrschte
Bevölkerung.“ (EFT, 356)
Die präventive Konterrevolution beginnt für Marcuse mit
dem einsetzenden Faschismus in Europa, weil sich hier eine
historisch neue Herrschaftsform des Kapitals konstituierte, um
die aus dem tendenziellen Fall der Profitrate resultierende
Grenze des Kapitalwachstums wie die daraus entspringenden
Gefahren und Widersprüche (soziale Aufstände, Widerstände,
Revolten etc.) für das Kapital aufzufangen. Die präventive
Konterrevolution in der Gestalt des Faschismus, die hier nur
kurz angerissen werden soll, hat eine offen
staatsterroristische Form angenommen, nämlich (ZM, 24):
durch die terroristische
Unterdrückung der Opposition;
als „Liquidierung einer ganzen Generation
revolutionärer Vertreter der Arbeiterklasse“;
durch die zentrale Organisierung der Ökonomie für „die
Restauration und Expansion des Großkapitals bei gleichzeitiger
Delegierung der ökonomischen Souveränität an den
faschistischen Machtapparat“;
durch „Transformation der ausgebeuteten Klassen“ in
eine gleichgeschaltete Masse und „als privilegierte
Bevölkerung gegenüber den geopferten >Fremdgruppen<“.
Dementsprechend definiert Marcuse
den Faschismus als eine „als totalitäre Organisation der
Gesellschaft zur Bewahrung und Ausdehnung des Kapitalismus in
einer Situation, in der dieses Ziel durch die normale
Entwicklung des Marktes nicht mehr erreicht werden kann.“ (SD,
174) Die besondere historische Entwicklungsschranke für das
Kapital sah Marcuse in zwei zentralen Faktoren: einerseits
„durch eine starke sozialistisch-kommunistische Opposition im
eigenen Land“, andererseits „durch den gravierenden Rückgang
der Kapitalakkumulation als Folge eines verlorenen Krieges,
einer tief greifenden Wirtschaftskrise usw.“ Die Krisenlösung
zur Überwindung der vom Kapital selbst konstituierten
Entwicklungsschranke bestand im Faschismus darin, auf der
einen Seite das Lohnniveau zu senken und die Macht der
Gewerkschaften zu brechen, auf der anderen eine aggressive
imperialistische Politik zu betreiben. Und dies „erfordert die
Mobilisierung der gesamten Bevölkerung für das durch die
herrschende Klasse definierte nationale Interesse, die
Abschaffung des Rechtsstaates, die Entmachtung des Parlaments
als Plattform für die Opposition, die Militarisierung aller
gesellschaftlichen Bereiche und die faktische
Außerkraftsetzung der demokratischen Ideologie.“ (ebd., 174)
Dies beinhaltete ebenfalls eine Transformation des „gesamten
kulturellen Gefüges.“ (VR, 361) Der Faschismus zerstörte
deswegen den „liberalistischen Rahmen der Kultur“ und
„schaffte“ damit den „letzten Bezirk ab, in dem das Individuum
sein Recht gegenüber Gesellschaft und Staat beanspruchen
konnte.“ (ebd., 362) Der Nationalsozialismus glorifiziert
demgegenüber „die Massen und hält am >Volk< in seiner
vorrationalen, natürlichen Verfassung fest. (...) Das
autoritäre System kann (...) das Leben seiner
Gesellschaftsordnung nur dadurch aufrechterhalten, dass es
jedes Individuum ohne Rücksicht auf sein Interesse auf den
ökonomischen Prozess zwangsverpflichtet. Die Idee
individueller Wohlfahrt weicht der Forderung des Opfers. >Die
Pflicht des Opferns für die Gesamtheit hat keine Grenzen, wenn
wir das Volk als das höchst Gut auf Erden ansehen ...<.“
(ebd., 364f.) Ein besonderes Merkmal des deutschen Faschismus
bestand für Marcuse in der alles durchdringenden Rationalität
als allgemeingültiges Organisationsprinzip nicht nur der
Produktion, sondern des gesellschaftlichen und privaten
Lebens, um die Menschen für das Kapital und für die
anstehenden Eroberungskriege zu mobilisieren und zu formieren.
So wird die „Bevölkerung mit einer Rationalität durchtränkt,
die alles an den Kriterien von Effizienz, Erfolg und
Nützlichkeit misst.“ (FD, 25) Entsprechend werden die letzten
vorkapitalistischen Reste im deutschen Faschismus beseitigt
und „die relativ unabhängige Stellung all jener Gruppen
zunichtegemacht, die der Entwicklung zum Großunternehmen
hinterherhinkten. Betroffen sind vor allem kleine und mittlere
Unternehmen sowie der Handels- und Finanzbereich. Hier ist der
freie Markt überall staatlicher Reglementierung unterworfen
worden. Der Nationalsozialismus hat die Arbeiterschaft in den
Herrschaftsbereich der Industrie eingegliedert, die
Hindernisse, welche die Sozialgesetzgebung einer solchen
Eingliederung in den Weg gestellt hatte, beseitigt und
stattdessen direkte politische Kontrollmöglichkeiten
geschaffen. Die gesetzmäßige Verfasstheit der Organe von
Arbeitnehmern und Arbeitgebern wurde ebenso abgeschafft wie
das Recht auf die freie Aushandlung von Verträgen und zur
politischen Vertretung. Der Nationalsozialismus hat
industrielle, ministerielle und halboffizielle
(Partei-)Bürokratie miteinander verschmolzen und den Staat an
die Erfordernisse des industriellen Apparates angepasst.“
(ebd., 27f.)
Dieser ökonomische Mobilisierungsprozess der
Institutionen und Klassen ergreift auch das Individuum, um es
für das Kapital gewinnbringender ausbeuten zu können, es
findet eine „ebenso umfassende Anpassung der individuellen wie
der kollektiven Moral und Psychologie“ statt. Denn: „Noch in
ihren irrationalsten Ausprägungen ist die neue Mentalität das
Ergebnis einer totalitären >Rationalisierung<, die alles, was
der rücksichtslosen wirtschaftlichen und politischen
Ausbeutung in Gestalt moralischer Hemmnisse, Vergeudung und
Ineffizienz im Wege steht, beseitigt.“ (ebd., 28) Dabei ist
hervorzuheben, dass diese neue „Mentalität“ „einer
gesellschaftlichen Organisationsform (entspricht), die mit dem
Nazisystem nicht identisch ist, auch wenn dieses ihre
aggressivste Ausdrucksform darstellt.“ (ebd.) Vielmehr passte
diese neue Mentalität „perfekt“ zu „dem neuesten Stand von
Technologie, Großindustrie und Konzernorganisation“, so „dass
jeder Rückfall hinter diesen Stand dem allgemeinen Trend der
internationalen Entwicklung widersprechen müsste.“ (ebd.)
Der deutsche Faschismus entdeckte also das Individuum
als psychosozial zu mobilisierender und formender Faktor der
ökonomischen Kapitalexpansion: „So seltsam es auch klingen
mag, das Individuum ist das Lieblingskind des
nationalsozialistischen Regimes. Es bemüht sich ständig, seine
Fähigkeiten zu steigern, seiner Leistungsfähigkeit zu
verbessern und es mit Energie und Initiative zu füttern.
(...). Die gesamte Sozialpolitik der Nationalsozialisten wird
von dem Ziel geleitet, >alle schlummernden Fähigkeiten im Mann
zu entwickeln, seine Leistungsfähigkeit zu stärken, das Wesen
seiner Persönlichkeit zu erweitern<. Das ist mehr als
Ideologie. Der Nationalsozialismus hat ein äußerst
elaboriertes System physischer, moralischer und geistiger
Erziehung errichtet, das darauf abzielt, die individuellen
Fähigkeiten mit höchst subtilen wissenschaftlichen Methoden
und Techniken zu erhöhen.“ (ebd., 102) Zu diesem Zweck wurden
psychologische und technologische Institute eingerichtet, „um
die geeignetsten Methoden für die Zerlegung der Arbeit zu
untersuchen und um den schädlichen Auswirkungen der
Mechanisierung entgegenzuwirken. Die Fabriken, Schulen,
Ausbildungslager, Sportstätten, die kulturellen Institutionen
und die Freizeitorganisationen sind wahre Laboratorien des
Individualismus. Jedem Mitglied der deutschen Rasse wird
unabhängig von seiner sozialen Stellung beigebracht, sich wie
ein einzigartiges und selbstsicheres Wesen zu fühlen und zu
verhalten, selbst das mechanistische Produkt zu seiner eigenen
persönlichen Arbeit zu machen, und seine Wohnstätte soll sich
durch die Merkmale seines eigenen persönlichen Geschmacks
auszeichnen.“ (ebd., 103f.) Die Entdeckung der Psychologie als
Methode zur Anpassung der Menschen an die neuen Erfordernisse
der Kapitalverwertung geht bei den Betroffenen einher mit dem
Schein einer größeren Individualität (EFT, 352). Zahlreiche
Aspekte dieser psychosozialen Mobilisierung und Formierung der
Menschen für die Sicherung der Expansionsfähigkeit des
Kapitals werden in den später folgenden Konterrevolutionen
nicht nur fortgesetzt, sondern weiter verfeinert und
fortentwickelt.
Über einige Aspekte des „Spätkapitalismus in der
Phase der präventiven Gegenrevolution“ (ZM, 24)
„Der totalitäre Staat ist nur eine der Formen –
vielleicht eine schon veraltete Form -, in denen sich der
Kampf gegen die geschichtliche Möglichkeit der Befreiung
abspielt. Die andere, die demokratische Form verwirft den
Terror, weil sie stark und reich genug ist, sich ohne ihn zu
retten und zu reproduzieren“ (PuPo, 10).
Die spätkapitalistische Konterrevolution wird endlich
mittels der scheinbar unendlichen Expansion der Waren und neu
geschaffenen Bedürfnissen in die psychologische Tiefenstruktur
der Menschen verankert; sie wird den Menschen zur „zweiten
Natur“: Diese „zweite Natur des Menschen widersetzt sich jeder
Veränderung, welche diese Abhängigkeit der Menschen von einem
dichter mit Handelsartikeln gefüllten Markt sprengte oder
vielleicht abschaffte – seine Existenz als Konsument aufhöbe,
der sich im Kaufen und Verkaufen selbst konsumiert.“ (VüB,
26f.) Darüber hinaus sind die kapitalistisch organisierten
Massenmedien zu Organen „zur Werbung für Gewalt und Dummheit,
zur Bestrickung der Zuhörer“ geworden und schaffen eine
„Harmonie zwischen Herrschern und Beherrschten“. Auf dieser
Grundlage kommt es zu einer radikalen Umdeutung
gesellschaftlicher Werte und Verhaltensweisen: „Anpassung
verkehrt sich in Spontaneität, in Autonomie; und die Wahl
zwischen sozialen Notwendigkeiten erscheint als Freiheit. In
diesem Sinn ist die fortdauernde Ausbeutung nicht nur hinter
dem technologischen Schleier verborgen, sondern tatsächlich
>umgewandelt<. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse
sind nicht nur für die Knechtschaft und Mühsal verantwortlich,
sondern ebenso für das größere Glück und Vergnügen, wie sie
der Mehrzahl der Bevölkerung zugänglich sind – und sie liefern
mehr Güter als je zuvor.“ (ebd., 27ff.) So existiert für
Marcuse in der spätkapitalistischen Phase eine „sozial
gesteuerte Lähmung des Bewusstseins“, während die “Entwicklung
und Befriedigung der Bedürfnisse“, „die Knechtschaft der
Ausgebeuteten verewigen.“ (ebd., 33)
Mit der historischen Entfaltung des Spätkapitalismus
werden auch alt hergebrachte Vorstellungen über die Rolle und
Bedeutung der Ideologie in der bürgerlichen Gesellschaft
antiquiert bzw. „unangemessen“ (SD, 44). Denn die Ideologie
nimmt angesichts der erreichten Stufenleiter der
Kapitalakkumulation und des Warenreichtums neue Gestaltformen
an. Allerdings nicht im Sinne eines >Ende der Ideologie<.
Vielmehr ist die kapitalistische bzw. herrschaftsabsichernde
Ideologie in der Warengesellschaft allgegenwärtig geworden, in
dem sie sich längst in den Waren, Institutionen und in der
Psyche der Menschen vergegenständlicht hat (ZM 26). Damit ist
gemeint, dass es zu einer „Institutionalisierung,
>Verkörperung< der Ideologie im alltäglichen Verhalten, im
Funktionieren der Gesellschaft und der Individuen“ gekommen
ist. Die Ideologie ist nicht mehr nur eine Sphäre der
politisch sich streitenden Ideen und Meinungen zwischen den
gesellschaftlichen Klassen, sondern sie materialisiert sich
als herrschaftssichernde Praxis vielmehr in den „Vorstädten,
Nuklearanlagen, Supermärkten, Apotheken und psychiatrischen
Praxen“ (SD 44f.). Diese materialisierte Ideologie verankert
sich über diesen Weg nicht nur in das Bewusstsein der
Menschen, sondern auch in ihre „Triebstruktur für die
Reproduktion des Bestehenden innerhalb und außerhalb der
Arbeitswelt“ (ebd.). So herrscht eine umfassende “materielle
und mentale Integration” der Menschen vor, die dafür sorgt,
dass ein nonkonformistisches Bewusstsein scheinbar nicht mehr
existiert (SiF, 137).
Zudem spielen die kapitalistischen Medien eine
entscheidende Rolle in der präventiven Konterrevolution.
Schließlich sichern die Medien durch ihre allgegenwärtige
Indoktrination die Konterrevolution im Bewusstsein und
Verhalten der Menschen ab. Denn sie rufen für Marcuse u.a.
eine „Normalisierung des Grauens“ (AI, 19) hervor. Es gibt
eine medial erzeugte Gewöhnung der Menschen an den Krieg und
seine Folgen, der Umweltverschmutzung und sozialen
Verelendung: „Die Verrohung der Sprache und des Bildes, die
Darstellung vom Töten, Verbrennen und Vergiften der Opfer
einer neo-kolonialen Schlächterei erfolgt in einem
alltäglichen, tatsachengebundenen, manchmal sogar
humoristischen Stil, der das radikal Böse mit den Untaten
jugendlicher Krimineller, mit Fußballspielen, Unfällen,
Börsen- und Wetterberichten gleichsetzt“ (ebd.). Diese
Ausrichtung der Medien wird durch eine „reglementierte
Sprache“ ergänzt, die sich „einer unerbittlichen
Diskriminierung“ bedient: Ein „besonderes Vokabular des
Hasses, des Ressentiments und der Diffamierung gilt dem Feind
und denjenigen, die gegen eine aggressive Politik opponieren.
Das Muster bleibt sich stets gleich“ (ebd., 20). Die
„Mobilisierung von Aggressivität“ erklärt sich daraus, dass es
um die „Stabilisierung und Festigung eines Systems“ geht, „das
durch seine eigene Irrationalität bedroht ist – durch die
prekäre Grundlage, auf der sein Wohlstand ruht, durch die
Enthumanisierung, die sein verschwenderischer und parasitärer
Überfluss erzwingt.“ (ebd., 21) Es kommt notwendigerweise zu
einer Abwertung der Wahrheit, da diese „dem Schutz und der
Verbesserung des Lebens dient“ (ebd., 27).
Die Massenmedien konstituieren ferner einen besonderen
Stil im Umgang mit Werbung, Meinungen und Informationen, der
aus beständiger Wiederholung besteht: „dieselbe Reklame, die
unaufhörlich mit demselben Text oder Bild gesendet oder
ausgestrahlt wird; dieselben Phrasen und Gemeinplätze, die von
Informanten und Meinungsbildnern unaufhörlich verbreitet
werden; dieselben Parteistandpunkte und -programme, die von
den Politikern unaufhörlich verkündet werden.“ Dies zusammen
„zerstört geistige Autonomie, Intelligenz und
Verantwortungsbewusstsein, verleitet zu Trägheit, Fügsamkeit,
Wohlbefinden in der Reduktion von Spannungen, gibt Schutz
gegen traumatische Neuerungen.“ (ebd., 28f.) Die
spätkapitalistische Konterrevolution verringert damit die
„Last des Verstandes und die Mühsal und Anspannung, die
autonomes Denken begleiten – so gesehen wird die Politik der
Wiederholung wirksame Aggression gegen den Geist in seinen
kritischen, die Gesellschaft aufstörenden Funktionen.“ (ebd.,
29) Es ist dann auch nicht mehr verwunderlich, wenn das
Bildungswesen „funktional“ zugerichtet wird, das heißt, „an
den Jobs ausgerichtet (wird), die zur Verfügung stehen und die
erledigt werden müssen – Dienst am Establishment, der seinen
Lohn findet.“ (SD, 151)
Die „präventiv-gegenrevolutionäre Stabilisierung des
Spätkapitalismus“ besteht für Marcuse insbesondere aus den
nachstehenden Punkten (ZM, 23f.):
Es existiert eine kapitalistisch
organisierte Befriedigung und Steuerung der Bedürfnisse, um
die Kapitalexpansion weiterzutreiben und zu sichern.
Es findet eine Gleichschaltung der intellektuellen und
materiellen Kultur durch die Institutionalisierung und
Proliferation von „System-Wissenschaften“ und therapeutisch
arbeitenden Geisteswissenschaften statt, die das
>eindimensionale Denken< konstituieren, nähren und
legitimieren. Hierunter fällt insbesondere die Verbreitung von
Philosophien, „die sich die kritische Transzendierung der
Begrifflichkeit verbieten“.
Es kommt zu einer „Pseudo-Demokratisierung in der
Konsumsphäre bei gleichzeitiger Stärkung und Ausdehnung der
Exekutivgewalt“.
Es findet eine internationale „Mobilisierung des
Großkapitals für die Sicherung der Ausbeutung und die
Eindämmung oder Unterdrückung der Revolte“ statt.
Neoliberalismus als neue
spätkapitalistische Konterrevolution
Herbert Marcuse hat noch einige Aspekte der in den
siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts beginnenden
neoliberalen bzw. neokonservativen Konterrevolution bestimmt,
die ich hier noch abschließend in Erinnerung rufen möchte.
In den siebziger Jahren sieht Marcuse eine Phase, in
der die Reproduktion des Kapitals und damit seine Expansion
einschneidend schwieriger wurde, worauf das Kapital im
Zeitalter des „monopolistischen Staatskapitalismus“ mit einem
generellen Angriff auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der
Lohnabhängigen reagierte. Er brachte diesen Sachverhalt so auf
den Punkt: „1. Die zunehmend schwieriger werdende
Kapitalakkumulation und das Einbrechen der Märkte sind jetzt
nicht das Resultat eines verlorenen Krieges oder anderer
anormaler Bedingungen, sondern ergeben sich aus dem ungeheuren
Anwachsen der Arbeitsproduktivität sowie konstanter
Überproduktion selbst bei geringer Produktionskapazität. 2.
Die Opposition gegen die repressive Wirtschaftspolitik äußert
sich als Widerstand der Gewerkschaften gegen die Absenkung des
Lohnniveaus und als Widerstand der Arbeiter gegen
intensivierte Ausbeutung.“ (SD, 174f.)
Mit dem Neoliberalismus bzw. Neokonservativismus
beginnt in den 70er Jahren eine neue Strategie der präventiven
Konterrevolution, deren „Zentrum“ „in den Vereinigten Staaten“
liegt (SiF, 114), um für das Kapital wieder bessere
Akkumulationsbedingungen herzustellen. Dazu gehörte die
Förderung und Unterstützung der Mobilität des Kapitals auf dem
Weltmarkt. Über diesen Weg wurde auch die Kampfkraft der
Arbeiterklasse in den USA und in den Metropolen, nämlich durch
„Abwanderung von Betrieben, Einschränkung der Produktion in
Regionen mit hohen Löhnen“, geschwächt. Die „drohende
Verarmung trifft nicht nur (und vielleicht nicht einmal
primär) den Teil der Arbeiterklasse, der durch seine
Organisationen (Gewerkschaften und Parteien) noch
widerstandsfähig ist, sondern auch weite Schichten der
Mittelklassen ohne politische und ökonomische Organisation.“
(ZM, 30f.) Die Opposition ist in den kapitalistischen
Metropolenstaaten in einer sehr schlechten Verfassung. Sie ist
nicht mehr in der Lage, eine entsprechende Gegenmacht gegen
die aufkommende neoliberale Konterrevolution zu entwickeln:
„Die Basis der Bevölkerung wird durch eine Triebstruktur
verfestigt, mittels derer sich das kapitalistische System in
den Individuen reproduziert. Zur Basis gehört die große
Mehrheit der Arbeiterklasse. Natürlich ist die
>Verbürgerlichung< der Arbeiterklasse keine grundlegend neue
Entwicklung. Neu ist die fast völlige Abwesenheit von
Bedingungen, durch die der Prozeß in sein Gegenteil verkehrt
werden könnte. Es gibt keine Arbeiterpartei und keine
Arbeiterpresse, und der Sozialismus auch nur als
Zielvorstellung wird abgelehnt. Was den politischen Charakter
der bürgerlichen Demokratie angeht, so sieht diese sich keiner
feudalen oder postfeudalen Macht mehr gegenüber; sie hat die
Armee, den öffentlichen Dienst, die Erziehungs- und
Bildungsinstitutionen völlig erobert. Daraus resultiert die
untergeordnete Bedeutung, die das Parlament mittlerweile
besitzt. Die Monopolisierung der Wirtschaft findet ihren
Ausdruck in der Machtfülle, die der Exekutive zugefallen ist.
Die Bourgeoisie herrscht uneingeschränkt, und obwohl die
Arbeiterklasse in der Bevölkerung, die diese Herrschaft
stützt, noch eine eigene Klassenposition innehat, bleibt sie
als Klasse innerhalb dieser Gesellschaft, geht nicht als ihre
>bestimmte Negation< über sie hinaus. Und der Klassenkampf
stört nicht die Kreise der brutalen imperialistischen
Politik.“ (SD, 160)
Marcuse sieht eine Ursache für die beschriebene
politische Stabilität und das Schwinden der oppositionellen
Kräfte im Zeitalter der neoliberalen Konterrevolution ferner
in einer besonderen, tief verankerten gesellschaftlichen
Seelenstruktur der Menschen, die einen, wie es Erich Fromm
bezeichnete, „sadomasochistischen Charakter“ und
„Konformismus“ angenommen hat (ebd., 153ff., 159). Diese
gesellschaftliche Lust an der eigenen wie selbstschädigenden
Unterwerfung, Bestrafung, Selbstverstümmelung und am
Todestrieb, die nichts anderes als eine „>Flucht vor der
Freiheit<, vor der Politik“ ist (ebd., 155), zeigt sich z. B.
an diesem noch relativ harmlosen Phänomen: Die Menschen bilden
„eine durch und durch konservative Mehrheit, die sich im und
durch den Wahlvorgang fortschreibt, die herrschende Klasse und
ihre Regierung immer aufs neue bestätigt und die Opposition
enttäuscht und frustriert zurücklässt.“ (ebd., 152f.) Obwohl
es den Menschen in den kapitalistischen Metropolen möglich
ist, sich Informationen zu besorgen, „die nicht
regierungskonform, nicht manipuliert, nicht zensiert sind“,
scheint es so, „als wollten sie es nicht, als hätten sie nicht
wirklich den Wunsch, das Bedürfnis, irgendetwas zu lesen, zu
sehen oder zu hören, das der allgemein akzeptierten Wahrheit
oder Falschheit widerspricht“ (ebd.). Aus diesem Grund weist
Marcuse darauf hin, dass es falsch zu sagen ist, „dass die
Bevölkerung keine Schuld hätte, dass sie keine Macht besäße,
die Dinge zu ändern, auch wenn sie das wollte. Die Bevölkerung
kann etwas tun!“ Aber stattdessen „identifizieren“ sich die
Leute mit den Regierenden und „der institutionalisierten
Brutalität und Aggression“ (ebd., 153). Für Marcuse bestätigt
sich hier die These, dass die „äußere Unterdrückung durch eine
Unterdrückung aus dem Inneren unterstützt“ wird: „Das unfreie
Individuum introjiziert seine Herren und deren Befehle in
seinen eigenen psychischen Apparat. Der Kampf gegen die
Freiheit wiederholt sich in der Seele des Menschen als
Selbstunterdrückung des unterdrückten Individuums, und die
Selbstunterdrückung wiederum stützt die Herrschenden und ihre
Institutionen.“ (TuG, 22)(2)
Aufgrund der fundamentalen Schwäche der Opposition
gegenüber dem Neoliberalismus und der ökonomisch schwieriger
gewordenen Lage der Lohnabhängigen (Arbeitslosigkeit) hat die
neue Gestalt der Konterrevolution keinen mächtigen politischen
Gegner zu erwarten. Die Agenten des Kapitals müssen deshalb
keine Rücksicht mehr nehmen, was diese wissen und rigoros
ausnutzen, weshalb sie die ihnen früher von der Arbeiterklasse
aufgezwungenen sozialen und politischen Konzessionen in aller
Offenheit wegräumen: „Es hat den Anschein, als würde der
Kapitalismus sich jetzt sicher genug fühlen, um alles von sich
zu werfen, was seiner produktiven Destruktivität Schranken
auferlegt – juristische, moralische, politische Schranken
(oder als könne er sich diese Schranken nicht mehr leisten).
Das System reißt sich selbst den Schleier vom Gesicht und
stellt sich als das dar, was es ist. Durch sein eigenes
Verhalten demonstriert es täglich die Wahrheit der Marxschen
Theorie. Verglichen mit der Realität ist Engels` dritter
Abschnitt des Anti-Dühring so zahm und zurückhaltend wie
Lenins Imperialismusanalyse. Die Vereinigung von Großkapital
und Staat tritt ganz unvermittelt und offen zutage. Die
Vorstellung, es könne zwischen privaten Interessen und der
Regierung einen Konflikt geben, wird nicht mehr ernst
genommen, oder, falls nötig, durch einen Regierungserlass
beseitigt. Da es keine Unterschiede zwischen Geschäftswelt,
Mafia und Politik mehr gibt, ist Korruption zu einem Begriff
ohne Bedeutung geworden. Je weiter oben sie angesiedelt ist,
desto mehr wird sie allein durch die Tatsache, dass sie so
weit oben ist, geschützt und >legitimiert<.“ (ebd., 161) Dies
führt auch dazu, dass die neoliberale Konterrevolution auf
„einem nie da gewesenen Niveau die organisierte
Aufstandsbekämpfung (Counterinsurgency) im In- und Ausland“
betreibt (SiF, 115). Weitere Folgen der neokonservativen
Konterrevolution benannte Marcuse, die den umfassenden
gesellschaftlichen Charakter dieses neuen Herrschaftsprojektes
des Kapitals weiter verdeutlichen (SiF, 122; VüB, 105, 110,
115):
Die Gerichte werden „mehr und mehr
als politische Tribunale benutzt“.
Es findet ein gewaltiger Bildungs- und Sozialabbau in
den reichsten Ländern der Welt statt.
Die bürgerlichen Grundrechte werden in zunehmenden
Maßen eingeschränkt oder sogar beseitigt.
Dies geht einher mit der Etablierung von
wirtschaftlichen „Sanktionen, wenn man politisch oder
anderweitig suspekt ist“.
Es findet eine wachsende „Einschüchterung und
Selbstzensur der Massenmedien“ statt.
Die Lobbyistengruppen des Kapitals und ihre Netzwerke
übernehmen immer mehr die Regierungsgewalt.
Der herrschenden Minderheit gelingt es in einem stets
größer werdenden Maße, einseitige Definitionen von Wörtern und
die Deutungshoheit von Geschehnissen durchzusetzen:
„Politische Linguistik ist ein Schutzpanzer des
Establishments“, denn „das etablierte Vokabular diskriminiert
die Opposition von vornherein – es schützt das Establishment“.
Der Neoliberalismus bzw.
Neokonservativismus hat darüber hinaus ein weiteres Kampffeld
eröffnet, nämlich der Kampf gegen den geglaubten Verfall des
Leistungsprinzips und der Unterwerfungskompetenz. Für die
neoliberale Konterrevolution muss daher mit allen Mitteln
gegen die wachsende Auflösung kapitalistischer Leistungsideale
als Folge der „sogenannten Konsumgesellschaft“ angekämpft
werden, dies heißt gegen „Untüchtigkeit, Arbeitswiderstand,
Verweigerung der Pflichterfüllung, Fahrlässigkeit und
Gleichgültigkeit – alles dysfunktionale Faktoren“.
Entsprechend wird mehr >Eigenverantwortung<, Eigeninitiative
usw. eingefordert und ein Loblied auf Fleiß, Tüchtigkeit und
Anspruchslosigkeit gesungen. Aber in Wahrheit ist die
Infragestellung des Leistungsprinzips nicht Folge der
>Konsumgesellschaft<, sondern es sind die Widersprüche und
inneren Schranken des entwickelten Kapitalismus selbst, die
das Leistungsprinzip bei den Menschen fragwürdig erscheinen
lassen. Denn die Widersprüche des Spätkapitalismus
manifestieren sich für Marcuse „in der zunehmenden Auflösung
der moralischen Festigkeit und Kohäsion der Gesellschaft, im
Nachlassen von Arbeitsdisziplin, Verantwortungsgefühl und
Effizienz, in der völligen Abkehr von jenem Geist der
innerweltlichen Askese, der bis vor Kurzem die Haupttriebfeder
des Kapitalismus war. Die Widersprüche zeigen sich in der Form
von Aussteigern, Rückzügen und Abspaltungen nicht nur in den
rebellierenden Mittelschichten, sondern auch in der
herrschenden Klasse. Kurz, in dieser sogenannten
Konsumgesellschaft erleben wir eine weithin unpolitische,
diffuse, ungeregelte und dennoch tief gehende
Nicht-Identifikation mit dem System. (...) – diese Rebellion
gegen die vom kapitalistischen System geforderten
Verhaltensmuster und Werte wird vom System nicht nur
hervorgebracht, sondern auch ständig vorangetrieben und weiter
verschärft. (...) Neben der Welt von entfremdeter Arbeit,
Elend und Unterdrückung bringt der Kapitalismus im
gegenwärtigen Stadium eine Welt von Komfort und technischen
Spielereien, von Spaß und Überfluß hervor, an den die Menschen
in zunehmender Zahl, wenn auch größtenteils prekär teilhaben.
Der Reichtum kapitalistischer Gesellschaften ist immer noch,
wie Marx es definiert hat, eine ungeheure Warensammlung, aber
diese Waren erfordern zu ihrer Produktion immer weniger
Arbeitskraft. Das heißt, sie stellen eine immer kleinere
Quelle des Mehrwerts dar. (...) Mit anderen Worten, die
Konsumgesellschaft zeigt in ganz handgreiflicher Form die
inneren Grenzen der kapitalistischen Produktion auf.“ (SiF,
120f.; vgl. VüB, 124)
Die in den siebziger Jahren beginnende
neo-konservative/-liberale Konterrevolution hatte für Marcuse
also zwei entscheidende Merkmale. Einerseits wurde sowohl die
(gewerkschaftliche) Gegenmacht der Lohnabhängigen als auch das
Aufkommen (teil-)oppositioneller, sozial-kultureller oder
sogar systemkritischer Bewegungen gegenüber dem Kapital durch
wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen massiv geschwächt
und zurückgedrängt. Flankiert wurde dies über einen
pseudo-moralischen Diskurs über den Verfall des
Leistungsprinzips, der Marktdisziplin und anderer bürgerlicher
Tugenden wie Sauberkeit, Disziplin, Ordnung, Pünktlichkeit
etc. sowie einer Kritik an dem angeblichen Aufkommen einer
unbegrenzten wie überzogenen Anspruchsmentalität der Menschen
gegenüber dem Staat und den Unternehmen. Demgegenüber wurden
unternehmerische Tugenden und allgegenwärtige Konkurrenz als
heilsames Stahlbad gegen ökonomische wie individuelle
Ineffizienz in allen gesellschaftlichen Bereichen
eingefordert, die dann, um eine entsprechende
Entsolidarisierung durchzusetzen, mit einem radikalen Abbau
von sozialstaatlichen >Wohltaten< und Bürgerrechten den
Menschen aufgenötigt wurden. Andererseits wurde mit diesem
gesellschaftspolitischen Rollback und der unmittelbaren
politischen Unterstützung des Kapitals zwecks Erhöhung seiner
nationalen/internationalen Mobilität, Konkurrenzfähigkeit etc.
und dem Erschaffen neuer Verwertungszonen versucht, die in den
siebziger Jahren offensichtlich gewordene ökonomische
Wachstumskrise (also dem Fall der Profitrate) zu begegnen.
Jedoch ist diese besondere Konterrevolution stärker –
angesichts des errichten Niveaus der Produktivkräfte, dem
>Gespenst der Automation< - als je zuvor mit dem Problem des
tendenziellen Falls der Profitrate konfrontiert, weshalb die
vermeintliche Übermacht auf Sand gebaut ist. Denn mit jeder
von der neo-konservativen/-liberalen Macht- und Kapital-Clique
angewendeten Methode zur Steigerung der Profitabilität des
Kapitals wird der langfristige Fall der Profitrate umso
heftiger beschleunigt und untergräbt durch die damit
ausgelösten Wirtschaftskrisen und sozio-ökonomischen
Verwerfungen die Legitimität und Wirksamkeit der neoliberalen
Konterrevolution.
Resümee: Befreiender Hass und präventive
Konterrevolution
„Wenn man Liebe und Gewaltlosigkeit predigt, spielt man
denen, die Hass und Gewalt praktizieren, in die Hände. Je
nachdem, wie sich die Aggressivität äußert, können ihr
unterschiedliche Triebe und >politische< Haltungen zugrunde
liegen: Der Hass auf das Böse, auf Unterdrückung und
Zerstörung, stärkt den Lebenstrieb und schwächt den
Todestrieb, die sadomasochistische Struktur. Es ist etwas
Wahres an der Auffassung, dass fast immer die falschen
Menschen, das heißt die Freiheitskämpfer, vor der Zeit sterben
(…). Adorno schreibt: >Es kann gut sein, dass unsere
Gesellschaft sich zu einem Extrem entwickelt hat, in dem die
Wirklichkeit der Liebe de facto nur noch durch den Hass auf
das Bestehende ausgedrückt werden kann, während jeder direkte
Liebesbeweis nur dazu dient, genau jene Bedingungen zu
bestätigen, die den Hass ausbrüten.< Dieser befreiende Hass
ist das Zeichen des befreiten Bewusstseins, seine Einwirkung
auf die Triebstruktur. (…) Die Welt kann nicht durch Liebe
verändert werden (…), aber sie kann durch Liebe verändert
werden, die sich in Hass verwandelt hat und die wieder zu
Liebe wird, wenn der Kampf gewonnen ist.“ (SD, 156f.)
Herbert Marcuse zeigt mit seinem leider nie explizit
ausgearbeiteten und deshalb nur bruchstückhaft vorgetragenen
Konzept der präventiven Konterrevolution auf, dass die
historisch immer prekärer werdende Expansion wie Akkumulation
des Kapitals ab einem bestimmten historischen Zeitpunkt eine
neue und auf Dauer gestellte Herrschaftsstrategie erforderte,
die nicht nur das Kapital, sondern sowohl alle Institutionen
als auch die Individuen für die ökonomische Wachstumssicherung
formieren und mobilisieren muss. Eine passive bzw. äußerliche
Subsumtion der Menschen und Institutionen unter die
Verwertungsinteressen des Kapitals ist seitdem nicht mehr
ausreichend, um das ewig gleichbleibende Hamsterrad der
Kapitalexpansion weiter am Leben zu erhalten. Das Konzept der
präventiven Konterrevolution wendet sich damit gegen die
Vorstellung, dass das Kapital ein automatischer Selbstläufer
ist, der sich unendlich weiterreproduziert und nicht mehr
infrage gestellt wird, sofern sich die Gesellschaft einmal
unter der Herrschaft des Kapitals vollständig subsumiert hat,
indem alle vorbürgerlichen wie vorkapitalistischen
Produktions- und Lebensbedingungen zerstört wurden. So bedarf
das Kapital und die bürgerliche Gesellschaft für Marcuse zur
Selbstentfaltung und Selbsterhaltung ihrer selbst willen eine
auf Dauer gestellte soziale, kulturelle, wissenschaftliche,
politische, psychologische Mobilisierung und Anpassungs-,
Reorganisationstechnik der Individuen und der
gesellschaftlichen Institutionen, die zusammen die Gestalt
historisch besonderer Konterrevolutionen annehmen, die sich
stets aus einer Mixtur aus zufälligem, blindem und geplantem
Handeln ergeben.
Das Konzept der Konterrevolution ist für Marcuse
allerdings keine fertige Schablone, die sich ahistorisch über
die bürgerliche Gesellschaft stülpen lässt, sondern ist ein
Erklärungsansatz, der den jeweiligen historisch zu
konkretisierenden Stand der Kapitalakkumulation
(Kapitalformen, Produktionszweige, Produktivkräfte,
geschaffenen Bedürfnissen usw.), der politikökonomischen
Institutionen, politische Kräfteverhältnisse (Parteien,
Gewerkschaften, Bewegungen, Staatsform etc.) sowie die
sozial-kulturelle und psychologische Formierung und
Indoktrinierung der Individuen (Medien, Ideologie,
Wissenschaft, Erziehungs- und Bildungssystem usw.),
einschließlich ihrer aufgenötigten Bedürfnisstruktur,
berücksichtigt. Die jeweils historisch zu konkretisierende
präventive Konterrevolution dient allerdings nur dem Zweck,
die sukzessiv schwieriger werdende Expansionsfähigkeit des
Kapitals - wegen des sich durchsetzenden tendenziellen Falls
der Profitrate und den aus der kapitalistischen Entwicklung
entspringenden Widersprüchen - zu sichern und zu fördern, um
so auch jede wirksame und systemtranszendierende Opposition zu
verhindern bzw. einzudämmen.
Die Kategorien des Kapitals sind
für Marcuse stets historisch sich entwickelnde und zu
erklärende Formen, weshalb eine ahistorische wie
strukturalistische Untersuchung nicht mit seinem Ansatz der
präventiven Konterrevolution vereinbar ist. Es gibt daher kein
vorgefertigtes und alles umfassendes Modell der
Konterrevolution, dies würde dem widersprüchlichen und
politischen Entwicklungscharakter des Kapitals als
unmittelbarer Einheit von Politik und Ökonomie gänzlich
widersprechen. Die historisch konkreten Konterrevolutionen
unterscheiden sich deshalb immer auf der >Ebene< des Standes
der Verwertungs- und Krisenlage des Kapitals einerseits, der
ideologischen, politischen, psychologischen, kulturellen
Praxis sowohl der Gesellschaft als auch der Individuen (und
ihren Bedürfnissen) andererseits.
Der gemeinsame Nenner der verschiedenen Arten der
Konterrevolutionen liegt für Marcuse in der säkularen
historischen Entwicklung des Kapitals selbst, die sich darin
äußert, dass es für die kapitalistische Gesellschaftsform im
historischen Verlauf und mit dem Anwachsen des
kapitalistischen Reichtums und der Entfaltung der
Produktivkräfte stetig schwieriger wird, sich erfolgreich zu
reproduzieren. Dies ist das Resultat der inneren Schranke des
Kapitals, da es die lebendige und wertsetzende Arbeit durch
eine stetig wachsende Maschinerie (Automatisierung der
Produktion) ersetzen muss, die sich im tendenziellen Fall der
Profitrate ausdrückt. Diese säkulare Entwicklungstendenz des
Kapitals kann im Einzelnen nicht prognostiziert werden, da die
Kapitalakkumulation selbst ein unmittelbar durch politische
Kämpfe konstituiertes Formverhältnis darstellt, die sich um
die Arbeits- und Lebensbedingungen bzw. um die Sicherung der
Kapitalakkumulation drehen. Jedoch lässt sich prognostizieren,
dass sich mit jedem Akkumulationserfolg des Kapitals der
langfristige Fall der Profitrate umso stärker beschleunigt und
damit die ökonomische Wachstumskrise des Kapitals weiter
verschärft wird. Für Marcuse ist dieser kapitalistische
Entwicklungsprozess in der ökonomischen Form des Kapitals
selbst angelegt und diesem kann es nicht entkommen. Das
Kapital als besondere historisch ökonomische Form muss daher
in dem Moment, wo es sich restlos verwirklicht, entwickelt und
vervollkommnet hat, in sich zusammenbrechen. Bis dahin werden
regionale und internationale ökonomische Krisen, Verwerfungen,
Instabilitäten, Unbeständigkeiten und politische Konflikte,
soziale und ökologische Katastrophen sowie kriegerische
Auseinandersetzungen bzw. deren Androhungen, aber auch der
Kampf um Absatzmärkte, Ressourcen, Transportwege und billigere
Arbeitskräfte kontinuierlich zunehmen. Die kapitalistische
Weltordnung wird daher in ihrem weiteren historischen Verlauf
zwangsläufig und im wachsenden Maße noch größere barbarische
Züge als bisher annehmen. Und dies wird die Grundlage für die
zunehmend rücksichtsloseren Versuche der präventiven
Konterrevolution sein, neue Wachstumsstrategien für das
Kapital aus dem Boden zu stampfen. Wer angesichts der noch
bestehenden Übermacht der kapitalistischen Ordnung und der
offensichtlichen Ohnmacht der Opposition noch nicht völlig
apathisch und gleichgültig gegenüber dem Zustand der Welt
geworden ist, wird, wie es Marcuse sah, einen ganz gewaltigen,
aber einen befreienden und lebensbejahenden Hass entfalten.
Diese Aggressivität „darf nicht unterdrückt, sondern muss
gegen den wirklichen Feind gerichtet werden, gegen die
konkreten und sichtbaren Verkörperungen des kapitalistischen
Systems, gegen seine Lakaien wie auch seine Herren in der
Regierung, der Industrie, der Armee, den Universitäten, den
Kirchen usw. Aber solche Aktionen dürfen nicht die analen
Charakterzüge und nicht die Grausamkeit und den Zynismus
aufweisen, die das Vorrecht des Establishments sind.“ (SD,
159f.)
Literatur
Abkürzungen für die verwendete Literatur von
Herbert Marcuse:
AI: Aggressivität in der gegenwärtigen
Industriegesellschaft, in: Marcuse H./ Rapoport, A. (Hg):
Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft; 1972,
Frankfurt a. M.
EFT: Einige gesellschaftliche Folgen moderner
Technologie; in: Horkheimer, M./ Pollock, F. u.a. (Hg):
Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, 1981,
Frankfurt a. M.
EM: Der eindimensionale Mensch; 1985, Darmstadt/Neuwied
FD: Feindanalysen. Über die Deutschen; 1998, Lüneburg
KuR: Konterrevolution und Revolte; 1973, Frankfurt a.
M.
PP: Philosophie und Psychoanalyse (nachgelassene
Schriften); 2002, Lüneburg
PuPo: Psychoanalyse und Politik; 1980, Frankfurt a. M.
ReTo: Repressive Toleranz; in: Wolff, R. P./Barrington,
M./Marcuse, H. (Hg): Kritik der reinen Toleranz, 1967,
Frankfurt a. M.
TuG: Triebstruktur und Gesellschaft; 1984, Frankfurt a.
M.
SD: Das Schicksal der bürgerlichen Gesellschaft
(nachgelassene Schriften); 1999, Lüneburg
SiF: Die Studentenbewegung und ihre Folgen
(nachgelassene Schriften); 2004, Lüneburg
ÜB: Über Bahro, den Protosozialismus und den
Spätkapitalismus; 1978, in: Kritik. Zeitschrift für
sozialistische Diskussion, Nr. 19
VR: Vernunft und Revolution; 1985, Darmstadt/Neuwied
VüB: Versuch über die Befreiung; 1980, Frankfurt a. M.
ZM: Zeit-Messungen; 1975, Frankfurt a. M.
Weitere Literatur:
Girschner, Christian 2006: Ökonomismus und
Funktionalismus. Eine Kritik an der Regulationstheorie von J.
Hirsch; in: trend onlinezeitung, Dezember
Hirsch, Joachim 1986: Das neue Gesicht des
Kapitalismus; Hamburg
Ders. 1995: Der nationale Wettbewerbsstaat; Berlin
Ders. 2005: Materialistische Staatstheorie; Hamburg
Ders. 2009: Weltwirtschaftskrise 2.0 oder der
Zusammenbruch des neoliberalen Finanzkapitalismus; in:
Zeitschrift für kritische Theorie 28-29
Roth, Rainer 1985: Rebellische Subjektivität. Herbert
Marcuse und die neuen Protestbewegungen; Frankfurt M./New York
1)
Angesichts der Weltwirtschaftskrise räumt Hirsch
derzeit ein, dass der „Postfordismus der Vergangenheit“
angehört, denn es wäre „nun deutlicher geworden“, dass der
„Begriff >Postfordismus< (…) eher eine Hilfsbezeichnung (war)“
(Hirsch 2009, 182f.). Nachdem Hirsch seit rund 25 Jahren in
etlichen Aufsätzen und Büchern über die >Krise des Fordismus<
bzw. die Herausbildung eines neuen postfordistischen
Akkumulationsmodells geschrieben hat, fällt ihm plötzlich auf,
dass es „nicht ganz leicht zu erkennen (ist), mit welchem
Kapitalismus man es gerade zu tun hat“ (ebd.). Entsprechend
willkürlich oder flexibel hat der Autor seine
Kapitalismusperiodisierung in seinen zahlreichen
Veröffentlichungen vorgetragen. So heißt es 1986: „Mit der
ökonomischen Rezession Mitte der siebziger Jahre ist die Krise
der fordistischen Formation unübersehbar geworden.“ (Hirsch
1986, 78; ebenso noch: Ders. 1995, 83) Dagegen wird 2005 von
Hirsch verkündet, dass die Krise des Fordismus vorüber sei und
durch die „Existenz einer spezifischen postfordistischen
Formation des Kapitalismus“ abgelöst wurde, wann dies
geschehen sei, darüber schwieg damals der Verfasser. Heute
geht Hirsch unerwartet davon aus, dass der Fordismus „bis
Mitte der siebziger Jahre“ währte, um dann nach seiner Krise
durch den Postfordismus ersetzt zu werden, der „etwas über
dreißig Jahre“ andauerte (Hirsch 2009, 182). Demzufolge
existiert seit Ende der siebziger Jahre der Postfordismus als
ein neues Akkumulationsregime, obwohl der Autor noch in den
achtziger und neunziger Jahren beständig über die anhaltende
Krise des Fordismus bzw. über die irgendwie sich abzeichnende
Herausbildung eines Postfordismus fabulierte, der sich
angesichts der anhaltenden säkularen Wachstumsschwäche des
Kapitals nicht richtig herausbilden wollte. Schon dieser
Überblick verdeutlicht die relativ beliebige Periodisierung
des Kapitalismus durch die Regulationstheorie. Besitzt diese
nach Gutdünken vorgenommene Periodisierung mehr als nur einen
banalen Erkenntniswert? Ist diese Periodisierungsunterteilung
wirklich mehr als nur ein akademisches Glasperlenspiel? Und
was für ein Akkumulationsmodell folgt wohl nach dem Ende des
Postfordismus? Vielleicht ein Neo-Post-Fordismus? Lassen wir
uns überraschen. Denn nach der Regulationstheorie geht es ja
mit dem Kapitalismus immer munter weiter. Aber Hirsch räumt im
Augenblick ein: „Der Kapitalismus steht tatsächlich vor einem
GAU. Dessen Folgen könnten, was die politischen Verhältnisse
angeht, mehr als desaströs sein.“ (ebd., 186) Entsprechend
spricht Hirsch nicht mehr von einer Durchsetzung eines neuen
Akkumulationsmodells, sondern davon, „dass der
staatsmonopolistische Kapitalismus, die enge Verbindung von
Staat und Kapital, zwecks Sicherung des Profits weiter
ausgebaut wird und festere institutionelle Strukturen
bekommt.“ (ebd.) Wird damit die Regulationstheorie von Hirsch
nun verworfen?
2)
„Das Individuum“, schreibt Marcuse an anderer Stelle,
„reproduziert in seinem Tiefsten, in seiner Triebstruktur, die
Wertungen und Verhaltensweisen, die der Aufrechterhaltung der
Herrschaft dienen, während die Herrschaft immer weniger
autonom, immer weniger >persönlich<, immer objektiver und
allgemeiner wird. Was eigentlich herrscht, ist der zur
unteilbaren Einheit gewordene ökonomische, politische und
kulturelle Apparat, den die gesellschaftliche Arbeit aufgebaut
hat.“ (PuPo, 9; vgl. TuG, 48ff.)
Editorische
Anmerkungen
Den Artikel
erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.
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