Betrieb & Gewerkschaft
Tabakarbeiter in der Türkei streiken
Sitzblockaden, Protestmärsche, Hungerstreiks: Tabakarbeiter
in der Türkei kämpfen
seit Monaten um den Erhalt ihrer Jobs
von Nick Brauns |
01/10
trend
onlinezeitung |
In der Türkei weitet sich ein
Arbeitskampf von Tabakarbeiter zu einem gemeinsamen türkisch-
kurdischen Klassenkampf von strategischer Bedeutung für die
türkische Republik aus. Wurde der Streik der Tekel-Arbeiter am
Anfang noch von rechten und nationalistischen Parteien und
Gewerkschaftsgruppen dominiert, entwickelt sich der Streik in
den letzten Tagen zu einem solidarischen Gemeinsamen Kampf der
türkischen und kurdischen Arbeiterklasse. Der Gouveneur von
Ankara hat eine für heute geplante Grossdemonstration mit über
10 000 erwarteten Teilnehmern wegen zu erwartenen
"Verkehrsbeeinträchtigungen" verboten und auf Sonntag verlegt.
Mustafa Türkel ist sich sicher:
»Diese Regierung versteht nur Härte.« Mit der
Feststellung kündigte der Vorsitzende der
türkischen Lebensmittelarbeitergewerkschaft Tek Gida-Is neue
Kampfmaßnahmen zu Beginn des zweiten
Protestmonats von Tausenden Beschäftigten des staatlichen
Tabakmonopols Tekel an. Am gestrigen Freitag begannen Arbeiter
des Unternehmens einen dreitägigen Sitzstreik vor der Zentrale
des Gewerkschaftsdachverbandes Türk-Is in Ankara.
Anschließend wollen sie in einen dreitägigen
Hungerstreik treten. Lenkt die
Regierung dann immer noch nicht ein, drohen sie,
den Hungerstreik unbefristet
fortzusetzen. »Lieber Tod als Kapitulation«,
rufen sie und bejubelten die Forderung
von Sami Evren nach einem Generalstreik. Der
solle nach Willen des Vorsitzenden der
Dienstleisungsgewerkschaft KESK von allen
Verbänden gemeinsam organisiert werden.
12000 Stellen bedroht
Nach dem Verkauf der Tabakproduktion an den
Lucky-Strike-Produzenten
British-American-Tobacco im Jahr 2006 will die
islamisch-konservative AKP-Regierung
von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan 2010
alle noch in staatlicher Hand
befindlichen Tekel-Lager- und Produktionsstätten
schließen. Damit droht rund 12000
Arbeitern der Verlust ihres Jobs oder die
Überführung in eine elfmonatige Kurzarbeit
mit über einem Drittel Lohneinbußen und dem
Verlust aller erworbenen sozialen
Rechte.
Rund 1300 Arbeiter kampierten seit Mitte Dezember in
einem Stadtpark und später bei
Gastfamilien. Sie versammeln sich tagsüber zu
Kundgebungen vor der Türk-Is-Zentrale.
Die Solidarität der Bevölkerung ist groß.
Anhänger der linksalternativen Partei für
Freiheit und Solidarität (ÖDP) und der
sozialdemokratischen Volkshäuser organisieren
das tägliche Frühstück für die Streikenden.
Hausfrauen bringen Tee und frisches
Börek, eine Familie schlachtete sogar ein Lamm.
Längst sind die Proteste zu einem
Fanal für alle unter der neoliberalen
Regierungspolitik leidenden Teile der
Bevölkerung geworden. Feuerwehrleute, Eisenbahner und
andere Staatsangestellte haben
Solidaritätsstreiks durchgeführt.
Zu Beginn der Proteste Mitte Dezember hatten
Spezialeinheiten der Polizei die
Tekel-Arbeiter mit Pfefferspray und
Wasserwerfern attackiert. Es gab Verletzte,
einem Betroffenen droht bleibende Lähmung. Auch
in der vergangenen Woche nahm die
Polizei Dutzende Menschen vorübergehend fest –
nachdem über 8000 Tekel-Beschäftigte
in einer landesweiten Urabstimmung nahezu
einstimmig für die Fortsetzung ihrer
Kampfaktionen votiert hatten.
Für den heutigen Sonnabend hatte der Dachverband
Türk-Is eine landesweite
»Demonstration für Brot, Frieden, Freiheit,
Demokratie und Recht« in der Innenstadt
von Ankara geplant. Auch die linksgerichteten
Gewerkschaftsverbände DISK und KESK
riefen dazu auf. Doch aus »allgemeinen
Sicherheitserwägungen« verbot der Gouverneur
von Ankara diese Kundgebung und erzwang eine
Verschiebung auf Sonntag – wenn viele
der aus entfernten Landesteilen angereisten
Gewerkschafter bereits wieder auf dem
Heimweg sein werden. Der Massenaufmarsch würde
den Straßenverkehr zum Erliegen
bringen und den Umsatz der Geschäfte sinken
lassen, führt Gouverneur Kemal Önal
seine »Sicherheitsbedenken« gegenüber einer
Gruppe ausländischer Gewerkschafter aus,
die ihm eine Protestresolution überreicht
hatten. Im Übrigen sei die ganze, seit
einem Monat stattfindende, Kundgebung vor der
Gewerkschaftszentrale illegal.
Nationalismus verbannt
Zu Beginn ihrer Proteste skandierten die Tekel-Arbeiter
noch die nationalistische
Parole »Unser Kampf für Brot –unsere Liebe
Türkei«. Inzwischen sind solche Slogans
weitgehend der Losung »Für die Brüderlichkeit
der Völker« gewichen. Gemeint sind die
Völker der Türkei. Die Hälfte der
Tekel-Belegschaft stammt aus den kurdischen
Landesteilen. Auf einem Transparent am
Gewerkschaftshaus stehen die Namen dortiger
Betriebsstandorte wie Diyarbakir und Mus neben
westtürkischen wie Izmir und
Istanbul. Viele der immer wieder Halay tanzenden
Arbeiter tragen selbstbewußt ihre
Pusus – traditionelle schwarz-weiß gemusterte kurdische
Tücher, wie sie auch die
Guerilla in den Bergen hat. In der Westtürkei
war es in der letzten Zeit mehrfach zu
Lynchversuchen an Arbeitern gekommen, die sich
so demonstrativ zu ihrer kurdischen
Herkunft bekannt hatten. Der Erste Vorsitzende
der Gewerkschaft Tek Gida-Is gehörte
früher einer nationalistisch orientierten Bewegung an,
sein Stellvertreter stammt
aus Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt
Kurdistans, und spricht mit deutlichem
kurdischen Akzent. Er betont, daß die
Tekel-Arbeiter auch Vertretern der linken
kurdischen Partei für Frieden und Demokratie im
Parlament besucht hätten. »Unser
gemeinsamer türkisch-kurdischer Kampf überwindet
den Chauvinismus«, sagt ein für die
Arbeit in den kurdischen Landesteilen
zuständiger Gewerkschaftssekretär. Und ein
Arbeiter vom Schwarzen Meer, der der Minderheit
der Lasen angehört, erklärt: »Unser
gemeinsamer Kampf ist die wahre demokratische
Öffnung der Türkei«. Damit spielt er
auf die von der Regierung im vergangenen Jahr
vollmundig versprochene »demokratische
Öffnung« an, auf die bislang keine Taten
folgten. Eine immer wieder skandierte
Parole der Tekel-Beschäftigten lautet: »Keiner
oder alle. Alles oder nichts. Einer
kann sich da nicht retten. Gewehre oder Ketten. Keiner
oder alle. Alles oder
nichts.« Bertolt Brecht würde sich freuen.
Editorische
Anmerkungen
Den Artikel
spiegelten wir von Indymedia, wo er am 16.1.2010
erschien.
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