Die Hamburger Schulreform
Der Klassenkampf der reichen Eltern in Hamburg

von Andreas Kemper

01/10

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Seit einigen Wochen proben die Eltern aus den reichen Stadtvierteln Hamburgs den Aufstand. Sie wollen eine Schulreform durch einen Volksentscheid verhindern.

Mit der schwarz-grünen Regierung sollen in Hamburg die vierjährige Grundschule und die daran anschließenden Hauptschulen, Realschule und Gymnasien ersetzt werden durch eine sechsjährige Primarschulen und daran anschließende Stadtteilschulen bzw. Gymnasien. Die Stadtteilschulen gehen bis zur zehnten Klasse, hieran anschließend kann man eine dreijährige Oberstufe besuchen, die zur Allgemeinen Hochschulreife führt. Die Gymnasien sollen schon nach der zwölften Klasse zum Abitur führen.

Weitere Reformvorhaben bestehen in der Abschaffung des Sitzenbleibens und der Abschulung. Zudem wird das Elternwahlrecht abgeschafft. Stattdessen soll eine Zeugniskonferenz über den weiteren Schulweg der Kinder entscheiden.
Am 1.10.2010 soll diese Reform umgesetzt werden. Dies ist ein Zugeständnis, welches die CDU ihrem Juniorpartner Bündnis 90/DIE GRÜNEN, gemacht hat.

Der Aufstand aus den privilegierten Vierteln

Gegen dieses Reformprojekt organisierte sich die Organisation „Wir wollen lernen“. Sie wollen die Beibehaltung der sozialen Selektion nach der vierten Klasse und die Beibehaltung des Elternwahlrechts.

Bei einem Volksbegehren erreichte die Initiative nicht nur das Quorum von 64.000 Stimmen, welches nun einen Volksentscheid einleitet, sondern sie überschritten diese Minimalgrenze um das Doppelte: 184.500 Stimmen.

Für das Stimmensammeln wurden laut taz Studenten angestellt. Gleich mehrere privat geführte Einkaufszentren erlaubten nur das Sammeln von Stimmen gegen die Reform. Befürworter der Schulreform durften jedoch keine Stände aufbauen oder Flugblätter verteilen.

Als vor einigen Jahren in Münster erstmals eine rot-grüne Mehrheit in der Münsteraner Innenstadt – in der nur Gymnasien gibt – eine Gesamtschule einrichten wollte, gab es ähnlichen Widerstand aus den bürgerlichen Kreisen. In den meisten Geschäften der reichen münsteraner Innenstadt lagen Unterschriftenformulare der Gesamtschul-GegnerInnen aus und schließlich wurde die Gesamtschule durch einen Volksentscheid verhindert.


Exkurs: Hintergrund zu Lehrer- versus Elternentscheidungen aus IGLU-Studie 2006

Mindestpunktzahl (Lesekompetenz) für den Übergang zum Gymnasium nach Ansicht …
(Werte von 2001 in Klammern)
 
  … der Lehrer der Kinder … der Eltern der Kinder
Kinder aus der
oberen Dienstklasse
537 (551) 498 (530)
Kinder von un- und
angelernter Arbeitern und
Landarbeitern
614 (601) 606 (595)

(Handreichung zur IGLU 2006-Pressekonferenz
Download am 28. Dezember 2007)

Erläuterung:
Kinder der vierten Klasse brauchen für eine Gymnasialempfehlung durch die LehrerInnen 537 Punkte, wenn sie Kinder aus der oberen Dienstklasse sind. Sie brauchen aber 614 Punkte, wenn ihre Eltern ungelernte ArbeiterInnen sind. Die Eltern aus den oberen Dienstklassen würden ihre Kinder mit einem Wert von 498 Punkten auf ein Gymnasium schicken und damit weit unter dem Schwellenwert der LehrerInnen. Auch ungelernte Arbeiter würden ihre Kinder eher aufs Gymnasium schicken, als dies LehrerInnen empfehlen würden (606 versus 614 erbrachte Punkte). Aber zum einen ist dieser Wert näher am LehrerInnen-Wert und zum anderen richten sich ArbeiterInnen oft nach Lehrerempfehlungen, während Eltern aus den sogenannten „besseren Kreisen“ sich oftmals über Lehrerempfehlungen hinwegsetzen.

„Wir wollen lernen“ ist eine Klassenkampforganisation

Unter den fünf „Vertrauensleuten“ der Organisation befinden sich drei Rechtsanwälte. Zu den Unterstützern der Organisation gehören diverse Schul- und Elternräte, die Junge Union, der Deutsche Lehrerverband und der Verband Deutscher Realschullehrer (Hamburg).

Der Deutsche Lehrerverband ist eine Organisation von LehrerInnen außerhalb des DGB und hat wesentlich weniger Mitglieder als die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaften (GEW). Bekannt ist der Deutsche Lehrerverband vor allem durch die Veröffentlichungen ihres Präsidenten Josef Kraus, der notorisch den Bildungsforschungsergebnissen widerspricht, die eine Abschaffung der frühen sozialen Aufteilung im Schulsystem nahe legen. Der Deutsche Lehrerverband, der Verband Deutscher Realschullehrer und der Deutsche Philologenverband sind ständische Interessensorganisationen von Real- und vor allem GymnasiallehrerInnen, die sich gegen eine Schulstrukturänderung aussprechen, die von der sehr viel größeren GEW allerdings als Notwendigkeit eingestuft wird.

Neben den konservativen Lehrerverbänden sind es vor allem Eltern aus den „feinen Stadtvierteln“ Hamburgs, die die Privilegien für ihre Kinder sichern und damit die Benachteiligung von Nicht-Akademikerkindern fortführen wollen. Was sich hier zeigt, ist ein Klassenkampf von oben. In Berlin finden ähnliche Kämpfe statt. So äußerte sich der Elternsprechr André Schindler auf einer Veranstaltung mit den Worten: „Wir Eltern werden Wege finden, unsere Kinder aufs Gymnasium zu bringen. Denn es gibt Tricks, die werden wir nutzen – ganz egal was Sie machen.“ In diesen Kämpfen vor ort wird die Bildungspolitik durchgesetzt. Es ist also nicht so, dass die Bildungspolitik nach den Kapital-Interessen der Wirtschaft ausgerichtet ist. Sie steht sogar im Widerspruch zu diesen Interessen, da sich die klassenspezifischen Interessen der reichen Eltern nicht unbedingt mit den Kapital-Interessen der Wirtschaft decken und in diesem Interessenskonflikt sind die Eltern mächtiger als die Unternehmensverbände.
Diverse Studien bestätigen das zunehmende Verlangen der Eltern aus den Mittel- und Unterschichten, sich von unteren Schichten abzugrenzen. Selbst eine Studie der konservativen Konrad-Adenauer-Stiftung spricht davon, dass wir auf „dem Weg in eine Klassengesellschaft“ seien. Es liegt nicht zuletzt am Engagement von uns Arbeiterkindern, Nicht-Akademikerkindern, die Diskriminierungen im Bildungssystem zu stoppen.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz erschien in: Dishwasher No 1 Magazin für studierende Arbeiterkinder

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