Tunesien: Militante Proteste erreichen die Hauptstadt Tunis und Touristenorte
Das Regime antwortet mit Zuckerbrot & Peitsche - Frankreich bietet Polizeihilfe an

von
Bernard Schmid

01/11

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Zuckerbrot und Peitsche: Am Montag war Tunesiens Präsident Zine ben Abidine Ben Ali im Fernsehen aufgetreten und hatte angekündigt, angeblich „300.000 Arbeitsplätze“ innerhalb von knapp zwei Jahren zu schaffen - aber auch „Terroristen im Solde des Auslands“ (gemeint waren militante jugendliche Demonstranten) hart zu sanktionieren. Am gestrigen Mittwoch nun feuerte er seinen Innenminister, Rafik Belhadj Kacem - und ernannte seinen Amtsnachfolger Ahmed Friaa -, dabei die Freilassung aller in der vergangenen Woche festgenommenen Protestierer ankündigend. Gleichzeitig aber nahm die tunesische Diktatur einen ihrer prominentesten politischen Opponenten fest, den Journalisten und früheren Direktor der Zeitung ,Al-Badil’ (Die Alternative) Hamma Hammami. Letzterer ist der Sprecher der „Kommunistischen Werktätigenpartei Tunesiens“ PCOT, über die man denken kann, was man möchte - die Partei war früher maoistisch und pro-albanisch ausgerichtet und hat heute ein eher vage demokratisch-marxistisches Profil -, die aber zu den wichtigsten Oppositionskräften im tunesischen Polizeistaat gehört.

Über die Hauptstadt Tunis und ihre - ärmeren - Vororte wurde eine Ausgangssperre ab 19 Uhr täglich verhängt. Dennoch fanden gestern Abend zu circa zweistündigen Straßenkämpfen in der Vorstadtzone westlich von Tunis statt. Vor dem Theater von Tunis kam es am Dienstag zu Handgreiflichkeiten von Polizisten gegen eine Künstlerdemonstration, die sich dort zu sammeln versuchte, aber auseinandergejagt wurde. Am gestrigen Mittwoch wurden aus Städten des tunesischen Südens - Douz, Kebili und Gabès - 8 bis 10 Tote durch polizeilichen Schusswaffeneinsatz vermeldet. Dabei starb auch ein französisch-tunesischer Doppelstaatsbürger, Lehrer in Compiègne (rund 50 Kilometer nördlich von Paris), der an einer technischen Hochschule in Frankreich unterrichtete und eine Kugel in den Kopfel erhielt. In der Küstenstadt Sfax kam es zu zahlreichen Verletzten. Inzwischen hat die Revolte und „die Gewalt“ (die, wie die internationale Presse oft ungenügend präzisiert, in massivster Form von der Staatsmacht ausgeht) auch die tunesischen Touristenstädte erreicht. Im Badeort El-Hammamet, dessen Name wörtlich ,Die Bäder’ bedeutet, wurden schwere Zusammenstöße mit der Polizei vermeldet.

Am morgigen Freitag ist ein Generalstreik anberaumt, zu welchem mehrere gewerkschaftliche Strukturen aufrufen. Fünf Branchenverbände innerhalb des Dachverbands UGTT - dessen Spitze unter Kontrolle des korrupten Polizeistaatsregimes steht - sind auf oppositioneller Linie und rufen zu Aktivitäten in Solidarität mit der Jugendrevolte und gegen die mafiöse Ben Ali-Clique an der Macht auf. Unterdessen verweigerte zumindest ein Teil der Armee (die in Tunesien gegenüber den fast allmächtigen Polizeiorganen eher vernachlässigt blieb) ihre Mitwirkung bei der Repression. Anfang der Woche entließ Ben Ali deswegen ihren Generalstabs-Chef und tauschte ihnen gegen den bisherigen Leiter des militärischen Nachrichtendiensts aus.

Vollauf wohl ist Präsident Ben Ali offenkundig nicht mehr bei der Sache. Gestern wurde bekannt, dass er seine näheren Familienmitglieder alle bereits ins Ausland geschickt hat. Seine drei Töchter und deren Ehemänner - darunter das korrupte Schwein, pardon, der Milliardär Sakhr el-Materei - flohen inzwischen nach Kanada. Gerüchten zufolge soll bereits ein Flugzeug für Ben Ali selbst bereit stehen, dessen nähere Absichten allerdings noch unklar bleiben. Noch fällt es vielen Tunesiern schwer zu glauben, dass der seit November 1987 ununterbrochen amtierende (und mehrfach mit über 90 % der Stimmen „wiedergewählte“) Präsident wirklich den Abgang machen könnte.

Frankreich bietet Polizeihilfe an

Unterdessen erklärte die französische Außenministerin Michèle Alliot-Marie am Dienstag Nachmittag gegen 16.30 Uhr in der Nationalversammlung in Paris, Tunesien (und Algerien) „polizeiliches Know-How“ anzubieten. Dieses könnte es den - in ihren Augen überforderten - Polizeien beider Länder erlauben, „sowohl die Sicherheit als auch das Demonstrationsrecht zu gewährleisten“. Tunesische Migrantenvereine in Frankreich haben am heutigen Donnerstag auf diesen Hohn in zwei Kommuniqués geantwortet.

Die Rolle der neuen Informations- & Kommunikationstechnologien

Behaupte noch mal jemand, was sich in der virtuellen Welt des Internet abspiele, habe überhaupt keinen Einfluss auf das „wirkliche Leben“ in der Gesellschaft. Jedenfalls in Ländern wie Tunesien, wo nahezu sämtliche Informationen nur zensiert zu erhalten sind, spielen die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien mitunter eine zentrale Rolle für kollektives soziales Handeln. Helfen sie doch dabei, die Zensur und den allgegenwärtigen offiziellen Meinungsfilter zu umgehen und sich – etwa über Facebook und anderen „soziale Netzwerke“ – auszutauschen. Zumindest, bis die Repression dann auch gegen die Akteure auf diesen neuartigen Kampffeldern zuschlägt.

Internet und Facebook waren tatsächlich wichtige Hilfsmittel für die massive Jugend- und Sozialprotestbewegung, die sich in den letzten drei Wochen in Tunesien formierte. Das Ziel erschöpfte sich dabei allerdings keineswegs darin, sich zum Plausch im Netz zu verabreden oder empörte Protestresolutionen on-line zu stellen und es dabei bewenden zu lassen. Vielmehr dienen das Internet und damit zusammenhängende Technologien lediglich als Mittel zu dem Zweck, sich zu verabreden und gemeinsame Aktionen auberhalb des virtuellen Raums zu unternehmen: Streiks von Schülern und Studierenden, kollektive Arbeitsniederlegungen von Anwälten, Demonstrationen, Besetzungen.

Auslöser der Revolte, die Tunesien in diesem Ausmab seit einem Generalstreik in den Jahren 1977/78 nicht erlebt hat – die letzte breite soziale Protestbewegung im Juni 2008 erfasste vor allem das Bergbaubecken von Gafsa – war der Selbstmord eines jungen Prekären. Am 17. Dezember übergoss sich der 26jährige Mohammed Bouazizi in der 40.000 Einwohner zählenden zentraltunesischen Stadt Sidi Bouzid mit einer brennbaren Flüssigkeit, Terpentin, und zündete sich an. Voraus gingen zahlreiche Schikanen durch die örtliche Polizei. Beim letzten Mal hatte eine Polizistin den jungen Mann, der Abitur hat, aber sein Leben durch „illegalen“ Gemüseverkauf auf dem Markt fristen musste, angespuckt. Bouazizi wollte sich auf dem Polizeipräsidium beschweren, wo man ihn zum Teufel schickte. Daraufhin beging er vor den Türen des Gebäudes seine Verzweiflungstat.

Eine „verlorene Generation“

Doch Mohamed Bouazizi war nicht allein das Opfer polizeilicher Schikanen. Er wurde auch zum Sinnbild einer „verlorenen Generation“, einer Jugend mit Schul- und oft Hochschul-Abschlüssen, aber ohne Chancen auf einen halbwegs erträglichen Job. Die Gründe dafür liegen darin, dass in den ultrakorrupten Strukturen Tunesiens – wie auch der Nachbarländer, vor allem Marokkos – qualifizierte Stellen heute nur dank familiärer Beziehungen und aufgrund persönlicher Loyalitäts- und Abhängigkeitsverhältnisse zu erlangen sind. Hoch qualifizierte junge Leute, die nicht in das Raster solcher Beziehungen passen, werden durch die Machthaber als Gefahr empfunden. Zudem hat besonders Tunesien auf ein Modell wirtschaftlicher Entwicklung gesetzt, das extrem von äuberer Nachfrage und vor allem dem EU-Binnenmarkt abhängig ist. „Wachstumsmotoren“ sind einerseits der Dienstleistungssektor und dabei vor allem der Tourismus, andererseits Zuliefererindustrien, die aus Europa ausgelagert Handlangertätigkeiten übernehmen. Dazu zählen die Textil- und periphere Teile der Automobilindustrie, wie die Herstellung von Autoteppichen und vergleichbarem Zubehör. Solche Branchen verlangen nach Arbeitskräften, aber eher nach „gering qualifizierten“. Hingegen hat das tunesische Schul- und Hochschulwesen beispielsweise viele Hotelfachkräfte ausgebildet, die jedoch oftmals keine Arbeitsplätze finden, weil der Boomsektor des Tourismus in den Händen einflussreicher Familien konzentriert ist.

Offiziell beträgt die – weit untertriebene – Arbeitslosenrate in Tunesien etwa 14 Prozent, doch beiden unter30jährigen sind es demnach 30 Prozent. Unter den Hochschulabgängern sind es offiziell etwa 22 Prozent, gegenüber 10 Prozent im Jahr 2000. Die reale Quote liegt weit höher und wird auf über 35 Prozent geschätzt. Im sämtlichen Maghreb-Ländern ist die soziale Figur des diplômé chômeur, des Arbeitslosen mit Diplom, eine sprichwörtliche Erscheinung geworden. In Marokko, wo auch in den offiziellen Statistiken die Erwerbslosenrate mit steigenden Schulabschlüssen klettert und nicht fällt, gibt es seit nunmehr zehn Jahren eine organisierte und fest strukturierte „Bewegung der diplômés chômeurs“. Dagegen konnte das Elend dieser Generation im Polizeistaat Tunesien, wo fast jede politische oder soziale Lebensregung erstickt wird, bislang keinen solchen Ausdruck finden.

Umso heftiger fiel nun die Explosion aus. Dass sie vom vernachlässigten Landesinneren – das gegenüber den etwas besser gestellten Küstenregionen systematisch „vergessen“ und übergangen wird – ausging, nimmt dabei kein Wunder. In Sidi Bouzid ist die Rede von 48 Prozent Arbeitslosigkeit – und 60 Prozent in der jüngeren Generation.

Tunesien: ein mieser kleiner Polizeistaat am Mittelmeer

Die Schwestern und Brüder von Mohamed Bouazizi haben Hochschulabschlüsse und dennoch keinen Job. Er selbst besitzt „nur“ das Abitur, womit er allerdings bereits einen höheren Bildungsabschluss aufweist als der Präsident: Der 74jährige Zine Abidine Ben Ali verfügt über keinerlei Diplom, auch kein Abitur. Das Einzige, was er im Leben gelernt hat, ist Repression: Seine Laufbahn führte über die Positionen eines hohen Polizeifunktionärs, eines bei französischen und US-amerikanischen Nachrichtendiensten ausgebildeten „Superbullen“ und das Amt des Innenministers bis in den Präsidentenpalast. Seitdem er im November 1987 seinen Vorgänger im „Palast von Karthago“, Habib Bourguiba, den „Vater der tunesischen Unabhängigkeit“, für „medizinisch amtsunfähig“ erklären lieb, residiert er dort ohne Unterbrechung.

Die Machtausübung seines Regimes basiert auf keinerlei offiziell proklamierter „Idee“. Vielmehr fubt sie auf dem nackten Machtanspruch eines Polizeistaats, gekoppelt an Konsumversprechen für die Bevölkerung, die sich jedoch längerfristig als trügerisch erwiesen. „80 Prozent der Bevölkerung gehören zum Mittelstand“, propagierte das Regime in früheren Jahren, und versprach eine Lebensweise wie in Europa – die jedoch für das Gros der Einwohner auf Krediten basierte, die sie nun nicht oder nur unter schwersten Mühen zurückzahlen können. So auch die Familie von Mohamed Bouazizi, die von Schulden und abzuzahlenden Krediten erdrosselte wurde. Nach dem Tod ihres Bruders – der am 04. Januar in einem Krankenhaus in Tunis seinen Verbrennungsverletzungen erlag – wurde nunmehr der Schwester Mohameds ein Job im Staatsdienst versprochen.

Sechs Tage, nachdem der junge Mann sich vor dem Polizeipräsidium angezündet hatte, beging ein weiterer Arbeitsloser in Sidi Bouzid öffentlichen Selbstmord. Der 24jährige Houcine Neji stürzte sich vor den Augen einer Menge, die sich unten versammelte hatte, von einem Hochspannungsmasten herunter in die Stromleitung. Dabei rief er: „Genug vom Elend, genug von der Arbeitslosigkeit!“ Nur teilweise bestätigten Informationen, bei denen es sich zum Teil um Gerüchte handeln kann, sollen in den letzten Wochen rund zehn weitere öffentliche Suizide solcher Art vorgefallen sein. Der letzte bestätigte Fall betrifft einen 50jährigen Erwerbslosen, der sich vorigen Donnerstag in Sidi Bouzid tötete.

Schon wenige Stunden, nachdem Mohamed Bouazizi in Flammen aufgegangen war, versammelte sich zahlreiche Elendsgenossen in Sidi Bouzid auf den Straben und öffentlichen Plätzen. Ihr Protest schwoll schnell an, und in den darauffolgenden beiden Tagen gingen die Niederlassung der Staatspartei RCD (Demokratische Verfassungspartei), Autoreifen und ein Polizeiauto in Flammen auf. Polizisten wurden mit Steinen beworfen. Die sonst übliche bleierne Angst vor den „Sicherheitskräften“ wich der Wut. Die Bewegung breitete sich schnell aus. Am Wochenende des 25. und 26. Dezember erreichte sie die Hauptstadt Tunis, wo erste Demonstrationen stattfanden. Nochmals massiv verbreitet wurde sie in den ersten Januartagen durch das Ende der Schul- und Hochschulferien.

Die Antwort des Regimes in dem gut zehn Millionen Einwohner zählenden, nordafrikanischen Staat fiel dabei sehr „klassisch“ aus: Der Polizeistaat setzt auf die Gewalt der Uniformierten. Nachdem der Einsatz von massiven Polizeikräften aus Sicht der Diktatur nicht mehr genügte, wurden am vergangenen Wochenende in Thala – rund 250 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Tunis – erstmals auch Soldaten der Armee eingesetzt. Die rund 14.000 Einwohner zählende Stadt wurde förmlich umzingelt.

Am vergangenen Sonntag schon sprach die tunesische Opposition von 50 Toten, von denen ein Grobteil in den beiden Nächten zuvor durch Schüsse mit scharfer Munition in Thala und Kasserine gestorben sei. Am Montag fügte sie in ihren Erklärungen fünf weitere Opfer aus Kasserine hinzu und sprach von Scharfschützen, die von den Dächern aus auf Demonstranten und „Randalierer“ zielen. Unterdessen wurde in Kasserine zu einem Streik der Arbeiter in der örtlichen Zellulosefabrik aufgerufen.

Das Regime in Tunis seinerseits spricht in einer offiziellen Bilanz von bislang 21 Toten und rechtfertigt den Schusswaffeneinsatz: Dieser sei angeblich „in Notwehr“ erfolgt, und es seien auch mehrere Polizisten verletzt worden, „drei von ihnen schwer“. Doch die ersten beiden Toten unter den Protestierenden hatte es schon Wochen zuvor gegeben, nachdem die Polizei am 24. Dezember in Menzel Bouzaïene das Feuer eröffnet hatte. Daraufhin starb der 18jährige Mohamed Ammari im Kugelhagel, und der schwerverletzte Chawki Hidri erlag eine Woche später seinen Verletzungen.

Nur spärlich dringen die Informationen aus Tala und anderen Zentren der Protestbewegung, die einer rigiden Nachrichtensperre unterworfen sind und in denen weder tunesische noch ausländische Journalisten ungehindert arbeiten dürfen. Der französischen Abendzeitung Le Monde wurde etwa glatt die Einreise für die Journalistin Isabelle Mandraud – die die Proteste verfolgt - nach Tunesien verweigert. Wesentlich schlimmer noch ergeht es ihren tunesischen Kollegen. Die beiden Presseleute Zouheir Makhlouf und Loez el-Bey wurden am 24. Dezember „live“ während der Aufzeichnung einer Radiosendung durch die Polizei misshandelt.

Gegen die Akteure im Internet: Das Imperium schlägt zurück

Umso wichtiger wurde dadurch die Rolle des Internet. Doch auch dieses ist längst zum Kampfschauplatz geworden. Das Regime versucht darüber hinaus, die Akteure im virtuellen politischen „Cyberware“ auf ganz handgreifliche Weise unter ihre Kontrolle zu bringen. Seit dem vergangenen Donnerstag (o6. Jan.) nehmen die Verhaftungen unter Bloggern – es gibt 900 von ihnen in Tunesien, von denen ein gutes Drittel regelmäbig aktiv ist – massiv zu. So wurden drei Mitglieder des tunesischen Ablegers der „Piratenpartei“ festgenommen: Slim Amamou, Azyz Amami und Sla Eddine Kchouk. Zwei von ihnen wurden am vergangenen Sonntag wieder freigelassen, zusammen mit dem regimekritischen Rapsänger, Hamada Ben-Amor aus der Küstenstadt Sfax, der unter dem Spitznamen „El General“ bekannt ist. Hingegen fehlt bisher jegliche Nachricht von Azyz Amami.

Die Regierung glaubt, durch die Festnahmewelle unter Internetnutzern endlich „Ammar 404“ enthauptet zu haben. So nennt sich sarkastisch die Netzbewegung von Regimekritikern, unter Anspielung auf die Fehlermeldung „Ammar 404“ – oder englisch „error 404“ -, die in Tunesien regelmäbig auf den Bildschirmen aufscheint, sobald man sich auf eine politisch unliebsame Webseite zu klicken versucht. Unterdessen wurde auch bekannt, dass der mit Abstand meistgenutzte Internet-Provider in Tunesien mutmablich die Passwörter von Benutzern „schluckt“. Die ,Agence d’Internet tunisienne’ (AIT) soll auf diese Weise die Zugangs-Codes zu Diensten wie Yahoo, Google und Facebook Aubenstehenden – etwa auch Polizisten oder Nachrichtendienstlern – zugänglich machen. Die Providerfirma AIT gehörte bis im September 2010 einer Tochter von Präsident Ben Ali, Cyrine Mabrouk, die seitdem einen privaten Radiosender in luxuriöser Umgebung leitet. Das tunesische Informationsministerium hat direkten Zugriff auf den Provider.

In einem Land, wo ein Prozent der Bevölkerung – ein Rekordwert – bei den Sicherheitskräften beschäftigt ist, konnte bislang noch jede strukturierte politische Opposition erstickt werden. Die Revolte der letzten Wochen hat dieses Korsett nun gesprengt. Dass Anwälte und andere Berufe sich massiv der Bewegung anschlossen, weil sie glauben, sie erlaube die Durchsetzung grundlegender politischer Freiheiten, ist ein wichtiges Element für die nähere Zukunft.

Übriger Maghreb: Marokko, Tunesien

Die übrigen Maghreb-Staaten haben unterdessen Angst vor einem Übergreifen des Funkens der Revolte. In Marokko wurden vorsorgliche mehrere Solidaritätskundgebungen für die tunesische Jugend, die in Rabat und Casablanca geplant waren, verboten. Hingegen fand in Nouakchott - der Hauptstadt Mauretaniens - eine Solidaritätskundgebung statt.

Unterdessen rief in Algerien die unabhängige Gewerkschaft der Staatsbediensteten – SNAPAP – für Donnerstag zu Solidaritätskundgebungen für Tunesien auf. Diese Initiative wurde jedoch durch die Wucht einer eigenen Rebellion der algerischen Jugend überrollt. Seit dem vergangenen Dienstag brannte es zunächst in einem ärmeren Stadtteil der Hauptstadt Algier – Bab el-Oued -, dann auch in der westalgerischen Metropole Oran und in mehreren Städten im Nordosten des Landes. Am Wochenende waren fünf Todesopfer infolge von Zusammenstöben mit der Polizei zu beklagen, in Msila, Annaba, Boumerdès und Tipaza. 1100 Personen waren infolge von „Randalierens“ und Plünderungen festgenommen worden. Vielerorts wurden Staatssymbole, darunter auch 40 Schulen, angegriffen.

Den auslösenden Funken in Algerien bildete die starke Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel, besonders Speiseöl und Zucker. Diese ist unter anderem auf internationale Preisschwankungen infolge von Spekulationen und auf die starke Importabhängigkeit Algeriens bei fast allen Gütern – mit Ausnahme seiner beiden Devisenbringer Erdöl und Gas – zurückzuführen. Aufgrund der Proteste beschloss die algerische Regierung am Samstag, die Importsteuern und Abgabe auf die betroffenen Grundbedarfsgüter um 41 Prozent zu senken, in der Hoffnung, so zur Senkung der Preise zu führen. Aber die Revolte der Jugend geht längst über den Protest gegen die Preise für diese Nahrungsmittel hinaus.

Editorische Anmerkungen

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